Gesellschaft
1971 prägte die FDP innovative Ideen für den Klimaschutz: Sie forderte Auflagen und Standards. Damit sollte die deutsche Wirtschaft weltweit Innovationstreiber für Umwelttechnologien werden. Der Ansatz ist so aktuell wie nie.
Text: Veronika Grimm
Fotos: Tim Robberts/Getty Images, Sachverständigenrat
Umweltprobleme wurden in Deutschland erstmals in den Sechzigerjahren umfangreich politisch thematisiert. Die Zunahme industrieller Emissionen in den Nachkriegsjahren hatte den Zustand der Umwelt merklich verschlechtert. Die Belastungen der Luft, der Gewässer, des Grundwassers und der Böden waren für die Menschen unübersehbar. Gegen Ende der Sechzigerjahre führte die sozialliberale Regierung unter Willy Brandt und Walter Scheel die Umweltpolitik ein und brachte eine Reihe an Programmen und Gesetzen auf den Weg, um Umweltprobleme anzugehen. In diese Phase fallen die 1971 verabschiedeten Freiburger Thesen der FDP, die bis 1977 die inhaltliche Programmatik der Partei prägten und einen bemerkenswerten Abschnitt zur Umweltpolitik enthalten. Die Thesen begreifen Sozialpolitik und Umweltpolitik als Freiheitsmoment und zeugen von einer Sensibilisierung der Politik für viele Fragen, die heute noch (oder wieder) hochaktuell sind. Die hohe Bedeutung von Umweltschutz wird dort unmissverständlich zum Ausdruck gebracht („Umweltschutz hat Vorrang vor Gewinnstreben und persönlichem Nutzen“) und seine Verankerung als Grundrecht in Paragraf 2 des Grundgesetzes gefordert. Eingang in das Grundgesetz fand der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen jedoch erst viel später, im Jahr 1994, als Staatsziel in Paragraf 20a. Spätestens seit dem jüngsten Klimaschutz-Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist deutlich, dass dies kein stumpfes Schwert ist. Die Thesen beschränkten sich aber keinesfalls auf den Vorschlag einer abstrakten Verankerung des Umweltschutzgedankens, sondern forderten Auflagen, Abgaben, die Einhaltung von Standards und plädierten für die Einordnung von Umweltschädigung als Straftatbestand. Sehr klar betonten sie das Verursacherprinzip und stellten fest, dass „der Vorbehalt der wirtschaftlichen Zumutbarkeit keinesfalls auf Kosten der Unversehrtheit von Mensch und Umwelt geltend gemacht werden“ könne.
„Seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist deutlich, dass das Staatsziel Klimaschutz kein stumpfes Schwert ist.“
Diese Sichtweise und das teilweise sehr konsequente Handeln in den Siebzigerjahren war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Lebensgrundlagen in Deutschland sichtbar und ganz unmittelbar bedroht waren. Umweltpolitik war gegenwartsbezogen. Ich selbst, wie die Freiburger Thesen Baujahr 1971, erinnere mich noch an die Belastung der Elbe mit Schwermetallen oder das Waldsterben. Durch den Einsatz von Entschwefelungsanlagen konnte die Schwefeldioxidbelastung der Luft bis zum Ende der Achtzigerjahre um 75 Prozent gesenkt werden und meine Kinder können heute – anders als ich damals – in der Elbe baden.
Als in den Neunzigerjahren die drängenden und spürbaren Belastungen vor der eigenen Haustür weitgehend im Griff schienen und die Themen der Umweltbewegung von der deutschen Einheit und der Globalisierung überlagert wurden, rückte in Deutschland das Narrativ vom Spannungsfeld zwischen Umweltschutz und der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie stark in den Vordergrund. Die internationale Dimension von Umweltpolitik und das Potenzial der Wettbewerbsverzerrung durch unilateralen Umweltschutz hatten die Freiburger Thesen durchaus schon im Blick. Doch anstatt darin eine Hürde zu sehen, vertrat man die Auffassung, die deutsche Umweltpolitik solle Schrittmacher für internationale Entwicklungen sein. Angesichts der stärker lokalen Kosten der damaligen Umweltschäden war dies durchaus plausibel. Aber man versprach sich davon auch einen Einfluss auf das internationale Umweltrecht sowie möglicherweise eine Technologieführerschaft bei Schlüsseltechnologien für den Umweltschutz. Das Thema ist heute mit Blick auf den Klimaschutz aktuell wie nie. Die europäische Union steht im Zuge des „European Green Deal“ vor der Herausforderung, die eigenen ambitionierten Klimaziele – Klimaneutralität bis 2050 – anzusteuern und dabei industriepolitische Chancen zu heben, statt die Wettbewerbsfähigkeit zu schwächen. Der Zusammenhang zwischen Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit ist dabei längst nicht so eindeutig, wie es in den vergangenen Jahrzehnten gerne kolportiert wurde. Als unmittelbarer Kostentreiber können erhöhte Anforderungen im Klimaschutz zwar durchaus die Wettbewerbsposition von Unternehmen beeinträchtigen. Als Innovationstreiber ausgestaltet, kann Klimaschutz aber auch dazu beitragen, dass in Europa früher als andernorts die Technologien für eine klimafreundliche Wirtschaft entwickelt werden und in aller Breite Anwendung finden. Bei der Ausgestaltung von Instrumenten wie der EU-Taxonomie, die Kriterien für die Einordnung von wirtschaftlichen Aktivitäten als nachhaltig etablieren soll, kann es zudem durchaus jenen First-Mover-Vorteil geben, den seinerzeit die Freiburger Thesen unterstellten.
