Kultur

Zurück auf Los: Nachrichten jenseits der Pandemie

Es heißt, Fußball sei die schönste Nebensache der Welt. Dabei ist dieses einfache Mannschaftsspiel viel mehr: Es verkörpert die Ideale eines wahrhaft freien Kontinents. Und stärkt die europäische Identität – auch über die EU hinaus.

Text: Wolfram Eilenberger
Illustration: Heinrich Holtgreve/OSTKREUZ

Wofür steht die Idee eines modernen, freiheitlichen Europas geteilter Werte und Ideale? Falls kundige Menschen ei­nander diese Frage in, sagen wir, zweitausend Jahren rückblickend stellen sollten, auf welches Dokument, Kunstwerk oder Ereignis würden sie dabei wohl zurückgreifen? Als Dokumente wären gewiss der „Don Quijote“ von Cervantes oder auch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ Kandidaten. Als Musik wäre Beethovens Neunte und als Bauwerk Gaudís Sagrada Familia plausibel. 

Als festiver Ausdruck geteilter kontinentaler Hochstimmung aber wäre gewiss kein Ereignis einleuchtender als eine Fußball-Europameisterschaft, wie sie sich auch diesen Sommer wieder freudvoll ankündigt: Fußball als Paradebeispiel europäischen Freiheitssinns mit universaler Anziehungskraft.

Aufgrund misslichen Funktionärsgebarens, schaler Ergebnisfixierung wie auch lähmender medialer Überpräsenz gerät ja allzu leicht aus dem Bewusstsein, wie tief und wahr dieses Spiel der Spiele die Ideale seines Ursprungskontinentes seit mehr als 150 Jahren veranschaulicht. Da wäre zunächst die Eigenheit des Fußballs, für so gut wie jede Form leiblicher Individualität einen Paradeplatz zu finden: Ob 1,50 oder 2,10 Meter groß, ob robust oder schlank, geschwind oder bedacht, ob intellektuell denkbar einfach oder aber hochkomplex gestrickt, die Exzellenzerwartung des Fußballs steht buchstäblich jedem und mittlerweile auch jeder offen. An Ausrüstung wie Können im Anfang nahezu barrierefrei, bleibt dieses auch in seinen Regeln grotesk einfache Spiel für jede Art der Perfektibilität und Ausdifferenzierung offen. Er erweist sich damit als Paradies menschlicher Individualität.

Als Mannschaftspiel stiftet der Fußball überdies Gruppen und Gemeinschaften, deren Mitgliedern es vor allem darauf ankommt, die Ziele, Talente und Schwächen der anderen mit den jeweils eigenen in ein dynamisches Verhältnis zu bringen. Kein Einzelner – und schiene er oder sie auch noch so göttlich berührt – vermag dieses Spiel ohne oder gar gegen die 21 anderen auf dem Platz zu dominieren. Und doch sind es immer wieder genialische Einzelleistungen, die dem Ereignis Fußball seine wahrhaft großen Wendungen und Schönheitsmomente schenken. 

In Form von Nationalmannschaften wirkt die soziale Offenheit des Spiels auf die Idee der Nation selbst zurück. Auch diese ist ein bleibendes Vermächtnis des modernen Europas. Und zwar eines, das in seiner ursprünglich gedachten nationalistischen Einheitlichkeit von Volk und Staatsgebiet durch die heutigen, tief multikulturell geprägten Nationalteams produktiv gebrochen und in Richtung eines maximal inklusiven Patriotismus verändert wird. Gerade die Austragungsform der UEFA-Europameisterschaft 2021 – die Matches werden in elf Städten ausgetragen, von Glasgow bis Rom, von Bilbao bis nach Baku – betont die pränationale Regionalvielfalt Europas so eindrücklich wie die geopolitisch gegebene Offenheit des Kontinents gen Osten. Europas Grenzen sind weder starr gezogen noch rein geografisch zu bestimmen. 

Kein Einzelner vermag dieses Spiel ohne oder gar gegen die 21 anderen auf dem Platz zu dominieren. 

Europa grenzenlos

Der Fußball signalisiert, dass diese Grenzen gern auch bis Israel oder Aserbaidschan ausstreifen können. Zu dieser Tatsache passt auch, dass es in den 60 Jahren seit der ersten Europameisterschaft Champions aus allen Teilen des Kontinents gab: Die Gewinnermannschaften kamen aus Skandinavien (Dänemark, 1992) und natürlich Südeuropa (mehrfach Spanien, Italien), aus dem Westen (Frankreich), der Mitte (Deutschland, CSSR), dem Osten (Sowjetunion, 1960) sowie der eigentlichen Kulturwiege des Südostens (Griechenland, 2004). Moral: Unter unserer breiten Vielfalt kann wirklich jeder Meister werden.

