UNGARN
Der ungarische Premierminister Viktor Orbán erpresst ungeniert die EU. Dass er Russland gegenüber nicht klar Position bezieht, hat System: Er will sich etablieren als ein von der westlichen Gemeinschaft unabhängiger Akteur.
TEXT: ISTVÁN HEGEDŰS
UNGARN
Der ungarische Premierminister Viktor Orbán erpresst ungeniert die EU. Dass er Russland gegenüber nicht klar Position bezieht, hat System: Er will sich etablieren als ein von der westlichen Gemeinschaft unabhängiger Akteur.
TEXT: ISTVÁN HEGEDŰS
Ungarn verabschiedet sich gerade von der liberalen Demokratie. Am 3. April haben Premierminister Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei die Parlamentswahlen zum vierten Mal in Folge mit einer Zweidrittelmehrheit gewonnen. Für Orbán ist es das fünfte Regierungsmandat seit dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Regimewechsel, bei dem er als junger, damals noch liberaler Politiker eine wichtige Rolle spielte. Es ist das siebzehnte Amtsjahr eines Regierungschefs, der im Laufe seiner politischen Karriere vom Liberalismus zunächst zum Konservatismus und dann zum autoritären Populismus gewechselt ist. Unterdessen erobert der Orbánismus immer weitere Teile der politischen, wirtschaftlichen und kulturell-geistigen Sphären Ungarns, und der rechtspopulistische Premierminister unterminiert stetig die liberale Demokratie seines Landes, immerhin eines Mitgliedstaates der Europäischen Union.
Der Erfolg von Orbáns Rechtspopulismus beruht letztlich auf unlauteren Mitteln: Das etablierte illiberale, populistische Regime verzerrt die Wahlergebnisse. „Freie, aber nicht faire Wahlen“ hätten stattgefunden, formulieren internationale Institutionen und Beobachter treffend. Zudem hat auch das internationale Umfeld das Wahlergebnis stark beeinflusst. Im Nachgang zur russischen Invasion in der Ukraine entfaltete Orbáns Wahlkampfrhetorik der ungarischen Neutralität besonders starke Wirkung in der Öffentlichkeit, obwohl –
oder vielmehr gerade weil – die enge Beziehung des Ministerpräsidenten zum russischen Präsidenten Wladimir Putin bekannt ist. Zu dieser Positionierung vieler Bürgerinnen und Bürger haben die Konflikte der ungarischen Regierung mit den europäischen Institutionen in den vergangenen zwölf Jahren, die Trennung des Fidesz von der Europäischen Volkspartei sowie die auf dem Souveränitätsargument basierenden medialen Angriffe gegen die „Brüsseler Bürokraten“ beigetragen.
Das etablierte illiberale, populistische Regime verzerrt die Wahlergebnisse.
Das etablierte illiberale, populistische Regime verzerrt die Wahlergebnisse.
Ambivalenz und Machterhalt
Sämtliche politischen und wirtschaftlichen Schritte Orbáns gegenüber Russland sind Ausdruck seines Strebens, sich auf der Weltbühne als wichtiger Akteur zu etablieren, der sich unabhängig von der westlichen Gemeinschaft verhält, zu der sein Land zählt. Mit diesem Tanz der Uneindeutigkeit war auch nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine nicht wirklich Schluss. Nur widerwillig hat sich Orbán den neuen Sanktionen der Europäischen Union gegen Russland angeschlossen; das von der Gemeinschaft angestrebte umfassende europäische Ölembargo, das Putin die Finanzierung seiner Kriegsmaschinerie wesentlich erschweren soll, hat er im Mai unter Verweis auf die historisch bedingte starke Abhängigkeit seines Landes vom russischen Öl vereitelt.
