Thema
Akademische Berufe haben gesellschaftlich ein hohes Prestige und wir legen viel Fokus auf die Kopfarbeit. Zu viel. Denn die Pandemie hat gezeigt, dass wir viel mehr Jobs brauchen, in denen Hand und Herz zählen. Zeit also, sie gesellschaftlich endlich aufzuwerten.
Text: David Goodhart
Illustration: Emmanuel Polanco
Es wächst eine Generation von Studierten mit den falschen Fähigkeiten und mit enttäuschten Erwartungen heran.
Die Pandemie war in den meisten europäischen Ländern ein gemeinschaftsstiftender Moment, der den Sinn für Solidarität wie auch ein Gefühl der Verbundenheit mit der Nation, der Nachbarschaft und der Familie gestärkt hat. Dass alle den gleichen Pandemiehintergrund in ihrem Leben haben, hat etwas Verbindendes. Es versteht sich von selbst, dass wir nicht alle auf genau dieselbe Weise betroffen sind: reich und arm, schwarz und weiß, alt und jung. Aber es ist ein kollektives Ereignis, das jeden auf die eine oder andere Weise berührt hat und immer noch berührt.
Die Leute verhalten sich altruistischer und pflichtbewusster als erwartet. Nächstenliebe und gute Taten sind aufgeblüht. Denken wir nur an die Hunderttausenden von WhatsApp-Gruppen, die entstanden sind, an die Freiwilligeneinsätze.
Heute kenne ich viele Nachbarinnen und Nachbarn besser als früher, auch ältere Einheimische, die vorher für mich unsichtbar waren. Das Familienleben mag zwar in vielen Fällen bis zum Zerreißen gespannt gewesen sein, aber insgesamt haben doch viel mehr Menschen die Tröstlichkeit und Beruhigung wiederentdeckt, die ihnen ihre Familie bietet. In Großbritannien haben Meinungsumfragen ergeben, dass die Pandemie gut für die Eltern-Kind-Beziehungen war.
Auf nationaler Ebene haben wir in einem enormen (und populären) Akt der kollektiven Solidarität für den Lebensunterhalt von Millionen von Arbeitnehmerinnen und -nehmern gebürgt. Wir haben die Leistung von Arbeiterinnen und Arbeitern mit niedrigem gesellschaftlichen Status anerkannt, die sich als „systemrelevant“ erwiesen haben. Das war überfällig. Viele unserer heutigen Probleme sind in der Zuweisung von zu viel Belohnung und Prestige an nur eine menschliche Begabung zu finden: die akademische, analytische Intelligenz. Natürlich ist diese so wertvoll wie eh und je (unter anderem war sie es für die Suche nach einem Impfstoff für Covid-19). Aber das ist keine Entschuldigung für die gegenwärtige Unwucht. Überall in Europa und Nordamerika wird die soziale Klasse der Hochschulabsolventinnen und -absolventen (Kopf) – Menschen, die im Wesentlichen nicht fähiger sind als solche ohne Hochschulabschluss – immer größer, während wir einen Mangel an Fachkräften sowie Technikerinnen und Technikern haben (Hand) und die offenen Stellen in der Pflege (Herz) nicht mehr besetzen können.
Die Definition eines erfolgreichen Lebens hat sich darauf verengt, einen Abschluss zu erwerben und dann eine kognitiv-professionelle Karriere einzuschlagen. Angesichts der Tatsache, dass viele der besten Jobs nur für Hochschulabsolventinnen und -absolventen zugänglich sind, ist es kein Wunder, dass die Menschen auf dieses Förderband aufspringen. Nun stellt sich aber heraus, noch bevor die künstliche Intelligenz wirklich zuschlägt, dass die Wissensökonomie gar nicht so viele Wissensarbeiterinnen und -arbeiter braucht. Es wächst eine Generation von Studierten mit den falschen Fähigkeiten und mit enttäuschten Erwartungen heran. Freilich gibt es mehrere Wege, wie die Pandemie es der Hand (manuelle/handwerkliche Arbeit) und dem Herzen (Pflege/emotionale Arbeit) ermöglichen sollte, etwas von dem Prestige und der Belohnung zurückzufordern, die sie in den vergangenen Jahrzehnten an den Kopf verloren haben.
