OST-WEST-DEBATTE
Wer die Ost-West-Debatten verfolgt, muss sein Erstaunen verbergen – und debattiert lieber mit, um sich nicht mangelnder Sensibilität für aktuelle Probleme anzumahnen. Natürlich sind diese Debatten meist Ost-Ost-Debatten, wobei die Himmelsrichtungen durcheinandergeraten durch die, die aus dem Osten weggezogen oder dorthin umgesiedelt sind.
Text: Lutz Rathenow
OST-WEST-DEBATTE
Wer die Ost-West-Debatten verfolgt, muss sein Erstaunen verbergen – und debattiert lieber mit, um sich nicht mangelnder Sensibilität für aktuelle Probleme anzumahnen. Natürlich sind diese Debatten meist Ost-Ost-Debatten, wobei die Himmelsrichtungen durcheinandergeraten durch die, die aus dem Osten weggezogen oder dorthin umgesiedelt sind.
Text: Lutz Rathenow
Die Unzufriedenheit mit der weltpolitischen Situation braucht ein Ventil? Man:frau reden über etwas Kleineres, Überschaubareres, halt die deutsch-deutschen Befindlichkeiten. Dabei gab es nie nur einen ostdeutschen Blick und schon gar nicht auf den Prozess der deutschen Vereinigung. Neugierlust, Identitätserweiterung auf der einen Seite, auf der anderen Besitzstandswahrung. Die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit erzeugte immer auch Ausweichbewegungen gegenüber der bundesdeutschen Vergangenheit, als käme so schneller eine einvernehmliche Zukunft zustande. Da betrachte ich doch einmal eine Leistung der alten Bundesrepublik. Es gab kürzlich ein wenig beachtetes Jubiläum, der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag. Der erwischte mich in meiner blödesten DDR-Zeit: dem Wehrdienst bei der NVA, eine (für mich) jämmerliche Zeit als Grenzsoldat. Es war die einzige Zeit meines Lebens, in der ich monatelang keine Infos aus dem strikt verbotenen Westradio bekam. Eine Zeit des Zurückgeworfenseins auf eine abgekapselte Ostidentität. Ich hörte oder las etwas von dem Vertrag. Wer hatte hier wen über den Tisch gezogen? Ich verstand ihn nicht wirklich.
Jahre später spürte ich zwei positive Auswirkungen des Grundlagenvertrages und seiner Zusatzdokumente: erstens die klugen trickreichen Formulierungen, die faktisch KEINE Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft bedeuteten. Das war die Basis aller Ausreisewellen und fast jeder Flucht sowie des Gefangenenfreikaufs. Ich wollte ja nie aus der DDR ausreisen und tat es auch nicht. Die zweite Auswirkung merkte ich erst als Ostberliner: die Anwesenheit der Diplomaten in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik. Und vor allem der akkreditierten West-Journalisten mit ihrer Grenzempfehlung, ihre Arbeitsmaterialien über die Berliner Grenze unkontrolliert transportieren zu dürfen. Fast alle Manuskripte und Briefe in den Westen, Belegexemplare und Antwortschreiben aus dem Westen wären sonst so nicht problemlos über die Grenze gewandert.
Politisch noch relevanter war das Entstehen subversiver Ost-West-Netzwerke, die meist über akkreditierte West-Journalisten in Ostberlin und die vielen Westberliner Medienanlaufpunkte die ganze Bundesrepublik oder wenigstens ihre Medien beeinflussten. Die DDR hatte natürlich auch Prestigegewinne durch den Grundlagenvertrag, und ich kritisierte im Westen später Aspekte des deutsch-deutschen Kulturabkommens. Das konnte ich als Ostberliner – dauerüberwacht, aber nicht inhaftiert – nur auf Basis dieser von der DDR nicht eingeplanten Folgewirkungen dieses Vertrages tun. Wurde dadurch der deutschen Einheit der Weg gebahnt? Das wäre überdeutet. Andersherum: Begann die Sowjetunion mit dem Moskauer Vertrag vor dem Grundlagenvertrag mit der Bundesregierung zu merken, dass die (West-)Deutschen nicht von der Rückeroberung verlorener Ostgebiete träumten? Ansonsten waren es schon Menschen in Plauen, Leipzig und anderen Orten, die Anfang Oktober 1989 friedlich demonstrierten, die in den Wochen, Monaten, Jahren darauf den Abzug der Soldaten der SU aus der DDR ohne Gewaltübergriffe verfolgten.
