ENERGIE

Berliner Experimente

Die Bundeshauptstadt ist ein Versuchslabor für die Mobilität der Zukunft. Nicht jedes Projekt eignet sich zur Nachahmung. Aber lernen kann man jede Menge.

Text: Daniel Zwick
Illustrationen: Andrea Ucini


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Berliner Experimente

Die Bundeshauptstadt ist ein Versuchslabor für die Mobilität der Zukunft. Nicht jedes Projekt eignet sich zur Nachahmung. Aber lernen kann man jede Menge.

Text: Daniel Zwick
Illustrationen: Andrea Ucini

Ein gelber Signalstreifen auf der Fahrbahn, ein paar Warnbaken in regelmäßigen Abständen – das größte Mobilitäts-Experiment der Stadt Berlin in den vergangenen Jahren ist ein Provisorium: der Pop-up-Radweg. Im Schatten von Corona hatten Senat und Bezirke Fahrspuren von großen Straßen für den Radverkehr abgezweigt. Es folgten politische Grabenkämpfe bis in den Bundestag, Gerichtsprozesse durch mehrere Instanzen. Jetzt wandelt die Stadt die Provisorien in befestigte Wege um.

Der Raum in der Großstadt wird neu aufgeteilt

Die Methode ist typisch Berlin: Die Hauptstadt ist ein Experimentierfeld für Mobilität. Zwar hat sich die Regierung klare Ziele gesetzt und einen Plan beschlossen, der den privaten Autoverkehr weiter reduzieren soll. Doch anders als Metropolen wie London, Paris oder Kopenhagen schafft es Berlin nicht, diesen Plan konsequent umzusetzen. Politiker auf Landes- und Bezirksebene bremsen sich gegenseitig aus, dazu kommt der Mangel an Personal und Ressourcen in der Verwaltung. Ein Missstand, aus dem sich zugleich Freiräume ergeben, in denen Unternehmer, Lokalpolitiker und Wissenschaftler neue Wege ausprobieren.

So wie die Pop-up-Radwege. Auf einigen der betroffenen Straßen haben der Radverkehr stark zu- und der Autoverkehr abgenommen. Doch nicht überall war das der Fall. Ein tödlicher Unfall auf der Ausfallstraße Frankfurter Allee hat das Experiment zudem überschattet. Andreas Knie, Mobilitätsforscher an der TU Berlin und am Wisssenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, hält die Pop-up-Radwege dennoch für vorbildlich. „Sie sind ein gutes Beispiel für die Potenziale, die Berlin hätte“, sagt er. Die Wege seien einer Art „Guerilla-Politik“ in der Pandemie zu verdanken. Reguläre Projekte, wie die Verlängerung der U-Bahn bis zum Hauptstadtflughafen BER, die gerade diskutiert wird, ziehen sich dagegen über Jahre hin.

Innovationen gibt es vor allem dort, wo sich der Staat nicht einmischt. Sharing-Anbieter für Autos, Fahrräder und E-Roller liefern sich einen scharfen Wettbewerb; Uber und Bolt machen dem Taxi Konkurrenz. Eine Forschungsgruppe der TU Berlin arbeitet an autonomen Bussen, die im Testbetrieb durch den Tiergarten fahren sollen. Und für Konzerne gehört es zum guten Ton, in Berlin ein „Innovation Lab“ zu betreiben, gerne für Mobilität. Auch Investoren lieben Berlin. Nach Berechnungen der Investmentbank UBS haben Risikokapitalgeber hier zwischen 2018 und 2021 rund 1,6 Milliarden Dollar in die Zukunftsmobilität investiert. Davon profitieren Start-ups wie Vay, das, von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, an einem Zwischenschritt zum autonomen Fahren arbeitet: Sogenannte Telefahrer lenken die Autos des Unternehmens ferngesteuert durch die Stadt. Daraus soll ein Carsharing-Dienst entstehen, der seine Kunden vor der Haustür abholt und ihnen nach der Fahrt das Parken erspart. Denkbar wäre so ein Dienst auch außerhalb großer Städte.