„Die Freiburger Thesen begreifen Sozial- und Umweltpolitik als Freiheitsmoment.“
Die Freiburger Thesen des Jahres 1971 sind eines der populärsten Parteiprogramme in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bis heute gilt „Freiburg“ für die Freien Demokraten als einer ihrer markantesten historischen Erinnerungsorte und als ein programmatischer Höhepunkt in der über 70-jährigen Parteigeschichte.
Mit Blick auf den Klimaschutz im internationalen Gefüge stellt sich heute nicht mehr die Frage, ob Klimaschutz überhaupt betrieben wird. Die Frage ist vielmehr, wie die Maßnahmen zur Umsetzung von Klimaschutz wirksam und fair gestaltet werden und wie sich industriepolitische Chancen realisieren lassen. Hinsichtlich der Maßnahmen hat sich die Perspektive in den vergangenen 50 Jahren durchaus verändert. Die Freiburger Thesen identifizierten „Umweltplanung und Umweltschutz“ als eine Aufgabe des Bundes. Man hatte früh erkannt, dass eine Vielfalt an länderspezifischen Regelungen zu Rechtsunsicherheit führt, ein attraktives wirtschaftliches Umfeld hingegen berechenbare Rahmenbedingungen braucht. Noch heute stehen wir insbesondere beim Klimaschutz vor dieser Herausforderung, die sich aber um die europäische und teilweise die globale Ebene erweitert hat. Die häufige Überlagerung von Regulierung schafft nicht nur Intransparenz, sondern sie erschwert auch die Weiterentwicklung klimapolitischer Instrumente. Heute sehen wir deutlich, dass die Idee einer zentralen Koordination (im Sinne von „Umweltplanung“) angesichts der Komplexität der bevorstehenden Transformation zur Klimaneutralität nicht zielführend ist. Konsequenter Klimaschutz wird die Wirtschaft in allen Sektoren und in aller Welt tiefgreifend verändern und muss dezentral von den Akteuren selbst gestaltet werden können. Ganze Geschäftsfelder werden nicht weiter bestehen. Doch Innovationen werden neue Zukunftsmärkte eröffnen.
Um diese Disruptionen anzustoßen und das volle Innovationspotenzial der Wirtschaft zu heben, braucht es Weichenstellungen in der Klimapolitik, die marktwirtschaftliche Elemente in der ganzen EU oder darüber hinaus als Leitinstrument etablieren – insbesondere den sektorübergreifenden Emissionshandel. Entscheidend wird es sein, diese Instrumente auch wirklich scharfzustellen. Nicht die bloße Existenz eines Emissionshandels, sondern dessen Einsatz zur Durchsetzung der notwendigen Emissions-Reduktionspfade ist entscheidend.
„Die Akteure müssen konsequenten Klimaschutz dezentral selbst gestalten können.“
Neben der Ausrichtung des realwirtschaftlichen Umfelds auf effektiven Klimaschutz ist ein attraktives Finanzierungsökosystem zu schaffen. Private Investitionen müssen die tragende Säule der Transformation sein. Die Bedeutung der Finanzmärkte für die Technologieführerschaft Europas kann heute nicht hoch genug eingeschätzt werden. Ob die europäische Technologiekompetenz zu einer starken Position europäischer Firmen auf den Weltmärkten führt, wird davon abhängen, ob genug (Wagnis-)Kapital verfügbar ist, um diese Innovationen auch in Europa auf große Losgrößen zu heben. Das war in den Siebzigerjahren noch nicht im Fokus.
„Soziale Gerechtigkeit durch Umweltschutz“ war die Triebfeder der politischen Initiativen der Sechzigerjahre. Dies ist auch in den Freiburger Thesen erkennbar, die sich einem Liberalismus nähern, der im Einklang mit Gemeinschaft, Mitmenschlichkeit und Partizipation in der Demokratie steht. Diese Gedanken sind heute wichtiger denn je. Ohne die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, ohne ein Verständnis, dass unterlassenes Handeln der Menschheit unumkehrbar schadet, ohne begründetes Vertrauen auf eine faire Transformation („Just Transition“) wird die Klimakrise nicht zu meistern sein. Es gilt, sozial Benachteiligte sowie kleine und mittelständische Firmen konsequent zu entlasten, sodass sie bereit und in der Lage sind, ihren Teil zur Transformation beizutragen. Es gilt auch, umweltpolitische Entscheidungen rückgängig zu machen, die in ihrer Zeit stimmig waren, heute aber nicht mehr zielführend sind. Allen voran betrifft das die hohe Belastung der Strompreise durch die EEG-Umlage und die Stromsteuer sowie direkte und indirekte Subventionen fossiler Energien. Sie behindern heute die Nutzung von zunehmend klimaneutralem Strom zur Dekarbonisierung aller Sektoren. Die Freiburger Thesen formulierten es so: „Die Leistungskraft unserer Volkswirtschaft wird aber in Zukunft danach beurteilt werden, ob es gelingt, mit marktgerechten Mitteln umweltfreundliche Verfahren und Produkte durchzusetzen.“ Dieser Gedanke ist heute dringlicher denn je, weil Umwelt- und Klimapolitik weniger gegenwartsbezogen als zukunftsorientiert ist. Werden in der notwendigen Transformation die Belange von Teilen einer Gesellschaft oder künftiger Generationen ausgeschlossen, so ist dies mit freiheitlicher Politik nicht vereinbar. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist ein Weckruf, die wegweisenden Gedanken zum Zusammenspiel von Liberalismus, Gemeinschaft und Mitmenschlichkeit wieder ins Zentrum zu rücken.
Veronika Grimm
ist Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftstheorie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie leitet am Energie Campus Nürnberg den Forschungsbereich Energiemarktdesign. Seit 2020 gehört sie dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung („Wirtschaftsweisen“) an.