Als ehemalige DDR-Oppositionelle wachen wir zu oft über die politisch korrekte Darstellung der Vergangenheit.
Schwieriger Vergleich der Diktaturen
Lese ich die Texte meines Buches „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten“ heute vor und verfolge die Diskussionen, merke ich, dass schon in diesen Texten eine Art Wettbewerb im Gange ist – ein Mix aus verschiedenen Ostidentitäten. Wir wachen als ehemalige DDR-Oppositionelle zu oft über die politisch korrekte Detaildarstellung der Vergangenheit und hemmen so ihre überzeugende Entfaltung in der Gegenwart. Andererseits wächst mit dem Verschwinden der DDR auch eine Art Neugier auf sie, die sich gerade aus der Kenntnislosigkeit speist und aus einigen interessanten Aspekten, die mit dem Diktatur-Satz nicht vertrieben werden können. Was sagte ein kluger Mensch in Montevideo Mitte der 90er-Jahre auf meine Frage, warum er sich nach Lesungen von Erich Loest und mir nicht zur DDR äußere: „Wir können darüber noch nicht sprechen, der Schmerz ist noch zu groß.“
Diese Reise war sehr interessant und ein Belastungstest für meine DDR-Erlebnisse. Sie schienen in Argentinien und Uruguay im Angesicht der Militärdiktaturen dort zu verblassen. Ich fühlte mich zunehmend schuldig, in einer so harmlosen Diktatur so dissidentenprivilegiert gelebt zu haben. Ein Psychologe, der viel innere Fröhlichkeit ausstrahlte, erklärte mir beim besten Asador Montevideos die Köstlichkeiten der Innereien in aller genussvollen Differenz. Er war ein Opfer der Militärdiktatur, das hatte ich zuvor gehört. Als er auf der Toilette war, ergänzte einer der Übersetzungsbegleiter zu seiner Biografie: zehn Jahre Einzelhaft, Folteropfer, heute bekannter und respektierter Traumaexperte. Wie sollte ich da mithalten? Am vorletzten Abend gab ich einer Journalistin einfach ein Buch mit, in dem wir über unseren Umgang mit den Stasi-Akten berichteten. Es war 1993 erschienen, für mich stand nichts Sensationelles drin. Am nächsten Tag trafen wir uns vormittags zum Kaffee. Sie war aufgeregt, hatte die Nacht kaum geschlafen, das Buch in einem Zug gelesen. „Unglaublich, wie Menschen minutiös planen, Leben zu zerstören, diese Brutalität im Kopf, um die direkte Gewalt scheinbar zu vermeiden.“ Sie schüttelte immer wieder ihren Kopf: „Davon haben wir kaum eine Vorstellung.“
Die Nachwirkungen der Vergangenheit sind unkalkulierbar. Erkenntnisse geschehen oft nebenbei, ungeplant. Die Möglichkeiten für Vergleiche, für das Wirken von Zufällen müssen geschaffen werden. Daran denke ich bei den heutigen Büchern, die mich nicht wirklich überzeugen, aber wichtige Differenzen anzeigen. Was ist eigentlich der böseste Satz zu meiner DDR im neuen Buch? Er betrifft meine Heimatstadt Jena, die mir zu klein und miefig vorkam: „Von mir aus hätte sich damals meine Geburtsstadt in eine Rakete verfrachten und ins Universum schießen können.“ Es ist auch der liebevollste Satz, ich wollte alle und alles mitnehmen.
Lutz Rathenow ist 1952 in Jena geboren und arbeitete im „Arbeitskreis Literatur und Lyrik“ bis zu dessen Verbot 1975 an literaturverbreitenden und dann auch oppositionellen grenzüberschreitenden Netzwerken von Ostberlin aus. Texte aus DDR-Zeiten bis in die Gegenwart finden sich im neuen Buch „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten“ (Kanon). Rathenow war Kolumnist des Magazins „Liberal“. Er erhielt 1998 den Karl-Hermann-Flach-Preis.
Lutz Rathenow ist 1952 in Jena geboren und arbeitete im „Arbeitskreis Literatur und Lyrik“ bis zu dessen Verbot 1975 an literaturverbreitenden und dann auch oppositionellen grenzüberschreitenden Netzwerken von Ostberlin aus. Texte aus DDR-Zeiten bis in die Gegenwart finden sich im neuen Buch „Trotzig lächeln und das Weltall streicheln. Mein Leben in Geschichten“ (Kanon). Rathenow war Kolumnist des Magazins „Liberal“. Er erhielt 1998 den Karl-Hermann-Flach-Preis.
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