Gesellschaft

Verlorene Generation?

In Deutschland wurde während der Lockdowns viel über die mangelnde Digitalisierung von Schulen geschimpft. Doch wie sieht Onlineunterricht in Schwellenländern aus, in denen weniger als die Hälfte der Menschen überhaupt ein Smartphone besitzt? Welche teils katastrophalen Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Bildung weltweit hatte, zeigen Berichte aus einigen Länderbüros der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

Beiträge von: Mathias Birsens, Julius von Freytag-Loringhoven, Siegfried Herzog, Carsten Klein und Frank Hoffmann, Cecilia Kok, Johanna Rudorf, Raimar Wagner und Cristina Lupu

  • USA

    Gesamtlänge der Schulschließungen: 56 Wochen

    „Für viele Schülerinnen und Schüler ist ein wichtiges Sozialsystem zusammengebrochen“

    In den USA hat die Coronapandemie bestehende Ungleichheiten im Bildungswesen und der amerikanischen Gesellschaft verstärkt. Gerade Kinder aus ärmeren Haushalten sind nun noch weiter abgehängt. Die Mehrheit der Schülerinnen und Schüler war seit Beginn der Pandemie nicht mehr in der Schule. Bundesstaaten und Schulbezirke versuchten zwar viel, um den Fernunterricht zu verbessern und sobald wie möglich wieder in den Schulen zu unterrichten. Doch eine Gesamtstrategie für das Land gibt es nicht, weil das US-Schulsystem extrem fragmentiert ist. Gerade die Kinder von Minderheiten waren wesentlich stärker betroffen, vor allem beim Fern-Lernen. Denn in dieser Gesellschaftsschicht war der Zugang zum Internet, zu Laptops und damit der Kontakt mit den Lehrenden schwieriger. Die meisten Eltern aus diesen Haushalten hatten zudem keine Möglichkeit, ihre Kinder beim E-Learning zu begleiten, da sie nicht von zu Hause aus arbeiten konnten. Für viele dieser Schülerinnen und Schüler ist ein wichtiges Sozialsystem zusammengebrochen: Die Schule bedeutet für den Großteil dieser Kinder Stabilität, die sie zu Hause nicht bekommen – etwa durch Essensprogramme und Nachmittagsbetreuung. Um den Lernausfall aufzuholen, stellt der American Rescue Plan Act mehr als 120 Milliarden Dollar für die Wiedereröffnung von Schulen zur Verfügung. Lokale Schulbezirke sind verpflichtet, 20 Prozent dieser Mittel für Programme auszugeben, die den Lernausfall von Schülerinnen und Schülern während der Pandemie beheben.

    Text: Johanna Rudorf

  • Mexiko

    Gesamtlänge der Schulschließungen: 53 Wochen

    „Eine verlorene Generation in Mexiko“

    Obwohl Mexiko – gemessen an der Wirtschaftsleistung – ähnlich viel in Bildung investiert wie Deutschland, belegte das Land schon vor der Pandemie regelmäßig die letzten Plätze der PISA-Studie. Seit März 2020 sind die Schulen in Mexiko infolge der Coronapandemie geschlossen. Schülerinnen und Schüler privater Schulen mit guter Internetverbindung setzen ihren Unterricht digital fort. Für die meisten Kinder ist das jedoch nicht möglich: Rund 70 Prozent besuchen eine öffentliche Schule und fast die Hälfte (48 Prozent) aller mexikanischen Haushalte haben keinen Internetzugang. Das mexikanische Bildungsministerium versuchte schon im April, mit dem Bildungsprogramm „Aprende en Casa“ gegenzusteuern: Der Fernunterricht soll Bildungsinhalte via Fernsehen, Radio und YouTube vermitteln. Doch zwei Millionen Haushalte in Mexiko verfügen nicht einmal über Elektrizität für Fernsehen oder Radio. Die dramatische Folge: Etwa neun Millionen Schülerinnen und Schüler haben seit Beginn der Pandemie die Schule abgebrochen – überwiegend an öffentlichen Schulen. Am härtesten trifft es Kinder indigener Familien und von Landarbeitern sowie Kinder mit Behinderungen, die auf dem Land in Armut leben und weder einen Computer noch ein Handy besitzen. Der soziale Zusammenhalt ist durch das Schulversagen in Mexiko gefährdet. Es wird erwartet, dass als Folge die Kriminalitätsrate steigt und der Gesundheitszustand sich verschlechtert. Angesichts des Bildungsnotstands während der Pandemie spricht man in Mexiko bereits von einer verlorenen Generation.

