Finale
Im Mai ist der israelisch-palästinensische Konflikt wieder aufgeflammt. Gleichzeitig geht nach zwölf Jahren die Ära Netanjahu zu Ende. Ein Gespräch mit der ehemaligen Knesset-Abgeordneten Ksenia Svetlova über Chancen und Schwierigkeiten der neuen Regierung.
Text: Julius von Freytag-Loringhoven
Fotos: Amir Levy/Getty Images
Frau Svetlova, nach langen Zitterpartien hat der Liberale Yair Lapid eine breite Regierungskoalition von links bis rechts mit acht Parteien zusammengebracht, samt der ersten arabischen Beteiligung. Das bedeutet das Ende der Ära Netanjahu. Glauben Sie, dass diese Regierung erfolgreich sein kann?
Ich glaube nicht, dass es in der Regierung viele Menschen gibt, die erwarten, dass sie eine volle Amtszeit von vier Jahren hält oder auch nur die Hälfte dieser Zeit. Aktuell ist es ein Hauptziel, die Regierungszeit von Benjamin Netanjahu zu beenden. Und dann sicherlich auch ein neues Gesetz zu verabschieden, das verhindert, dass eine Regierung von jemandem gebildet werden kann, der vor Gericht angeklagt ist. Das stützt die Rechtstaatlichkeit.
Welche Chance hat die neue Regierung, auch in anderen Bereichen liberale Politik umzusetzen?
Es gibt so viele Schwierigkeiten, die diese Regierung aufgrund ihrer ideologischen Unterschiede überwinden muss, dass sie einige Probleme gleich am Anfang ausgeklammert hat. Wir können froh sein, wenn sie den Trend der zurückliegenden Jahre stoppt, Gesetze zu verabschieden, die indivi-duelle Freiheitsrechte einschränken.
Lapid, der ja immerhin die stärkste Koalitionspartei führt, soll nach zwei Jahren von Naftali Bennett die Regierungsführung übernehmen. Was kann er bewirken?
Zuerst will er als Außenminister dienen. Netanjahu hatte das Außenministerium lange komplett ausgeschaltet. Lapid wird zuerst versuchen, die Beziehungen mit den Demokraten in den Vereinigten Staaten und mit der Europäischen Union zu reparieren. Auch er hat Europa in der Vergangenheit kritisiert, aber er versteht, dass Israel Europa als Partner braucht, nicht nur als Handelspartner.
Und was für eine Rolle können die kleineren linken Partner wie die Partei Meretz spielen?
Es ist schon eine Revolution, dass Meretz nach zwanzig Jahren überhaupt wieder in einer Regierung ist. Damit kann sich die Partei nun wieder mit vernünftiger Fachpolitik zum Beispiel in Umweltfragen profilieren, nachdem Netanjahu sie jahrelang als Linksradikale dämonisiert hatte. Das kann schon viel zu einer Normalisierung gegen die Polarisierung der vergangenen Jahre beitragen.
Die Koalition hat angekündigt, einen Fokus auf die Erholung der israelischen Wirtschaft nach Corona zu legen. Wird sie ernsthafte Reformen umsetzen können?
Man wird sich zuerst auf Sozialreformen einigen können. Netanjahu hat den Sozialstaat in vielen Bereichen handlungsunfähig gemacht, etwa im Gesundheitsbereich. Corona hat gezeigt, dass es an Ärzten, Krankenschwestern und technischer Ausstattung mangelt.
Womit können solche Sozialreformen finanziert werden?
Es würde reichen, wenn von dem vielen Geld, mit dem die Regierung bisher Siedlungen im Westjordanland unterstützt, etwas zurück in den Sozialstaat flösse. Dann würde das Geld wieder breite Teile der Bevölkerung erreichen anstatt nur einige wenige Religiöse.
Und können Sie sich vorstellen, dass auch Haushaltsmittel investiert werden, um die Spaltung zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung im Land zu heilen?
Die gemäßigt-islamistische Ra’am-Partei hatte klare Bedingungen gestellt: Ein größerer Anteil der Steuern soll auch an die arabische Bevölkerung zurückfließen, die israelische Polizei soll mehr zur Bekämpfung der Kriminalität in arabischen Wohngegenden eingesetzt werden, und es soll Infrastrukturinvestitionen geben, damit die High-Tech-Erfolgsgeschichte Israels auch bis in die arabischen Städte reicht.
Könnte die Regierung wieder einen Prozess der Aussöhnung mit den Palästinensern beginnen, auf dem Weg zu einer Zweistaatenlösung?
Das halte ich noch für unwahrscheinlich. Denn ein zentraler Teil der Regierung, angefangen mit Bennett als Premierminister, unterstützt den Siedlungsbau. Auch fehlt es für einen so aufwendigen Prozess dieser Regierung an Zeit. Aber sie kann einige Fehler der Vorgängerregierung korrigieren und die moderaten Palästinenser wie die Fatah unterstützen. Wenn das nicht geschieht, wächst der Einfluss der Radikalen wie der Hamas nur weiter.
Wie kann die neue Regierung den Einfluss der Hamas schwächen?
Die neue Regierung könnte versuchen, die wirtschaftliche Lage der Palästinenser zu verbessern. Allein die Öffnung für mehr Importe aus Jordanien könnte die Lebensmittelpreise senken und damit die Lebensbedingungen verbessern. Durch Verhandlungen könnte man deren Autonomie stärken und die Ausweitung weiterer Siedlungen im Westjordanland anhalten. Das könnte der Anfang eines neuen politischen Prozesses der Aussöhnung werden.
Kann Israel auch etwas für die Menschen im Gaza-Streifen tun, ohne die Hamas zu stärken?
Das ist schwieriger. Der ganze Gaza-Streifen ist quasi von der Hamas in Geiselhaft genommen worden. Der Alltag der Menschen scheint dort ausweglos.
Was erhoffen Sie sich sonst noch von der neuen Regierung?
Es gab nie eine ideologisch so diverse Regierung in der Geschichte Israels, schon gar nicht mit Beteiligung einer arabischen Partei. Deswegen hoffe ich vor allem, dass sie möglichst lange hält. Israels neue Regierung steht vor einer Mammutaufgabe. Zuerst gilt es, die Rolle der Gerichte nicht weiter zu schwächen, wie es Netanjahu vorhatte. Und für einen liberaleren Kurs mit Blick auf die Religion kann es helfen, dass jetzt ein Reformrabbiner Minister für Diasporaangelegenheiten werden soll. Die israelische Öffentlichkeit ist liberaler, als sie die alte Regierung hat aussehen lassen.
Julius von Freytag-Loringhoven
leitet seit 2020 das Jerusalemer Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
Foto: FNS