Selbst die konservative Taxibranche arbeitet an der Transformation. Die Taxi-Innung testet Fahrzeuge mit Batterie und Brennstoffzelle – und macht sich stark für ein chinesisches Batterie-Wechselsystem als Alternative zum Aufladen. Zugleich drängt eine Initiative um den Uber-Generalunternehmer Thomas Mohnke darauf, die Flotten so schnell wie möglich auf emissionsfreie Fahrzeuge umzustellen. All diesen Unternehmen hilft, dass sie in Berlin auf eine experimentierfreudige Kundschaft treffen. Dank der vielen Tech-Unternehmen ist in der Stadt eine junge, international geprägte Szene entstanden, mit Bürgern, die sich per Uber-App oder Miet-Fahrrad fortbewegen und nicht auf die Idee kämen, sich ein eigenes Auto anzuschaffen. Dazu kommt ein großer Anteil an Single-Haushalten und Menschen, die nur kurze Strecken zum Arbeitsplatz zurücklegen müssen. Pendler sind, gemessen an der Einwohnerzahl, eine verschwindend kleine Gruppe.

Innovationen gibt es vor allem dort, wo sich der Staat nicht einmischt.

Abschied vom Automobil

Andreas Knie ist wie die meisten Verkehrsexperten davon überzeugt, dass die Zeit der aufs Automobil ausgelegten Stadt vorbei ist. „Wir haben zu viele Autos“, sagt er. „Das ist das zentrale Problem.“ Die Industrie vermeidet an dieser Stelle die Konfrontation. Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie, spricht vom „Miteinander der unterschiedlichen Verkehrsmittel“. Bei BMW gibt man zu, dass Mobilität in Ballungsräumen künftig nur funktionieren kann, wenn das Auto Platz abgibt. Der politische Druck ließe sich verringern, wenn weniger geparkte Wagen an den Straßen stünden, meint ein Stratege des Konzerns – wenn also Stadtbewohner ihr Auto abschaffen, das sie ohnehin fast nie benutzen. Darauf zielt ein radikales Projekt im Kreuzberger Graefekiez: Für zunächst sechs Monate sollen alle Parkplätze verschwinden. Wer einen Wagen hat, kann ihn in einem nahen Parkhaus abstellen. Ladenbesitzer in dem lebhaften Viertel fürchten, dass die Abstellzonen für ihre Lieferwagen nicht ausreichen werden. Anwohner freuen sich dagegen auf mehr Platz für Kinder, Pflanzen, Cafétische.

Auch wenn Teile der rot-grün-roten Regierung applaudieren, sind solche Radikallösungen auf Landesebene kaum zu erwarten. Gegen die Besitzer von 1,2 Millionen Pkws in der Stadt lässt sich schwer Politik machen. Außerdem liegt das Ziel der Koalition, den motorisierten Individualverkehr noch stärker einzuschränken, näher, als es scheint. Schon von 2008 bis 2018 ist der Anteil des öffentlichen Nahverkehrs einschließlich des Rad- und Fußverkehrs an allen Strecken laut Senat von 67 auf 74 Prozent gestiegen. Bis 2030 sollen es 82 Prozent sein.

Technik könnte dabei helfen, genauer: Digitalisierung. Die kommunalen Berliner Verkehrsbetriebe unterhalten eine App, die ihre Busse und Bahnen mit Carsharing, Leihrädern und -rollern verknüpft. Auch Unternehmen wie FreeNow, eine Tochter von BMW und Mercedes-Benz, arbeiten an so einer Plattform: die ganze Mobilität auf einen Klick. „Die zwei großen Innovationen des Verkehrs in Berlin waren der Einheitsfahrschein 1931 und die Erfindung des Carsharings 1988“, sagt Knie. Es wäre also an der Zeit für einen neuen Entwicklungssprung. Für einen größeren als ein paar Farbstreifen auf der Straße.

Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur bei „Welt“ und „Welt am Sonntag“. Er schreibt vor allem über den Strukturwandel in der Automobilindustrie und über neue Mobilität. In Berlin fährt er fast immer Fahrrad.

Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur bei „Welt“ und „Welt am Sonntag“. Er schreibt vor allem über den Strukturwandel in der Automobilindustrie und über neue Mobilität. In Berlin fährt er fast immer Fahrrad.

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