Wirtschaft
Seit dem Jahr 1800 ist der Wohlstand in vielen Ländern rasant gewachsen. So hat sich etwa das Pro-Kopf-Einkommen vielerorts verdreißigfacht. Warum? Weil der Liberalismus ungeheure menschliche Kreativität freisetzte und Innovationen ins Zentrum stellte.
Text: Deirdre Nansen McCloskey
Die Welt wird immer besser, ganz sicher. Und das wird sie auch weiterhin – sofern wir ihren Fortschritt nicht durch Abenteuer zerstören, die einem Geist der Staatsüberhöhung erwachsen. Die Weltbank geht davon aus, dass das reale Pro-Kopf-Einkommen aller Menschen in Zukunft – soweit die Zukunft jemals absehbar ist – um zwei Prozent pro Jahr wachsen wird, wie in den zurückliegenden Jahrzehnten. Das hört sich erst mal nicht nach viel an. Aber der Zinseszins-Effekt ist erstaunlich: Wenn es mit der Steigerung um zwei Prozent pro Jahr und Person noch etwa siebzig Jahre weitergeht, wird es den Menschen materiell viermal besser gehen als heute. Die Nachkommen der Ärmsten der Armen in Ländern wie Bangladesch und Simbabwe werden dabei sogar noch schneller aufholen als mit der Weltdurchschnittsrate von zwei Prozent. Denn diese schließt Länder wie Deutschland und Australien ein, die bereits elektrisches Licht und Autos und einigermaßen rationale Staaten haben. In siebzig Jahren werden die ehemals Elenden über Waschmaschinen und eine höhere Schulbildung verfügen. Schon jetzt leben sie doppelt so lange wie ihre Urgroßeltern.
„In 70 Jahren werden die ehemals Elenden über Waschmaschinen und eine höhere Schulbildung verfügen.“
Anteil der Menschen, die weltweit in extremer Armut leben
Quelle: Freiheit von A–Z
Anzahl der deutschen Studierenden im Ausland
Entwicklung des Privatvermögens in Deutschland
Abgesehen von der Weisheit der Weltbank – woher weiß ich das? Ich weiß es, weil es so geschehen ist, immer wieder, in einer Serie von „Großen Bereicherungen“, wie ich es gern nenne, beginnend in Nordwesteuropa vor zwei Jahrhunderten.
Wie groß waren diese Bereicherungen? Sie bedeuteten einen Multiplikationsfaktor von 30, einen atemberaubenden Satz von 3000 Prozent – vom Jahr 1800 bis zur Gegenwart in Deutschland und Japan, Finnland und Taiwan, Botswana und Uruguay. Das hatte es zu keiner Zeit in der Geschichte auch nur annähernd gegeben. Unsere Vorfahren schlugen sich, gerade so, mit etwa drei Dollar pro Tag und Person in heutigen Preisen durch. Würden Sie gerne in Berlin oder München mit drei Dollar pro Tag leben? Wie der Schauspieler Sydney Greenstreet im Detektivfilm-Klassiker von 1941 „Die Spur des Falken“ sagt: „Das sind Fakten, Sir. Keine Schulbuchgeschichte, nicht Mr. Wells’ Geschichte, aber dennoch Geschichte.“ Kein kompetenter Ökonom oder Wirtschaftshistoriker bestreitet sie.
Die Streitigkeiten beginnen erst, wenn man nach dem Warum fragt. Die anerkannte Lehre der Ökonomie, wie sie zum Beispiel in eben jener Weltbank vorherrschte, lautete lange, dass die Welt durch Investitionen reich geworden sei. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger W. Arthur Lewis drückte das 1954 so aus: „Die zentrale Tatsache der wirtschaftlichen Entwicklung ist die schnelle Kapital-Akkumulation.“ Diese zunächst plausible Erklärung begann freilich schon ein paar Jahre später wissenschaftlich zu zerfallen. Ökonomen erkannten, dass das, was uns tatsächlich reich macht, vielmehr unser Einfallsreichtum ist – nicht das Anhäufen von Ziegelsteinen oder Uni-Abschlüssen. Die eigentliche Ursache für unseren Wohlstand sind Ideen: von der Erfindung der atmosphärischen Dampfmaschine 1712 über die Idee der modernen Universität in Berlin 1810, der Einführung des Frauenwahlrechts um 1918, die Erfindung des Personal Computers 1971 bis zur Idee der CRISPR-Genschere 2012, erdacht von zwei Chemikerinnen, die im Jahr 1800 daheim auf Stoff genäht hätten statt im Labor auf DNA.
