ARKTIS

Spannungen im hohen Norden

Die Auswirkungen von Russlands aggressivem Krieg in der Ukraine schwappen immer stärker in die Arktis über. Die seit fast sieben Jahrzehnten etablierte Logik einer friedlichen Zusammenarbeit im hohen Norden geht allmählich zu Ende. Neue klimatische Bedingungen, ein verändertes Sicherheitsumfeld und ein verstärkter wirtschaftlicher Wettbewerb schaffen neue geopolitische Konstellationen in der arktischen Region.

Text: Ekaterina Venkina

ARKTIS

Spannungen im hohen Norden

Die Auswirkungen von Russlands aggressivem Krieg in der Ukraine schwappen immer stärker in die Arktis über. Die fast seit sieben Jahrzehnten etablierte Logik einer friedlichen Zusammenarbeit im hohen Norden geht allmählich zu Ende. Neue klimatische Bedingungen, ein verändertes Sicherheitsumfeld und ein verstärkter wirtschaftlicher Wettbewerb schaffen neue geopolitische Konstellationen in der arktischen Region.

Text: Wladislaw Inosemzew

Die Temperaturen in der arktischen Region steigen. Studien zeigen, dass sich die Arktis seit 1979 fast viermal so schnell erwärmt als der Rest der Erde. Dadurch sinkt die sommerliche Ausdehnung des Meereseises in der Region um 12,6 Prozent pro Jahrzehnt. Und das hat viele Auswirkungen. Die neuen klimatischen Bedingungen erhöhen die Schiffbarkeit der arktischen Nördlichen Seeroute und der Nordwestpassage. Diese nun zugänglicheren alternativen Seewege vom Nordatlantik nach Asien können den wirtschaftlichen Wettbewerb auf den weltweiten Seehandelsrouten verschärfen.

Die Arktis, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Ort einer weitgehend friedlichen Zusammenarbeit war, wird allmählich zum Schauplatz wachsender politischer Spannungen. Auch militärstrategisch wirkt sich die Erwärmung aus. Normalerweise erzeugt die sich ständig bewegende Eiskappe im Arktischen Ozean Umgebungsgeräusche, die die Sonarimpulse von U-Booten verdecken. Mit der allmählich schmelzenden Eiskappe jedoch ändern sich die Einsatzbedingungen für U-Boote, erläutert Niklas Granholm vom Schwedischen Forschungsinstitut der Verteidugung (FOI). „Dies könnte Auswirkungen auf die nukleare Stabilität im Hinblick auf die Fähigkeit zum nuklearen Zweitschlag haben.“ Seit Anfang des Jahres zeigen die Anrainerstaaten militärisch stärker Flagge. So führte die NATO im März und April 2022 in der Arktis ihre größte Übung seit 30 Jahren durch. Schweden und Finnland, die auf dem Weg zum NATO-Beitritt sind, führen regelmäßig gemeinsame Übungen durch, wie das Manöver Vigilant Knife in Finnisch-Lappland im August. Und im vergangenen September erprobte Russland bei der Militärübung Umka-2022 sein Küstenschutzraketensystem, um Ziele in der Tschuktschensee, einem östlichen Teil des Arktischen Ozeans zu treffen.

In der westlichen Arktis ist der Kern der russischen Militärkapazitäten auf der Halbinsel Kola konzentriert. „Von dort aus bildet sich ein russisches Interessensgebiet um eine nukleare Bastion, Russlands Element der nuklearen Abschreckung“, sagt FOI-Experte Granholm und fügt hinzu, dass es sich um strategische Kapazitäten handelt. Dieses Gebiet erstreckt sich auf das finnische und schwedische Lappland, Nordnorwegen, die Barentssee und die Svalbard-Inseln.

Engere Militärkooperation der Nordstaaten

Deshalb werden künftig die westlichen Anrainerstaaten enger militärisch miteinander kooperieren. Finnland hat begonnen, die Auswirkungen der russischen Aggression auf die internationale Zusammenarbeit in der Arktis zu analysieren und die Arktis-Strategie neu zu bewerten. Ein von der finnischen Premierministerin Sanna Marin in Auftrag gegebener Bericht wurde im Oktober veröffentlicht: „Die in der finnischen Arktis-Strategie enthaltenen Darstellungen in Bezug auf das internationale Umfeld und die arktischen Kooperationsstrukturen sind größtenteils nicht mehr relevant“, heißt es darin.

