Finale
Von Donald Trump ist zwar kaum noch die Rede, doch sein Geist ist weiterhin mächtig: Die Republikaner sind zur Einheits-Partei seiner Ideologie geworden und wappnen sich für die nächste Wahl. Und: Joe Biden hat es versäumt, die finanziell unterprivilegierten Trump-Fans ins Visier seiner Politik zu nehmen. Insofern bleibt die politische Zukunft Amerikas offen.
Text: Hans Ulrich Gumbrecht
Illustration: Getty Images Europe / Pool
Ein täglicher Blick auf die Titelseiten amerikanischer Zeitungen genügt, um wahrzunehmen, dass sich Präsident Joe Biden noch nicht in der Rolle des zentralen Medien-Protagonisten etabliert hat. Natürlich taucht sein Name immer wieder in diversen Zusammenhängen auf, bei der Rückkehr der Vereinigten Staaten zum Weltklima-Abkommen etwa, anlässlich der Ankündigung sozialpolitischer Programme mit erstaunlichen Finanz-Volumina oder auch in Kommentaren zu den vorsichtigen Bemühungen des Weißen Hauses, den Rhythmus der Impf-Kampagne in verschiedenen Bundesstaaten aufrechtzuhalten. Doch der Kontrast zwischen dieser eher freundlich laufenden Berichterstattung und jener Besessenheit, in die sich Blätter wie die „New York Times“ oder die „Washington Post“ mit ihrer Dauer-Konzentration auf Donald Trumps politische Fehler und persönliche Skandale gesteigert hatten, fällt wahrhaft drastisch aus.
Nach der Intensität des herbstlichen Wahlkampfs, der aggressiven Herausforderung demokratischer Grundregeln durch den narzisstischen Verlierer und dem Schrecken des Sturms auf das Kapitol am 6. Januar reagieren amerikanische Bürger aus der College-gebildeten Mittelschicht mehrheitlich erleichtert, ja sogar dankbar auf eine Gegenwart, die sie von angespannter Sorge um die politische Lage entlastet. Sie sind – vorerst zumindest – mit einem Präsidenten zufrieden, der die vielfältigen Aufgaben des Amtes kompetent und ohne den sichtbaren oder gar aufdringlichen Ehrgeiz erledigt, die Nation von sich reden zu machen. Ob dieser Eindruck, den europäische Beobachter zu gelegentlich euphorischem Lob auf Joe Biden überhöhen, auch in anderen Schichten der amerikanischen Gesellschaft vorherrscht und als Beginn einer neuen Einhelligkeit, ja vielleicht sogar Einheit gedeutet werden kann, ist angesichts der Ausdehnung des Landes mit seinen über die vergangenen Jahre verhärteten Kommunikations-Blockaden kaum einzuschätzen.
Während aber die Zurückhaltung des neuen Präsidenten durchaus die erfolgreiche Wahlkampf-Strategie der demokratischen Partei fortsetzt, eher auf Ablehnung von Antagonisten zu setzen als auf breiten Enthusiasmus für den eigenen Kandidaten, registrieren die meisten von uns Amerikanern mit – angenehmer oder enttäuschter – Überraschung die Tatsache, dass seit Januar dieses Jahrs nun auch die Gestalt von Donald Trump auf eine untergeordnete Ebene des Nachrichtenflusses gerückt ist. Abgesehen von eher akademischen Meinungsverschiedenheiten über die Berechtigung seines Ausschlusses von den sozialen Medien, die er einst so effizient nutzte, stößt man kaum mehr auf den Namen und schon gar nicht auf aktuelle Bilder von Joe Bidens Vorgänger. Diese Abwesenheit erleben seine Gegner vorerst eher mit einem bangen Gefühl von Unheimlichkeit als mit vorsichtigem Vertrauen auf einen definitiven Sieg. Ob der Gang der Politik Trump abgelegt hat oder ihm eine triumphale Rückkehr in Aussicht stellt, scheint sich noch nicht ausmachen zu lassen.