Das ist kein bisschen überraschend, wenn man sich nur ein paar Minuten Zeit nimmt, um darüber nachzudenken. Stahlbeton, der auf eine Idee von Joseph Monier 1849 zurückgeht, ist vollkommen nutzlos, wenn er als „schnelle Kapitalakkumulation“ einfach nur dasitzt, ohne vernünftige Ideen für seine Verwendung. Monier benutzte ihn, um große Gartentöpfe für kleine Bäume herzustellen. Gut. Aber 1903 hatte jemand die Idee, daraus den ersten Wolkenkratzer aus Stahlbeton (statt Baustahl) zu bauen, das Ingalls Building in Cincinnati. Offensichtlich war diese Idee eine gute. Schlechte Ideen (davon gibt es viele) bleiben auf der Strecke – es sei denn, der Staat greift ein, um sie zu schützen.
Bruttoeinkommen in Deutschland
Anzahl der weltweit bestehenden Handelsabkommen
Quelle: Freiheit von A–Z
Anteile der Bildungsabschlüsse von Menschen im Alter zwischen 20 und 24 Jahren im jeweiligen Jahr
„Unsere Vorfahren schlugen sich mit drei Dollar pro Tag durch – in heutigen Preisen.“
Es dauert lange, bis diese offensichtliche Tatsache durchdringt. Von der „Wachstumstheorie“ begeisterte Ökonomen spielen weiter mit der Mathematik herum und übersehen, dass es um die Freisetzung menschlicher Kreativität geht. Viele andere Menschen, von schwedischen Schulmädchen beraten, sehen das Ende nahen, weil sie den Zinseszins nicht verstehen und dem menschlichen Erfindungsreichtum misstrauen. Andere, zum Beispiel wieder die Weltbank, halten die Herstellungsanleitung „Institutionen beigeben und gut umrühren“ für einen guten Ersatz für ihr früheres Rezept „Investitionen beigeben und gut umrühren“. Wieder andere meinen, historischen Gegenbeweisen zum Trotz, staatliche Lenkung sei die Wurzel des Wohlstands.
Die richtige Frage ist eine andere: Warum fingen die Menschen um 1800 plötzlich an, Ideen zu haben, die sich miteinander verbanden und sich massiv vermehrten? Die Antwort: Der Grund ist der Liberalismus. Er setzte Kreativität frei. Seine wirtschaftliche Konsequenz war nicht das, was wir irreführend „Kapitalismus“ nennen, woraufhin wir wieder endlos an Investitionen denken. Nein, es war ein „Innovismus“: ein System, in dem innovative Ideen im Zentrum stehen. Wollen Sie, dass es den Armen so gut geht wie Ihnen? Wollen Sie, dass die Welt das größte Zeitalter der Kreativität in Musik, Wissenschaft und Literatur aller Zeiten erlebt.
Wollen Sie, dass gewöhnliche Menschen ein außergewöhnliches Leben führen? Dann bevorzugen Sie den Liberalismus, der die Menschen wie Erwachsene behandelt. Fügen Sie dem Etatismus, der die Menschen wie Kinder behandelt, keine weitere Macht hinzu. Dem Staat alles zu überlassen, ist extrem gefährlich. Der Liberalismus indes bietet uns eine Chance, das zu vermeiden, was wir in Xi Jinpings China ablaufen sehen. Der Parteimann O‘Brien in George Orwells Roman „1984“ sagt: „Wenn Sie ein Bild von der Zukunft wollen, stellen Sie sich einen Stiefel vor, der auf ein Gesicht tritt – unaufhörlich.“ Bloß nicht.
Deirdre Nansen McCloskey
ist emeritierte Professorin für Wirtschaftswissenschaften und Geschichte, Englisch und Kommunikationswissenschaften an der University of Illinois in Chicago. Ihr Buch trägt den Titel „Why Liberalism Works – How True Liberal Values Produce a Freer, More Equal, Prosperous World for All“ (2019).
Fotos: Foto: PM Images/Getty Images, Karen Horn