Karl-Heinz Paqué, Herausgeber und Vorsitzender des Vorstands der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
EDITORIAL
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Karl-Heinz Paqué, Herausgeber und Vorsitzender des Vorstands der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Der russische Überfall auf die Ukraine wirft ein neues Licht auf die Frage: „Was ist der Westen?“ Die weltweiten Machtverhältnisse und Bündnisse werden neu sortiert. Dieser europäische Krieg wirkt sich nicht nur auf die Nachbarländer aus. Für den europäischen Kontinent bedeutet er eine Rosskur: Wird am Ende die EU gestärkt aus dem Krieg gehen können? Werden weitere osteuropäische Staaten angebunden und der Westbalkan über eine Kooperationsvereinbarung an die EU herangeführt? Wie sehen die Integrationsangebote für die Ukraine, Georgien und die Republik Moldau aus?
In Sachen Verteidigung besteht dagegen Einigkeit. EU und NATO modernisieren ihre Streitkräfte; Aufrüstung ist kein Tabu mehr. Der Westen zeigt Stärke und Härte. Indes: Zur Zeitenwende gehört mehr. Sie muss politisch gestaltet werden. So wenig Kriege einfach „ausbrechen“, so enden sie auch nicht wie eine Naturgewalt. Die Idee einer freien Welt, des Westens, muss neu geschrieben werden. Ob USA, EU, Taiwan oder Japan: Die liberalen -Demokratien müssen global zusammenarbeiten. In diesem Sinne ist „der Westen“ keine geografische Kategorie.
Immerhin, der Westen bietet Putin die Stirn. Unter Führung der USA ist eine Einigkeit entstanden, die es in dieser Breite seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gegeben hat. Ökonomische Sanktionen wurden in einem Tempo auf den Weg gebracht, die den Aggressor, sein Regime und dessen Profiteure überraschen. Mittlerweile erscheint selbst die NATO früheren Skeptikern als einziger Garant unserer eigenen Sicherheit.
Der Historiker Thomas Weber etwa spricht über die Notwendigkeit der Kooperation zwischen dem „alten“ Westen und den Demokratien Asiens sowie des globalen Südens. Der Philosoph Wolfram Eilenberger begreift die freie Welt als globales Lebensnetz, das gerade aufgrund seiner inneren Vielfalt von besonderer Widerstandsfähigkeit gekennzeichnet sein wird. Auch wirtschaftlich muss die Verflechtung der Welt durch mehr Freihandelsabkommen über Kontinente hinweg erhalten werden. Das Scheitern der europäisch-amerikanischen Freihandelszone war ein schwerer Fehler, der endlich ausgeräumt gehört: Durch einen neuen Anlauf, aber mit mehr Pragmatismus als in der Vergangenheit. Über alledem schwebt das Damoklesschwert der nächsten amerikanischen Präsidentschaftswahl. Im Gespräch mit dem amerikanischen Geschichtswissenschaftler David R. Goldfield gehen wir der Frage nach, wie sich der europäische Krieg auf die US-amerikanische Innenpolitik auswirkt.
Russland besetzt mittlerweile rund ein Viertel des ukrainischen Territoriums, die Gefahr einer Ausweitung des Krieges ist nach wie vor nicht gebannt. Es braucht neben der kurzfristigen Unterstützung der Ukraine auch eine durchschlagende politische Antwort auf das russische Großmachtstreben. Ein Blick in die Geschichte zeigt das. Ende der Siebzigerjahre saß wie heute ein Sozialdemokrat im Bundeskanzleramt. Helmut Schmidt machte sich als treibende Kraft um den NATO-Doppelbeschluss verdient. Allerdings kostete ihn dies am Ende auch die Kanzlerschaft. Die atomare Modernisierung war die Reaktion auf die massive sowjetische Aufrüstung in jener Zeit. Ein „Game Changer“, der mit zum Ende des Kalten Krieges beigetragen hat. Wird es einen solchen „Game Changer“ auch im Jahr 2022 geben?