Wirtschaft
Menschen mit Migrationshintergrund gründen jedes fünfte Start-up in Deutschland. Sie sind hoch qualifiziert, risikofreudig, denken groß – und bringen das Land voran. Wie Kağan Sümer, Mitgründer des Berliner Milliarden-Start-ups Gorillas.
Text: Lena Kronenbürger
Illustration: Gorillas, Teresa Rothwangl
Einen Satz sagte sich Kağan Sümer oft, als er nach seinem Masterstudium in Mannheim wieder nach Istanbul zurückkehrte: „Ich werde zurückkommen.“ Mit Deutschland fühlte er sich schon immer verbunden; sein Großvater war einer der ersten Mitarbeiter bei Siemens, als das Münchner Unternehmen nach Istanbul expandierte. Sümer sagt, Deutschland habe ihm Raum gegeben. Hier habe er etwas verspürt, das er „the freedom to think“ nennt, die Freiheit zu denken. Noch während seines Studiums in Mannheim hatte sich der junge Mann deshalb ein Herz gefasst, war ein Jahr lang ausgestiegen und widmete sich der Kunst. Die Freiheit weckte in ihm das Bedürfnis, etwas zu schaffen, das Wert hat.
Zurück in der Türkei arbeitet Sümer als Berater. Doch er schließt mit sich selbst einen Pakt: Eines Tages wird er nach Deutschland zurückkehren und sein eigenes Unternehmen aufbauen. 2018 ist es so weit, er geht nach Berlin. Und ausgerechnet zu Beginn der Coronapandemie gründet er dort gemeinsam mit seinem Kollegen Jörg Kattner „Gorillas“, einen Schnell-Lieferdienst. Wenn man über seine App bestellt, sind beispielsweise Apfelsaft, Tomaten und alle weiteren Lebensmittel innerhalb von zehn Minuten an der Wohnungstür – in Windeseile per Fahrrad vorbeigebracht. Heute gibt es Gorillas schon in knapp 30 Städten, darunter sogar in Amsterdam, London und Paris. Der Hype ist riesig.
Als Gründer mit Migrationshintergrund steht Sümer – Kattner ist inzwischen nicht mehr dabei – mit dem rasanten unternehmerischen Erfolg von Gorillas nicht allein. Jedes fünfte Start-up in Deutschland wurde in jüngster Zeit von Migrantinnen und Migranten der ersten oder zweiten Generation gegründet, wie der aktuelle Report des „Migrant Founders Monitor“ der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und des Bundesverbands Deutscher Start-ups zeigt. Nicht nur für die Gründerszene spielen Menschen mit Migrationshintergrund damit eine wichtige Rolle. Mehr noch: Sie sind eine treibende Kraft wirtschaftlicher Innovation.
„Migrant Founders“ müssen hierzulande zwar oft zunächst sprachliche und ungewohnte bürokratische Hürden überwinden. So sagt Sümer, der sich seinen Traum von Deutschland erfüllt hat, er fühle sich als Migrant eigentlich nur, wenn er an den Verwaltungsaufwand denke, den er bewältigen musste. Gerade im Vorfeld der Gründung sei dieser besonders groß. Außerdem sei es für Menschen mit Migrationshintergrund weniger leicht, Finanzierungsmittel aufzutreiben.
Sümer hat es geschafft: Für die Finanzierung waren Ende vergangenen Jahres 36 Millionen Euro eingesammelt; im März kamen 244 Millionen Euro hinzu. So schnell wie keines zuvor in Europa hat das Start-up eine Firmenbewertung von mehr als einer Milliarde Dollar erhalten und darf somit das Siegel „Unicorn“ tragen.
Gründerinnen und Gründer mit Migrationshintergrund dürfte helfen, dass sie im Vergleich zu einheimischen Start-up-Unternehmerinnen und -Unternehmern neben überdurchschnittlich hohen Qualifikationen meist noch etwas anderes mitbringen: eine besonders hohe Risikobereitschaft und die Gabe, „groß zu denken“. In Berlin und in Nordrhein-Westfalen findet sich der höchste Anteil an Start-up-Gründern mit Migrationshintergrund – in Berlin sind es vor allem Menschen wie Sümer, die selbst den Weg aus dem Ausland nach Deutschland gefunden haben; in Nordrhein-Westfalen wiederum prägen dagegen vor allem in Deutschland geborene Gründerinnen und Gründer mit Migrationshintergrund die Szene. Sie bewahren sich in ihren Unternehmen eine ausgeprägte Internationalität. Englisch ist in 54 Prozent der Start-ups der Migrant Founders erster Generation die Arbeitssprache – der allgemeine Durchschnitt unter den Start-ups liegt bei 30 Prozent. Auch ihre Teams sind internationaler – im Durchschnitt kommt bei ihnen jeder zweite Mitarbeitende aus dem Ausland, bei einheimischen Gründerinnen und Gründern ist es nur jeder vierte.
Wenn der heutige Unternehmer einst bis spät in die Nacht für seine Prüfungen büffelte, kam sein Vater allabendlich vorbei, öffnete die Gardinen und sagte: „Schau, Kağan, überall ist es dunkel, nur dein Licht ist noch an. Mach weiter so.“ Diese Erinnerung mache ihn ein wenig sentimental, sagt Sümer. Sein Ehrgeiz ist tief verankert. Seine Eltern sind beide Ärzte, aber es waren vor allem die Eltern seiner Schulfreunde, die ihn mit ihrem unternehmerischen Geist imponierten. Nach seinem Eindruck standen sie der Welt mit einer Offenheit gegenüber, die ihn inspirierte.
Vielleicht fühlt er sich heute auch deshalb nicht so, als sei er nach Deutschland migriert. Als Unternehmer ist man in Kağan Sümers Augen ohnehin „einfach grenzenlos“.
Lena Kronenbürger
ist freie Journalistin, Interviewerin und Moderatorin. Sie lebt in München