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USA: Amerika ist zurück in der Welt

Präsident Joe Biden will die Demokratie im Systemwettbewerb mit den immer selbstbewusster handelnden Autokratien verteidigen. Der Elefant im Raum: China. Europa wird sich neu behaupten müssen.

Text: Constanze Stelzenmüller
Fotos: Getty Images Europe / Pool

Während der ersten fünf Monaten seiner Präsidentschaft hatte Joe Biden Dringenderes zu tun, als sich mit Außenpolitik zu beschäftigen. Die Schocks der Ära Trump und das Entsetzen über die Stürmung des Kapitols am 6. Januar hallen noch nach. Mit knapp 600 000 Toten hat die Pandemie in Amerika fast so viele Menschenleben gekostet wie der Bürgerkrieg von 1861–65; die Wirtschaft und die Infrastruktur des Landes sind schwer angeschlagen. Die Lüge vom „Big Steal“ — dass Biden seinem Vorgänger die Wahl gestohlen habe — findet im konservativen Lager noch immer breite Mehrheiten. Barack Obama hatte einst gesagt, Amerika solle sich lieber um das „nation-building at home“ kümmern (gemeint war: statt langen Militäreinsätzen in der Fremde). Aber heute weiß Biden, und weiß auch seine Mannschaft: Am Wiederaufbau der eigenen Nation gelingt oder scheitert nicht nur diese Präsidentschaft, sondern vielleicht auch die amerikanische Demokratie.

Trotzdem kann ein US-Präsident die Welt nicht ignorieren. China überwacht seine eigene Bevölkerung, misshandelt Minderheiten in Xinjiang, knüppelt demokratische Aktivistinnen und Aktivisten in Hongkong, droht der demokratischen Regierung in Taiwan und versucht Europa zu spalten oder auf Linie zu bringen; dahinter steht eine globale Dominanzstrategie. Russland lässt im Frühjahr 100 000 Soldaten an der ukrainischen Grenze aufmarschieren und drangsaliert die eigene Zivilgesellschaft wie seit Jahrzehnten nicht. Russische Hacker haben im vergangenen Jahr mehrfach die digitale und physische Versorgungsinfrastruktur Amerikas angegriffen. Der israelisch-palästinensische Konflikt flammt wieder auf. Weißrussland kapert eine europäische Linienmaschine, um eines Dissidenten habhaft zu werden. 

Bidens Motto auf seiner ersten Auslandsreise nach Europa im Juni lautete: „America is back.“ Was heißt das konkret? Biden selbst hat es immer wieder erklärt, zuletzt vor Reiseantritt in einem Artikel in der „Washington Post“: Es geht, so schreibt er, um die Verteidigung der Demokratie(n) in einem immer schärfer werdenden Systemwettbewerb mit den immer selbstbewusster handelnden Autokratien der Welt. Allen voran: China.

Mein Brookings-Kollege Thomas Wright hat darauf hingewiesen, dass es in Bidens Team durchaus Meinungsunterschiede zur Frage gibt, wie ideologisch grundiert und wie dringend die chinesische Herausforderung ist: Während das Kernteam Bidens harten Blick teilt, befürchten andere, dass es einen neuen Kalten Krieg heraufbeschwört und die notwendige Zusammenarbeit mit Blick auf globale He­raus­forderungen (Klima, Pandemien) verhindert, wenn man die Lage als Systemkonflikt charakterisiert. Unübersehbar ist indes, dass die Schwergewichte im Stellenplan des Nationalen Sicherheitsrats eindeutig auf die Themen China/Asien und Technologie ausgerichtet sind. Dementsprechend energisch wird derzeit am Ausbau der Allianzen mit asiatischen Demokratien gearbeitet, ebenso wie am informellen Quad-Format (Vereinigte Staaten, Indien, Australien und Japan).

„Die Schwergewichte im Nationalen Sicherheitsrat sind auf China/Asien und Technologie ausgerichtet.“

Flankiert wird der China-Fokus von zwei Themen, die signalisieren, wie sehr die Innenpolitik in die Außenpolitik hineinspielt, sie bestimmt und ihr Grenzen setzt, wie vor allem der einflussreiche 44-jährige Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan immer wieder betont. Das erste Thema, das Konzept einer „foreign policy for the middle class“ – einer Außenpolitik für Amerikas bürgerliche Mittelschicht – hat zwar auf der anderen Seite des Atlantiks zunächst die Befürchtung geweckt, Biden plane den Trump’schen Handelsprotektionismus fortzuschreiben. Die in Europa mit freudiger Überraschung aufgenommene Einigung der G-7-Staaten über eine Mindestbesteuerung für Technologiegiganten zeigt jedoch, dass es immerhin in diesem Thema transatlantische Interessenüberschneidungen gibt. 

Das zweite Thema ist die Beendigung der endlosen Kriege („forever wars“), wie sie in Bidens nationalen Sicherheitsleitlinien („Interim National Security Gui­dance“) festgehalten ist. In Amerika gibt es einen wachsenden, überparteilichen gesellschaftlichen Widerwillen gegen eine militärische Überdehnung, die dem Land 20 Millionen Veteraninnen und Veteranen gebracht hat: daher der Beschluss, Afghanistan zu verlassen. 

Was nicht laut gesagt, aber mitgedacht wird: Es geht hier auch um das Ende einer politischen Überdehnung. Biden und seine Mannschaft betonen zwar bei jeder Gelegenheit die tiefe Verbundenheit und den Willen zur Zusammenarbeit mit Israel und Europa, und sie meinen es ernst. Vor Biden waren Außenminister Blinken und Verteidigungsminister Austin mehrfach auf der anderen Seite des Atlantiks. Mit Russland will Washington, so Biden, immerhin eine „stabile und vorhersehbare“ Beziehung. 

Doch die Freunde in Europa und Israel und die Antagonisten in Russland haben eines gemeinsam: In der strategischen Gedankenwelt der Regierung Biden sind sie von nachgeordneter Bedeutung gegenüber der epochalen Herausforderung aus China. Jeremy Shapiro vom European Council on Foreign Relations weist darauf hin, dass die Entscheidung, das Gasleitungsprojekt Nord Stream 2 doch nicht zu sanktionieren, genau dieser Logik folgt: Deutschlands mögliche Rolle in einer gemeinsamen Front gegenüber China ist Amerika wichtiger als die Solidarität mit Osteuropa gegenüber Russland.

Darin liegt, wie Shapiro bemerkt, eine gewaltige verpasste Chance – für beide Seiten. In einer Auseinandersetzung mit China, die sich wesentlich im Bereich von Handel und Technologie abspielen wird, kann Amerika auf die Stärken der EU nicht verzichten. Den Europäern wiederum gibt diese Tatsache neues Gewicht und neue Gestaltungsmöglichkeiten im Bündnis – aber nur, wenn sie sich behaupten. Die Biden-Regierung im Ausland zu entlasten, heißt auch, sie in ihrem Ringen um die Demokratie zu Hause zu unterstützen. Kann Europa es sich leisten, das nicht zu tun?

Constanze Stelzenmüller

ist Expertin für Außen- und Sicherheitspolitik. Die promovierte Juristin hat den Fritz Stern Chair an der Denkfabrik „Brookings Institution“ inne.

Foto: Brookings

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