Schweden aktualisierte im September 2020 seine Arktis-Strategie, erneut wurde der Schwerpunkt auf die Polarforschung und die Umweltüberwachung gelegt. Im Hinblick auf die nationale Sicherheit misst Schweden der arktischen Region die gleiche strategische Bedeutung bei wie dem Ostseeraum. Fachleute gehen davon, dass sich an dieser strategischen Einschätzung durch den Ukraine-Krieg nichts ändern wird. „Was sich allerdings ändern könnte, ist die operative Ebene, also wie die Ziele dieser Strategie umgesetzt werden sollen“, so die Einschätzung von Niklas Granholm.

Stärkung der NATO

ls Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hatten Schweden und Finnland Mitte Mai einen Antrag auf NATO-Mitgliedschaft gestellt. Schweden hofft, dass der Aufnahmeprozess im ersten Quartal 2023 abgeschlossen sein wird. Jedoch gibt es bei den Verhandlungen mit der Türkei über die NATO-Erweiterung immer wieder Höhen und Tiefen – mangels klarer Linie im NATO-Mitgliedsstaat Türkei. Mit dem Beitritt Stockholms und Helsinkis zur NATO wird eine stärkere Zusammenarbeit zwischen den Luftwaffen Schwedens, Norwegens und Finnlands erwartet, sagt Granholm. Dazu könnten Einsätze von Kampfflugzeugen und der luftgestützten Frühwarnsysteme beider Länder gehören. Die NATO könnte sogar ein neues „nordisches Luftoperationszentrum“ in der Region einrichten. Dabei würden Radar- und Sensordaten von Militärflugzeugen der drei Länder gemeinsam ausgewertet. „Auch der Umfang der verbündeten Marineoperationen in der Nordsee und im Nordatlantik würde erweitert“, so Granholm.

Angesichts dieser vielen Verflechtungen kommt es darauf an, dass die Arktis nicht zu einer Konfliktzone wird. Eine engere militärische Zusammenarbeit zwischen den nordischen Ländern und anderen gleichgesinnten Staaten muss daher durch deeskalierende Elemente begleitet werden. „Was den nördlichen Seeweg betrifft, so wird die NATO keine Schiffe dorthin schicken“, sagt Stefan Lundqvist von der schwedischen Verteidigungsuniversität. „Niemand wird Russland auf diese Weise provozieren.“ 

Die Zukunft des Arktischen Rates

Neben der militärischen Entwicklung verändert sich auch die politische Zusammenarbeit in der Arktis. Das wichtigste Gremium dafür war bis vor kurzem der Arktische Rat. Acht Staaten – Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, die Russische Föderation, Schweden und die USA – gehören dem Gremium an, das 1996 ins Leben gerufen wurde. Mit Beginn des Ukraine-Krieges haben alle Mitgliedsstaaten außer Russland den Rat boykottiert. Viele Projekte in den Arbeitsgruppen laufen nun unter anderen Bedingungen weiter. Fraglich ist, ob es möglich ist, Russland aus dem Arktischen Rat auszuschließen. Laut dem einflussreichen kanadischen Diplomaten Bernard Funston müsse in diesem Fall „komplett neu verhandelt“ werden. 

Dabei ist fraglich, ob es im Interesse der verbleibenden Anrainerstaaten sei, den Arktischen Rat neu zu erfinden. Fachleute wie die ehemalige spanische Außenministerin Ana Palacio haben sich inzwischen für die Beibehaltung des Rates ausgesprochen. Sollte sich Russland aus Besorgnis über die Dominanz der NATO zurückziehen, könnten regionale Unruhen zunehmen, befürchtet sie. Das wiederum könnte es China ermöglichen, in der Region stärker Fuß zu fassen. China hatte sich 2018 zu einem „arktisnahen Staat“ erklärt.