Orbán stellt sich auf den Standpunkt, dass das ungarische Volk auf keinen Fall „den Preis“ für den Krieg in der Ukraine zahlen dürfe, und betrachtet es als wichtigste Aufgabe seiner Regierung, für Energiesicherheit zu sorgen. Ungeniert nutzt er seine Vetomacht und erpresst alle anderen europäischen Mitgliedstaaten, indem er seine Zustimmung zu Sanktionen von riesigen Finanztransfers aus dem EU-Haushalt abhängig macht, die ihm den Aufbau eines neuen Energiemix ermöglichen sollen. Er hat erreicht, dass deshalb gemäß der am 30. Mai erzielten Vereinbarung der 27 europäischen Staats- und Regierungschefs nunmehr lediglich Lieferungen per Tankschiff verboten werden, und dies auch nur nach Übergangsfristen von sechs Monaten für Rohöl und von acht Monaten für raffinierte Produkte wie Diesel und Benzin. Dagegen soll aus der russischen „Druschba“-Pipeline vorerst weiter Öl unter anderem nach Ungarn fließen. Außerdem hat die EU zugesagt, dass sie „bei einer plötzlichen Unterbrechung der Versorgung Notfallmaßnahmen einführen“ werde.
Nach den Wahlen hatte Orbán in Ungarn eine stark zentralisierte Regierung gebildet.
Nach den Wahlen hatte Orbán in Ungarn eine stark zentralisierte Regierung gebildet.
Teure Wahlgeschenke
Nach den Wahlen im April hatte Orbán eine stark zentralisierte neue Regierung gebildet und mit Maßnahmen begonnen, die das Land weiter verändern werden. Ganz oben auf der Liste steht eine Änderung des ungarischen Grundgesetzes. Abermals ist ein Notstand ausgerufen worden, wobei nun der Vorwand des „Krieges in einem Nachbarland“ den bisherigen Pandemie-Vorwand ersetzt. Da der öffentliche Haushalt unter der sehr freigebigen Ausgabenpolitik während des Wahlkampfs gelitten hat, wurden neue Steuern auf die – wie es in marxistischer Ausdrucksweise heißt – „Extra-Gewinne“ einiger Großindus-trien eingeführt. Eine weitere populistische Maßnahme ist die Preisobergrenze für Benzin, die in Kraft bleibt, aber nur für Autos mit ungarischem Kennzeichen gilt – was gegen die Regeln des europäischen Binnenmarkts verstößt.
Für die Europäische Kommission wäre das ein weiterer Anlass zum Eingreifen. Es wäre nicht die erste Konfrontation mit Ungarn nach den Wahlen: Im Rahmen des neuen Rechtsstaatsmechanismus zum Schutz der finanziellen Interessen der EU hat die Europäische Kommission ihre Kompetenz bereits genutzt und von Ungarn in einem Brief mehr Transparenz und strenge Verfahren zur Korruptionsbekämpfung gefordert. Als Konsequenz bleibt Ungarn sein Anteil an Mitteln aus dem europäischen Aufbau- und Resilienzinstrument bisher vorenthalten, die das Land zur Unterstützung des ökonomischen Aufschwungs nach der Coronakrise dringend benötigt.
István Hegedűs, promovierter Soziologe, ist Leiter der Hungarian Europe Society (HES) mit Sitz in Budapest. Er wurde 1990 als Mitglied der Partei Fidesz Abgeordneter im ersten frei gewählten Parlament Ungarns und war bis 1993 stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. 1994 trat er aus der Partei aus.
István Hegedűs, promovierter Soziologe, ist Leiter der Hungarian Europe Society (HES) mit Sitz in Budapest. Er wurde 1990 als Mitglied der Partei Fidesz Abgeordneter im ersten frei gewählten Parlament Ungarns und war bis 1993 stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten. 1994 trat er aus der Partei aus.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann, FDP, hat als Vorsitzende des Verteidigungsausschusses offensiv das Zögern der eigenen Koalition bei Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert. Hier fordert sie auch klare Worte in Richtung Teheran und Peking.
Die weltwirtschaftliche Integration steckt in einer Krise. Da muss sie raus – verändert und verbessert. Den Weg dahin kann der marktwirtschaftliche Westen ebnen, auch durch wertebasierte Geopolitik.
Frauen haben zunehmend das Sagen bei den Midterm elections, glaubt David R. Goldfield. Ein Grund dafür, warum die Demokraten hoffen dürfen. Der Historiker wagt einen Ausblick auf die anstehenden Wahlen in den USA.