In einer teilweisen Umkehrung der Statushierarchie haben sich Menschen, die nicht studiert haben und nicht auf die Manipulation von Informationen spezialisiert sind, in der Krise als die wirklich wichtigen Arbeiterinnen und Arbeiter erwiesen. Die Pflegeökonomie stand im Zentrum. Dies dürfte eine Neubewertung der wirtschaftlichen und politischen Prioritäten nach sich ziehen. So wie konservative Politikerinnen und Politiker ihre Einstellungen zu hohen Staatsschulden revidieren mussten, könnten wir dazu gedrängt werden, unsere Einstellung zur Produktivität und sogar zur wirtschaftlichen Sphäre selbst zu überdenken.
Reiche westliche Gesellschaften geben schon jetzt einen großen Teil des Bruttoinlandsprodukts für Pflege, Gesundheit und soziale Fürsorge aus; dieser Anteil dürfte weiter steigen. Und gewiss müssen wir offener anerkennen, dass das, was wir in vielen Bereichen der Pflegewirtschaft wollen, von der Intensivstation bis zum Altenpflegeheim, eine niedrigere Produktivität ist, nicht eine höhere. Wir wollen weniger Betten pro Pflegekraft, nicht mehr. Das gilt für weite Teile der Herz-Wirtschaft, im Gesundheitswesen und in der Bildung. Und was ist mit der Arbeit, die in den Haushalten geleistet wird, in der Sorge um die Jungen und die Alten? Sollte nicht auch sie mehr Wertschätzung erfahren?
Die Krise justiert das Statusgleichgewicht neu, und sie wird eine ungewöhnliche politische Koalition verstärken – eine Vorliebe für das Lokale, das Nationale und die Familie, zusammen mit einer Vorliebe für höhere Sozialausgaben und bescheidenen Kollektivismus, verbunden mit neuer Aufmerksamkeit für grüne Anliegen. Wie Umfragen zeigen, wünschen sich die Menschen, dass die Pandemie unseren Fokus auf nationale Selbstversorgung, Umwelt und Sozialarbeit verstärkt.
Unsere europäischen Gesellschaften sind in den vergangenen Jahren aus dem Lot geraten. Die Coronakrise wird viele Narben hinterlassen, aber sie kann uns auch einen notwendigen Anstoß dazu geben, dass wir eine bessere Balance zwischen Kopf, Hand und Herz finden.In einer teilweisen Umkehrung der Statushierarchie haben sich Menschen, die nicht studiert haben und nicht auf die Manipulation von Informationen spezialisiert sind, in der Krise als die wirklich wichtigen Arbeiterinnen und Arbeiter erwiesen. Die Pflegeökonomie stand im Zentrum. Dies dürfte eine Neubewertung der wirtschaftlichen und politischen Prioritäten nach sich ziehen. So wie konservative Politikerinnen und Politiker ihre Einstellungen zu hohen Staatsschulden revidieren mussten, könnten wir dazu gedrängt werden, unsere Einstellung zur Produktivität und sogar zur wirtschaftlichen Sphäre selbst zu überdenken.
Die nächste Phase der Globalisierung wird mehr Wert auf das Lokale, auf soziale Stabilität und Fairness legen.
David Goodhart
ist Publizist. Im englischen Think Tank „Policy Exchange“ leitet er seit 2017 die Abteilung „Demography, Immigration & Integration“. Sein Buch „Kopf, Hand, Herz – Das Neue Ringen um Status“ (2021) erscheint bei Penguin.
Foto: David Goodhart