China versteht sich als arktisnaher Staat

Auch der schwedische Militärexperte Lundqvist befürchtet, dass China mehr Einfluss in der Region gewinnen will. Das Land könnte eine von Peking geführte Struktur, eine Art 'paralleler Arktischer Rat', initiieren. „Es könnte sein, dass wir am Ende zwei verschiedene Gremien haben, die sich mit den wirtschaftlichen Fragen und der Forschung in der Arktis befassen“, so Lundqvist.

Rasmus Gjedssø Bertelsen, Professor an der Arktischen Universität Norwegens, geht davon aus, dass sich die Kluft zwischen chinesischen und US-amerikanischen Interessen in der Arktis durch die derzeitige Lähmung des Arktischen Rates noch vergrößern wird. „Ich befürchte, dass wir uns in einer Situation wiederfinden werden, in der Russland gezwungen sein wird, viele seiner Interessen in der Arktis wegen des Krieges in der Ukraine zugunsten Chinas zu opfern, obwohl es eigentlich nicht in Moskaus Interesse liegt, den Ukraine-Konflikt auf den hohen Norden übergreifen zu lassen“, so Bertelsen. Ihm zufolge waren die chinesischen Investitionen in die russische Arktis schon vor Moskaus massiver Einmarsch in der Ukraine „signifikant“ und umfassten „Milliarden von Euro“. Insgesamt investierte Peking zwischen 2012 und 2017 fast 90 Milliarden US-Dollar (87 Milliarden Euro) in die Arktis.

Die strategische Ausrichtung der USA

Im August genehmigte der russische Ministerpräsident Michail Mischustin einen Plan zur Entwicklung des Nördlichen Seewegs bis 2035, der mehr als 150 Maßnahmen beinhaltet, für die Investitionen in Höhe von fast 1,8 Billionen Rubel (28 Milliarden Euro) vorgesehen sind. Auch chinesische Unternehmen könnten sich an dem massiven Projekt zum Aufbau der Infrastruktur entlang der Arktisroute beteiligen. Allerdings steht dem aktuell die Befürchtung Pekings entgegen, dass chinesische Banken und Unternehmen unter die US-Sanktionen fallen, falls sie verbotene Geschäfte mit Russland tätigen.

Doch auch die USA engagieren sich verstärkt in der Region. Im Oktober 2022 machte Washington seine nationale Strategie für die Arktis für das kommende Jahrzehnt publik. Kern der Ausrichtung ist die Zusammenarbeit mit US-Partnern und gleichgesinnte Nationen. US-Präsident Joe Biden beabsichtigt ausserdem, den ersten Sonderbotschafter für die Arktis zu ernennen. Solch ein Botschafter – „Ambassador-at-Large“ genannt – ist keinem Land fest zugeteilt, sondern soll die USA in internationalen Organisationen vertreten und in bestimmten Fragen beraten. Fachleute wie der kanadische Diplomat Bernard Funston sind jedoch davon überzeugt, dass über das langfristige US-Engagement erst 2024 entschieden wird. Dann wird in den USA neu gewählt.

Diese Vielschichtigkeit der politischen Strategien unterstreicht jedoch eines: Bei der Entwicklung der neuen geopolitischen Konstellation im hohen Norden geht es nicht so sehr um die Arktis selbst, sondern um den Rest der Welt und um Vorgänge, die in den anderen geografischen Bereichen stattfinden.

Ekaterina Venkina ist Journalistin mit den Schwerpunkten Außenpolitik und internationale Beziehungen. Während ihrer jahrzehntelangen Karriere hat sie in sechs verschiedenen Ländern gelebt, studiert und gearbeitet: Russland, Schweden, USA, Großbritannien, Belgien und Deutschland.

Ekaterina Venkina ist Journalistin mit den Schwerpunkten Außenpolitik und internationale Beziehungen. Während ihrer jahrzehntelangen Karriere hat sie in sechs verschiedenen Ländern gelebt, studiert und gearbeitet: Russland, Schweden, USA, Großbritannien, Belgien und Deutschland.

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