Kultur
Ein Jahr lang haben die Medien viele wichtige Themen jenseits der Pandemie vernachlässigt. Es ist höchste Zeit, dass sie sich wieder um sie kümmern. Denn die Konzentration auf ein einziges Thema beschädigt langfristig die freie Gesellschaft.
Text: Michael Hirz
Illustration: Ramona Ring
Wo es Verlierer gibt, gibt es in der Regel auch Gewinner. Die Pandemie hat viel Leid erzeugt, viele Opfer gefordert. Aber sie kennt auch Gewinner. So hat sie einem Teil der Medien zu einer späten und unerwarteten Blüte verholfen, die ein oder andere Auflage steigen lassen, manche Einschaltquote oder Klickrate durch die Decke gehen lassen. Ob diese Konjunktur anhält, ist noch ungewiss, aber Skepsis dürfte angebracht sein.
Wo es Gewinner gibt, gibt es in der Regel auch Verlierer. Verlierer sind zum Beispiel alle Themen, die nicht mit Corona zu tun haben. Sie wurden marginalisiert oder fanden schlicht gar nicht statt. Die Welt jenseits von Corona hat in dem Jahr der Pandemie nicht stillgestanden. Während Verlage und Sender ihre Klientel mit Artikeln und Sondersendungen, Interviews und Talkshows zum Virus bedient haben wie Dealer ihre Junkies, sind viele Entwicklungen weitergegangen, viele Ereignisse eingetreten, die perspektivisch unsere ganze Aufmerksamkeit verdient hätten. Chinas Dominanzstreben, das inzwischen auch eine militärische Dimension bekommt, das Grauen des Mordens im Jemen, die weltweit dramatisch steigende Zahl von Klima- und Kriegsflüchtlingen, die sich verschärfende demografische Krise – es ließe sich so viel aufzählen. Aber in die Berichterstattung der meisten Reichweiten-relevanten Medien schafften es diese Themen nicht.
Für den Journalismus wurde die Pandemie damit zu einer Frage der Professionalität, aber auch zu einer Art Charaktertest. Denn der Informationshunger, klar, einer verunsicherten Gesellschaft war groß. Aber er wurde durch eine nicht immer angemessene, nicht immer seriös einordnende Berichterstattung eher geschürt als befriedigt. Gelegentlich konnte der Eindruck entstehen, dass bewusst bediente Ängste des Publikums zu Geld oder Quote gemacht werden sollten. Wie anders wäre zu erklären, dass gelegentlich schrille Positionen aus der Grauzone des Wissenschaftsbetriebs medial verbreitet wurden.
„Der Informationshunger während der Pandemie war groß – und wurde teils eher geschürt als befriedigt.“
Deswegen ist zu hoffen, dass mit den Impferfolgen auch die drängenden Themen unserer Zeit wieder den Weg in die Berichterstattung finden. Wie soll die notwendige Meinungsbildung in einer freien Gesellschaft funktionieren, wenn das Nachrichtenangebot mehr oder weniger monothematisch ist? Die Demokratie braucht eine umfassende Informationsbasis für ihre Bürgerinnen und Bürger, auf deren Grundlage sie über Entwicklungen und Ereignisse entscheiden kann. Wenn Medien es nicht schaffen, auf diesem Feld ihrer Verantwortung gerecht zu werden, haben sie vielleicht auf kurze Sicht einen Nutzen. Aber längerfristig beschädigen sie nicht nur sich selbst und die Glaubwürdigkeit ihres Auftrags. Sie beschädigen die freie Gesellschaft. Für einen kurzfristigen Aufschwung ein zu hoher Preis.