Doch was hat die beinahe plötzlich eingetretene Beruhigung – zu der dank Trumps massiven Impfstoff-Käufen auch das einsetzende Ende der Pandemie beiträgt – für die Zukunft der Vereinigten Staaten zu bedeuten? Die möglicherweise überparteiliche Fraktion des Optimismus glaubt an den schönen Begriff einer fortschreitenden „Heilung“ der gespaltenen Gesellschaft – wenn sie sich denn überhaupt die Mühe von Prognosen inmitten des noch anhaltenden Klimas von Entspannung zumuten will. Wer analytische Prägnanz statt Hoffnung braucht, muss die Arbeit der beiden Parteien verfolgen, wo – momentan weit von öffentlicher Resonanz entfernt – entscheidende Weichenstellungen für die Parlamentswahlen in gut eineinhalb Jahren vollzogen werden. Seit der vor wenigen Wochen gelungenen Ausbootung der ideologisch konservativen Fraktionschefin Liz Cheney, die sich Trumps Diskurs von der „gestohlenen Wahl“ widersetzte, hat die republikanische Partei das über Monate drohende Szenario einer Spaltung überwunden. Dies heißt aber auch: Sie hat sich zur Einheits-Partei jener ideologischen Energie gewandelt, die weiter von Trumps Slogan „Make America Great Again“ ausgeht – und deshalb nur noch wenig mit den bürgerlich-kapitalistischen Werten zu tun, wie sie die Präsidenten Bush oder der Außenminister George P. Shultz und die Außenministerin Condoleezza Rice verkörperten. Die traditionelle amerikanische Oberschicht verfügt über keine formale Struktur politischer Repräsentation mehr.
Hingegen unterstützen die Reichen der neuen Technologie- und Wirtschaftsbranchen, zum Beispiel die Multimilliardäre von Silicon Valley, beinahe geschlossen die demokratische Partei. Da Beobachter, die der in Europa vorherrschenden linksgrünen Stimmung angehören, dieses Faktum nun schon seit einem guten Jahrzehnt zu ignorieren versuchen und darüber hinaus Bidens Sozial-Initiativen mit einem Aufschließen zu ethischer Wahrheit verwechseln, gelangen sie nicht zu der Frage, ob die Allianz zwischen den jungen Reichen und der Regierung solide bleiben wird. Dass Bernie Sanders, der seine sozial-demokratische Position hartnäckig (oder naiv) „sozialistisch“ nennt, der innenpolitischen Agenda Bidens seinen weit sichtbaren Segen gegeben hat, mag den Demokraten im Herbst 2022 weitere Stimmen bei Wählern unter Dreißig bringen, muss aber zugleich Skepsis bei von Trump entfremdeten Steuerzahlern der höheren Einkommensklassen wecken. Nicht weil sie Maßnahmen staatlicher Umverteilung prinzipiell ablehnen, sondern weil sie – vielleicht zu Recht – daran zweifeln, dass die so stark dezentralisierten Vereinigten Staaten über jene Institutionen verfügen, welche allein die Umsetzung der ambitionierten Pläne sichern können.
Innerhalb seiner Partei folgt Präsident Biden offenbar der anschwellenden Kritik im Rückblick auf den langsamen Rhythmus der Sozialpolitik von Barack Obama. Mit dieser ungeduldigen Perspektive verliert er allerdings das Drittel der – zum Großteil finanziell unterprivilegierten – Bürger aus den Augen, bei denen Trumps inhaltlich vages Motiv von der zu erneuernden Größe Amerikas stärkere Resonanz fand als die Verteidigung von Grundstrukturen der Demokratie. Darauf zu bestehen, dass Bidens Programm doch gerade die objektiven Interessen solcher Gruppen befördere, unterschätzt die Kraft ihres tiefsitzenden Widerstands gegenüber allen Maßnahmen, die sie als Eingriffe in ihr privates Leben auffassen.
Ob dieses für die Zukunft ausschlaggebende Segment der amerikanischen Bevölkerung einer jetzt auf Trump festgelegten Partei die Treue halten wird, wenn der ehemalige Präsident als Kandidat nicht mehr bereitsteht, vermag in der ruhigen Gegenwart niemand vorauszusagen. Insofern bleibt die politische Zukunft Amerikas offen. Fest steht nach weit mehr als hundert ersten Tagen im Weißen Haus allein, dass es Biden versäumt hat, die ehemaligen Trump-Wähler als Komponente der nationalen Wirklichkeit – und als Problem für die Demokraten – auch nur ins Visier zu nehmen. Zum Status eines großen Präsidenten wird er es deshalb bei aller europäischen Beistimmung langfristig wohl nicht bringen.
Hans Ulrich Gumbrecht
ist Albert-Guérard-Professor in Literature Emeritus an der Stanford University sowie Presidential Professor of Romance Literatures an der Hebrew University in Jerusalem. Seit dem Jahr 2000 ist er (ausschließlich) amerikanischer Staatsbürger.
Foto: Reto Klar