    Text: Siegfried Herzog

  • Deutschland

    Gesamtlänge der Schulschließungen: 34 Wochen

    „Kinder und ihre Ausbildung leiden unter dem pandemiebedingten Ausfall“

    In Deutschland wurde während der Lockdowns viel über die mangelnde Digitalisierung von Schulen geschimpft. Doch wie sieht Onlineunterricht in Schwellenländern aus, in denen weniger als die Hälfte der Menschen überhaupt ein Smartphone besitzt? Welche teils katastrophalen Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Bildung weltweit hatte, zeigen Berichte aus einigen Länderbüros der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

    Nach mehr als einem Jahr Unterrichtsausfall, Distanz- oder Wechselunterricht ist klar: Kinder und ihre Ausbildung leiden unter dem pandemiebedingten Ausfall von Präsenzunterricht. Eine Studie der Goethe-Universität Frankfurt kam jüngst sogar zu dem Ergebnis, dass der Wissensstand deutscher Schülerinnen und Schüler durch die Schulschließungen ähnlich gelitten hätte, wie nach den Sommerferien. Die Mehrheit der Lehrerinnen und Lehrer befürchtet, dass durch die Pandemie massive Lernrückstände entstanden seien, die sich so schnell nicht aufzuholen ließen. Obwohl die Lernkurve bei allen Jugendlichen nach unten zeige, seien Kinder aus sozial schwachen Elternhäusern besonders betroffen. Gerade wer die erforderlichen Geräte nicht hat, kann nicht oder nur eingeschränkt am Onlineunterricht teilnehmen. Wer sich selbst nicht strukturieren kann und keine Eltern hat, die beim Lernen zu Hause motivieren und unterstützen, lernt weniger als sonst. Dieser Trend sei weltweit zu beobachten, so das Ergebnis der aktuellen Bildungsstudie der OECD, die auch den PISA-Test durchführt.

    Text: Mathias Birsens

  • Rumänien

    Gesamtlänge der Schulschließungen: 32 Wochen

    „Mit dem Präsenzunterricht gingen auch Mahlzeiten und ein sicherer Ort verloren“

    In Rumänien führte der pandemiebedingte Onlineunterricht zu einer hohen Abbruchquote unter den Schülerinnen und Schülern. Gleichzeitig verschärften sich die bestehenden Ungleichheiten zwischen großstädtischen und kleinen städtischen und ländlichen Schulen weiter. Die Pandemie betraf insbesondere Kinder, die ohnehin bereits benachteiligt waren durch schwächere Schulen, eingeschränkten Zugang zu Büchern und Lehrende, die mangelndes Interesse zeigten. Diese Kinder litten besonders darunter, dass mit dem Präsenzunterricht auch Mahlzeiten und ein sicherer Ort für sie verloren gingen. Die rumänische Polizei erfasste bis November 2020 rund zehn Prozent mehr Fälle häuslicher Gewalt als im Vorjahr. Ein besonderes Problem stellte die mangelnde technische Ausstattung für den Onlineunterricht dar: Laut einer Studie von Save the Children Romania verfügten 28 Prozent der Kinder und 43 Prozent der Lehrenden teilweise oder gar nicht über die nötigen Geräte. Nur die Hälfte der Schülerinnen und Schüler nahm überhaupt am Fernunterricht teil. Im April 2020 kaufte die Regierung zwar 250 000 Tablets für Schulkinder. Diese wurden jedoch erst spät und nach zahlreichen Skandalen verteilt. Jedes zweite Kind konnte mit den Geräten nicht arbeiten, weil die Fähigkeiten oder schlicht Internet und Strom fehlten, berichtete eine Lehrerin. Viele ihrer Kolleginnen und Kollegen waren mit der plötzlichen Umstellung auf digitalen Unterricht völlig überfordert: Sie beschränkten sich darauf, Hausaufgaben per WhatsApp zu verschicken, oder hielten nur ein bis zwei Stunden Unterricht pro Tag ab. Obwohl das Schulwesen in Rumänien zentralisiert ist, weiß heutzutage niemand, welche Inhalte die Lehrerinnen und Lehrer in dieser Zeit vermittelt haben.

    Text: Raimar Wagner und Cristina Lupu

  • Südafrika

    Gesamtlänge der Schulschließungen: 37 Wochen

    „Der Staat bremst Privatschulen aus, um weniger schlecht dazustehen“

    Südafrika gibt – gemessen an seinem Haushalt – zwar mehr Geld für Bildung aus als die meisten Schwellenländer, erzielt aber trotzdem schlechtere Resultate als die ärmsten Länder auf dem afrikanischen Kontinent. Wer es sich irgendwie leisten kann, schickt seine Kinder auf Privatschulen oder halb privatisierte Staatsschulen. Diese schließen mit der allgemeinen Hochschulreife ab, während Jugendliche die staatlichen Schulen oft de facto als Analphabetinnen und Analphabeten verlassen. Diese krasse Kluft hat sich während der Pandemie weiter verbreitert: Während die Privatschülerinnen und -schüler besseren Onlineunterricht genossen als in Deutschland, gingen Kinder in staatlichen Schulen – im besten Fall – mit einem Packen fotokopierter Hausaufgabenblätter nach Hause. Pädagogische Betreuung oder Onlineunterricht fanden dort nicht statt. Die Reaktion des regierenden African National Congress bestand aus Händeringen und dem Versuch, die Gestaltungsmöglichkeiten der Privatschulen zu beschränken, um die staatlichen Schulen weniger schlecht aussehen zu lassen.

