Gesellschaft
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei spektakuläre Urteile gefällt: Es hat die Klimaneutralität im Grundgesetz verankert und verlangt, die Freiheitsrechte künftiger Generationen zu sichern. Warum Liberale daran gut anknüpfen können.
Text: Max Schulze
Illustration: Explora_2005/Getty Images
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 24. März 2021 schlägt hohe Wellen. Es hat das 2019 in Kraft getretene Klimaschutzgesetz (KSG) teilweise für verfassungswidrig erklärt, gegen das Verfassungsbeschwerden eingegangen waren. Vor allem aber hat es das Gebot der Klimaneutralität in den Verfassungsrang erhoben und mit der Betonung der „intertemporalen Freiheitssicherung“ die Freiheitsrechte künftiger Generationen bei der Bewältigung des Klimawandels gestärkt.
Überraschend haben die für das Gesetz verantwortlichen Koalitionsfraktionen von Union und SPD die Entscheidung aus Karlsruhe nahezu jubelnd aufgenommen und umgehend eine Novellierung des KSG angestoßen. Diese muss gemäß Gerichtsbeschluss spätestens bis zum 31. Dezember 2022 erfolgen. Augenscheinlich war die Erleichterung groß, dass das Gericht der ersten Gewalt eine vermeintlich unpopuläre Entscheidung abnahm. In Zukunft wird es an den Wahlkampfständen und in Bundestagsreden heißen: „Um Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung Klimaneutralität kommen wir nicht herum; sie ist Verfassungsgebot.“ Die Richterinnen und Richter des Ersten Senats haben die 1994 ins Grundgesetz eingefügte Staatszielbestimmung des Umweltschutzes einstimmig aus dem Dornröschenschlaf geweckt: Art. 20a GG verpflichtet den Staat zum Klimaschutz. Dies zielt auch auf die Herstellung von Klimaneutralität, die zur Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen angesichts der Dauerhaftigkeit von Treibhausgasen in der Atmosphäre unumgänglich ist. Als Klimaschutzgebot hat Art. 20a GG eine internationale Dimension, die vom Staat international ausgerichtetes Handeln zum globalen Schutz des Klimas verlangt und ihn verpflichtet, im Rahmen internationaler Abstimmung auf Klimaschutz hinzuwirken. Er kann sich seiner Verantwortung nicht durch den Hinweis auf die Treibhausgasemissionen in anderen Staaten entziehen.
"Die Richterinnen und Richter haben das Staatsziel Umweltschutz aus dem Dornröschenschlaf geweckt"
Zugleich verpflichtete das Gericht den Gesetzgeber zur Fortschreibung der Grenzen für die zulässigen Treibhausgasemissionen über das Jahr 2030 hinaus. Hierzulande werden knapp 2 Prozent der jährlichen globalen Treibhausgase ausgestoßen, obwohl Deutschland nur etwas mehr als ein Prozent der Weltbevölkerung auf sich vereint. Die Bundesrepublik kann den menschengemachten Klimawandel nicht allein aufhalten. Aber sie muss ihren Teil leisten und darauf hinwirken, dass andere Staaten es ihr gleichtun. Für Deutschland als politische Kraft, die sich der internationalen Kooperation, dem Grundgesetz und den dort verbürgten Freiheitsrechten verpflichtet fühlt, ist das ein gutzuheißender Ansatz. Der Art. 20a GG wurde seinerzeit unter der Regierung Kohl/Kinkel ins Grundgesetz aufgenommen.
Im Gesetzgebungsverfahren äußerte sich der rechtspolitische Sprecher der FDP-Fraktion Detlef Kleinert so: „Wir freuen uns über die dringend notwendige Herausstellung des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen, die nun wirklich einer allgemein veränderten Einstellung in unserer Gesellschaft zu dieser Frage entspricht und entsprechen muss.“ Darauf lässt sich aufbauen: Es gibt keine individuelle Freiheit ohne gesellschaftliche Freiheit und keine individuelle Freiheit in einer zerstörten Umwelt. Auch die zweite Weichenstellung lädt zur liberalen Rezeption ein: Das Gericht sah durch das Klimaschutzgesetz zwar keine grundrechtliche Schutzpflicht verletzt. Als verletzt erachtete es aber sehr wohl die neue grundrechtliche Ausprägung der „intertemporalen Freiheitssicherung“. Diese schützt die Freiheitsrechte künftiger Generationen, deren Beeinträchtigung durch das KSG bereits unumkehrbar angelegt war. Zu den Beschwerdeführern gegen das KSG zählten beispielsweise Heranwachsende, die den landwirtschaftlichen Betrieb ihrer Eltern auf einer Nordseeinsel fortführen wollen, dessen Bestand sie durch ansteigende Meeresspiegel gefährdet sehen.
Mit Blick auf die Freiheitsrechte dieser Generation führt das Gericht aus: „Art. 20a GG ist eine justiziable Rechtsnorm, die den politischen Prozess zugunsten ökologischer Belange auch mit Blick auf die künftigen Generationen binden soll.“ Justiziabel ist Art. 20a GG in Verbindung mit den Freiheitsrechten. Dem liegt unter Bezugnahme auf den Weltklimarat und den Sachverständigenrat für Umweltfragen die Erwägung zugrunde, dass die Erderwärmung und die mit ihr verbundenen Gefahren von der Menge an Treibhausgasemissionen abhängt. Um die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen und das Erreichen von Kipppunkten zu vermeiden, kann – nach dem, was wir naturwissenschaftlich derzeit wissen – global nur noch eine bestimmte Menge CO2 netto ausgestoßen werden. Das gilt anteilig auch für Deutschland. Hier knüpft die Herstellung von Klimaneutralität an, die der Gesetzgeber ausweislich des KSG und in Übereinstimmung mit dem Pariser Übereinkommen spätestens 2050 erreichen will. Bisher hatte er die Menge zulässiger Emissionen nur bis ins Jahr 2030 bestimmt, dabei aber bereits den Verbrauch von ca. 6/7 des verbleibenden Budgets vorgesehen. Daran kann der Gesetzgeber verfassungskonform zwar festhalten und darauf hinwirken, dass die Rechnung infolge technologischen Fortschritts aufgeht. Ohne einen solchen Fortschritt wären wir nach 2030, um dem Verfassungsgebot der Klimaneutralität zu entsprechen, gleichwohl zu einer Vollbremsung gezwungen, die nahezu jede Freiheitsbetätigung beträfe. Denn für jeden CO2-Ausstoß, der die erlaubte Budgetmenge überschreitet, wird es ein sanktionsbewehrtes Verbot geben. Das scheint manchen Beobachtern noch nicht klar zu sein.
Eine Vollbremsung will das Gericht vermeiden, indem es den Gesetzgeber auch zur Wahrung künftiger Freiheitschancen verpflichtet. Das verlangt eine rechtzeitige Einleitung des Übergangs zu Klimaneutralität. Dazu ist der Emissionshandel zweifelsohne das tauglichste Instrument. Gelingt es jedoch nicht, für seine Ausweitung auf Ebene der EU politische Mehrheiten zu finden, bedarf es der Offenheit für wirkungsvolle Alternativen. Für die FDP, die 1978 den ersten Bundesumweltminister stellte, gibt es hier gleichermaßen unausweichliche wie reizvolle Aufgaben.
Max Schulze ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesverfassungsgericht und Doktorand an der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wider.