Die Stadion- und Fankultur des Fußballs mit ihren reichhaltigen Repertoires ironischer Schmähung sowie utopischen Eigenlobs, der auslachenden Herabsetzung Höchster und Mächtigster („Sitzplatzschweine!“) sowie die orgiastische Selbstfeier mutmaßlich deklassierter Volksmassen („Wir sind Schalker, asoziale Schalker …!“) stehen in einer alteuropäischen Entwicklungslinie mit der kulturellen Sonderzeit der römischen Saturnalien sowie der mittelalterlichen Karnevalskultur mit all ihren Narrenkönigen, den Eselskappen und den tagelangen Rauschgelagen. 

Der französische Großstadtflaneur und Dandy Charles Baudelaire brachte zur Mitte des 19. Jahrhunderts die zentralen ästhetischen Erfahrungen des europäischen Metropolenbewusstseins auf die Formel „La modernité est le transitoire, le fugitif, le contingent“ („Modernität ist das Vergehende, das Flüchtige, das Mögliche“). Damit benannte Baudelaire auch die bestimmenden Erfahrungsmodi des zeitgleich entstehenden Fußballspiels als hippem Zeitvertreib der europäischen Großstadtjugend: immer brodelnd und im Fluss, nie wirklich zu fassen und festzustellen, mit dem kugelrund eigensinnigen Ball als ewig unkontrollierbaren Joker der Möglichkeiten. 

„Modernität ist das Vergehende, das Flüchtige, das Mögliche.“
Charles Baudelaire

Fußball ist Avantgarde 

Selbst der postmodernen Ästhetik essenzieller Leere, wesenhafter Absurdität und notwendigen Scheiterns war und bleibt der Fußball einen Schritt voraus. Schließlich ist dieses Spiel, setzt man sich ihm wirklich 90 Minuten am Stück aus, von epischer Leere und Langeweile. Im Grunde wird nichts anderes vorgetragen als das permanente Scheitern 22 hochgeschulter Akteure, eben jene Komplexität zu beherrschen und einzugrenzen, die sie selbst willentlich hervorbringen. Das allermeiste klappt nicht, endet im Abseits oder Aus. Um es mit Samuel Beckett zu sagen: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.“ Fußball ist unser Leben. Umso schöner, wenn sich der Ball dann „wie aus dem Nichts“ doch einmal im Netz verfängt und sich das Glück des Moments als das offenbart, was es wahrhaft ist: ein ereignishaftes Geschenk. 

Gerade die „Geisterspiele“ der Coronazeit bewiesen zudem, dass professionell betriebener und inszenierter Fußball in Wahrheit viel mehr und anderes ist als nur ein Spiegel der Gesellschaft. Er ist vielmehr ein außerordentlich agiles Subsystem, in dem sich kommende gesellschaftliche Entwicklungen anzeigen und testen. Die abgeschotteten „Blasen“ der Teams vermittelten einerseits, unter welch extremen Bedingungen selbst bei Pandemien körperliche Interaktion möglich bleibt. Und die sich dieser Tage vollziehende Rückkehr der Fans in die Stadien verleiht dem sozialen Ende der Pandemie den denkbar stärksten Ausdruck. Wir sind wieder zurück und beieinander, vereint in der Freude an der Offenheit dieses Daseins, die der Fußball wie kein anderes Spiel vermittelt und überträgt. 

England is coming home 

Gerade zu Zeiten der großen Turniere, die mit ihrem Zauber die Aufmerksamkeit der Bewohner eines ganzen Kontinents bannen, werden die Stadien zu Orten gemeinsam gefühlter, mitreißender Realpräsenz. Auf dem ganzen Kontinent spüren und genießen sich die Menschen in diesen Sonderzeiten als differenzierte Einheit der Freien und Brüderlichen. 

Und womöglich vermag dieses Jahr, zum ersten Mal überhaupt, der Favorit England die Turnierkrone zu erringen, sodass sich das Mutterland des Fußballs mit seiner tief europäischen Identität versöhnen kann: England is coming home to Europe! Gewiss, es wäre viel erhofft – aber nicht zu viel für dieses Spiel der wahren Wunder. 

Wolfram Eilenberger

ist Philosoph und Schriftsteller. Er besitzt eine Trainerlizenz des DFB, ist gelegentlich als Fußballexperte im Fernsehen zu Gast, schrieb lange eine Fußballkolumne auf „Zeit Online“ und ist aktives Mitglied der Autoren-Nationalmannschaft Autonama. 2006 erschien sein Buch „Lob des Tores – 40 Flanken in Fußballphilosophie“ (Berliner Taschenbuch-Verlag).

Foto: Michael Heck

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