    Text: Cecilia Kok

  • Israel

    Gesamtlänge der Schulschließungen: 32 Wochen

    „Bildungsgerechtigkeit für arabische und ultraorthodoxe Israelis bleibt zentral“

    Israel gibt – gemessen an seinem Bruttoinlandsprodukt – zwar überdurchschnittlich viel für Bildung aus. Die Pro-Kopf-Ausgaben liegen allerdings unter dem OECD-Durchschnitt. In dem stark zentralisierten Bildungssystem sind die Schulklassen groß und Lehrkräfte unterdurchschnittlich bezahlt. Schulen in arabischen Siedlungsgebieten sind davon besonders betroffen. Während dort inzwischen ein positiver Trend zu vermerken ist, nimmt der Ausbildungsstand bei Privatschülern ab, obwohl deren Zahl steigt. Die Mehrheit der Privatschulen sind ultraorthodox und lehren in geschlechtlich getrennten Klassen vor allem religiöse Themen. Geistes- und Naturwissenschaften werden vernachlässigt. Obwohl Israel als Hightech-Nation gilt und Heimat von Spitzenuniversitäten ist, fiel die Umstellung auf Onlineunterricht an den Schulen schwer. An den Universitäten hingegen gelang eine überdurchschnittlich gute Betreuung dank guter technologischer und personeller Ausstattung. Auch nach der Pandemie bleibt die Herausforderung, die Bildungschancen für arabische und ultraorthodoxe Israelis zu erhöhen. Hier hat der medizinische Notstand bestehende Ungleichheiten ebenfalls verstärkt: Sie waren überdurchschnittlich vom Unterrichtsausfall betroffen.

    Text: Julius von Freytag-Loringhoven

  • Indien

    Gesamtlänge der Schulschließungen: 56 Wochen

    „Wie so oft, füllt der Privatsektor das staatliche Vakuum“

    In Indien gingen vor dem Ausbruch der Coronapandemie zwar alle 250 Millionen Kinder zur Schule, das Bildungsniveau – gerade in staatlichen Schulen – ist allerdings niedrig: Weniger als die Hälfte der Fünftklässlerinnen und Fünftklässler können Texte aus der zweiten Klasse lesen und verstehen. Deshalb besucht fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler Privatschulen, die mit einem niedrigeren Budget besseren Unterricht anbieten. Das gesamte Schulsystem ist auf eine akademische Ausbildung ausgelegt. Seit März 2020 findet in den anderthalb Millionen Schulen des Landes kein Präsenzunterricht mehr statt. Die Umstellung auf Onlineunterricht verschärfte die bereits bestehende digitale Spaltung des Subkontinents weiter: In Indien besitzen Männer, Städter, Vermögende und Angehörige höherer Kasten etwa doppelt so häufig ein Smartphone wie Frauen, arme Familien auf dem Land und Angehörige niedriger Kasten. Deshalb trifft die Umstellung auf Fern-Unterricht Kinder aus sozial schwachen Familien besonders – sie haben oft keine Möglichkeit, daran teilzunehmen. Die Politik befindet sich immer noch im Krisenmodus und hat bisher wenig zukunftsorientierte Reformvorschläge zur Bewältigung der Pandemiefolgen vorgelegt. Wie so oft in Indien füllt der Privatsektor dieses Vakuum: In indische Start-ups, die digitale Bildungsangebote bereitstellen, wurden 2020 gut 2 Milliarden Dollar investiert – rund vier Mal so viel wie im Vorjahr. Auch hier scheinen private Anbieter die Defizite der staatlichen Schulen zu kompensieren.

    Text: Carsten Klein und Frank Hoffmann

Mehr aus diesem Ressort

// Thema

Ein Angebot der

Liberal

Gesellschaft

Gesellschaft

Wir verarbeiten Ihre Daten und nutzen Cookies.

Wir nutzen technisch notwendige Cookies, um Ihnen die wesentlichen Funktionen unserer Website anbieten zu können. Ihre Daten verarbeiten wir dann nur auf unseren eigenen Systemen. Mehr Information finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen in Ziffer 3. Sie können unsere Website damit nur im technisch notwendigen Umfang nutzen.

Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und unser Angebot für Sie fortlaufend verbessern zu können, nutzen wir funktionale und Marketingcookies. Mehr Information zu den Anbietern und die Funktionsweise finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen in Ziffer 3. Klicken Sie ‚Akzeptieren‘, um einzuwilligen. Diese Einwilligung können Sie jederzeit widerrufen.