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Das Geheimnis erfolgreicher Digitalisierung

In der Pandemie hat Estland sich als Vorzeigeland bewährt – bereits im April gab es dort einen digitalen Impfausweis. Ein Blick ins Baltikum zeigt: E-Services machen das Leben der Bürgerinnen und Bürger einfacher und krisensicherer. Ihr wichtigster Baustein: die X-Road.

Text: Eva Cheung
Illustration: cyano66/Getty Images/iStockphoto

Wer in Deutschland ein Unternehmen gründen will, muss sich auf einen langwierigen Papierkrieg einstellen. In Estland hingegen funktioniert die Unternehmensgründung innerhalb weniger Minuten online. Auch Wahlen halten die Esten bereits seit 2005 online ab. Was für Deutsche nach einer weit entfernten Utopie klingt, ist in Estland längst Realität: Mehr als 3000 Dienstleistungen können online ausgeführt werden, darunter über 200 staatliche Dienstleistungen.

„Wenn ich zur Apotheke gehe oder zum Arzt, braucht es keine Papiere. Wenn ich zum Augenarzt gehe, kann er beispielsweise mit meiner Einwilligung auf meine Gesundheitsdaten zugreifen. Die Daten meines Sohns sind verfügbar, etwa die bereits erfolgten Impfungen“, erklärt Florian Hartleb. Der gebürtige Passauer lebt seit 2014 in der estnischen Hauptstadt Tallinn und begleitet von dort aus die digitale Transformation in Deutschland. Gemeinsam mit Justus Lenz vom Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit hat der Politikwissenschaftler im Gutachten „X-Road für Deutschland“ analysiert, was Estland bei der Verwaltungsdigitalisierung besser macht. Hartleb gehört zu den 99 Prozent der Menschen in Estland, die eine digitale Patientenakte nutzen. Die Verwaltung erfolgt über das Smartphone. Ärztebuchungen finden digital statt. Sprechstunden werden online abgehalten. Sogar Krankschreibungen sind automatisiert und papierlos.

Tigersprung statt Papiertiger

Im Bildungsbereich setzte man an zum digitalen „Tigersprung“ („tiigrihüpe“), der das Ziel hatte, alle Schulen in Estland mit Internetverbindung und Computern auszustatten. „Estland hat die digitale Schule längst umgesetzt, liegt ja auch bei der Pisa-Studie in Europa vorne“, erzählt Hartleb. „Alle Lehrerinnen und Lehrer sind verpflichtet, Schulmaterialien sofort online zu stellen. Der digitale Ruck gelang hier vor allem durch die enge Kooperation mit Unternehmen – generell der Schlüssel für das Verstehen des estnischen Wegs.“

"Heute erledigen 98 Prozent der Estinnen und Esten ihre Steuererklärung online"
Justus Lenz und Dr. phil. Florian Hartleb

Estland hat die Digitalisierung bereits früh – mit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 – auf die politische Agenda gesetzt. Neben der Einführung eines digitalen Identitätsnachweises mit digitaler Unterschrift war der entscheidende Baustein die X-Road: ein verschlüsseltes Datennetzwerk, über das in Estland alle E-Government-Dienstleistungen abgewickelt werden. Bemerkenswert ist, dass es keine doppelt gespeicherten Datensätze gibt. Diese sind per Gesetz verboten. Im „Once-Only-Prinzip“ werden Daten vom Staat nur einmal abgefragt und gespeichert. Wer dann die X-Road benutzt, stellt sich den gewünschten Datensatz über Anfragen an die jeweiligen Behörden zusammen. Die über die X-Road verknüpften Organisationen tauschen Informationen auf der Basis von Einzelvereinbarungen aus.

Seit 1999 wurden kontinuierlich weitere E-Services entwickelt. Schon 2000 kam das elektronische Steuersystem zur Einführung, das die Steuererhebung effizienter machte. Heute erledigen 98 Prozent der Estinnen und Esten ihre Steuererklärung online. Jetzt kommt der nächste Schritt: Digitale Behördengänge sollen zukünftig automatisiert werden – ohne dass die Bürgerinnen und Bürger selbst aktiv werden müssen. Ob es dafür Akzeptanz geben wird? Laut Hartleb sind digitale Technologien und ihr Einsatz im öffentlichen Sektor in der estnischen Bevölkerung gut akzeptiert. Vier von fünf Estinnen und Esten glauben ganz (53,0 Prozent) oder teilweise (29,9 Prozent), dass die staatlichen Institutionen die privaten Daten schützen.

Was Deutschland von Estland lernen kann

„Was wir hier in Estland digital aufgebaut haben, ist das Ergebnis einer langen Reise“, resümiert Ain Aaviksoo, ehemaliger stellvertretender Generalsekretär für die Entwicklung und Innovation von E-Services im Sozialministerium. „Die Politik hat das Vertrauen in die digitalen Dienste – auch des privaten Sektors – innerhalb der Gesellschaft aufrechterhalten. Grundlage war eine gute Zusammenarbeit zwischen dem privaten und dem öffentlichen Sektor. Wichtig für den Erfolg der Digitalisierung in Estland war Transparenz von Anfang an.“

Noch ganz am Anfang dieser Reise steht hingegen Deutschland. Es gibt zwar Bemühungen wie die Registermodernisierung, die leider verfassungsrechtlich bedenklich ist, oder auch den elektronischen Personalausweis. Doch das reicht nicht: Das Onlinezugangsgesetz für E-Services verpflichtet Bund, Länder und Kommunen, ihre Verwaltungsleistungen bis spätestens Ende 2022 auch digital über Verwaltungsportale anzubieten. Mit einer flächendeckend funktionierenden digitalen Infrastruktur für öffentliche Dienstleistungen wäre Deutschland weitaus besser durch die Coronakrise gekommen, ist Lenz überzeugt: „Die Verwaltungsdigitalisierung kann nur erfolgreich sein, wenn die notwendigen Grundlagen geschaffen sind. Also X-Road, Bürgerkonto und eine eID, die auch in der Praxis genutzt wird.“ Das estnische Modell könne dabei als gutes Beispiel dienen. Laut Digitalisierungsmonitor des Meinungsforschungsinstituts Forsa sind 86 Prozent der Deutschen bereit, künftig Onlinedienstleistungen der Behörden zu nutzen – egal, ob sie damit bereits Erfahrung haben oder nicht. Der Wille, digitale Services zu nutzen, ist also vorhanden. Deutschland muss jetzt die Weichen dafür stellen.

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