ENERGIE

„Deutschland ist auf
einem Sonderweg“

Hubert Kleinert, Grünen-Mitbegründer und Politik-Professor in Gießen, erklärt, warum sich seine Partei mit der Atomkraft so schwertut – anders als Grüne in anderen Ländern. 

Interview: Carsten Jäger
Illustrationen: Andrea Ucini

ENERGIE

„Deutschland ist auf einem Sonderweg“

Hubert Kleinert, Grünen-Mitbegründer und Politik-Professor in Gießen, erklärt, warum sich seine Partei mit der Atomkraft so schwertut – anders als Grüne in anderen Ländern. 

Interview: Carsten Jäger
Illustrationen: Andrea Ucini

Warum sprechen sich skandinavische Grüne aus Klimaschutzgründen für die Kernenergie aus, die deutschen Grünen aber nicht?

Die deutschen Grünen waren die Ersten, die in Europa Erfolg hatten. Sie sind an den Bauplätzen von Atomkraftwerken entstanden. Die teilweise militanten Auseinandersetzungen mit der Polizei hatten die Grenzen solcher Aktionsformen gezeigt und die Aufstellung grüner Listen zu den Kommunalwahlen in Niedersachsen 1977 mitinitiiert. Dazu kam dann der Streit um das Endlager im Wendland. Das wirkt bis heute nach. Die niedersächsischen Grünen sind – wenn man so will – besonders konservativ. Das haben wir so in anderen Ländern nicht. Atom wurde zum Fokus-Thema für die gesamte deutsche Umweltbewegung.

Waren die Proteste durch Technologiefeindlichkeit oder durch Kapitalismuskritik motiviert?

Das lässt sich nicht trennen. Die frühen Grünen waren eine äußerst widerspruchsvolle Kombination von Umweltschützern und Systemkritikern. Am Bauplatz für das AKW in Wyhl, wo 1975 alles begann, gab es eine Koalition aus konservativen Bauern und linksradikalen Freiburger Studenten. Nicht die Technologie war das Problem, sondern ihr kapitalistischer Einsatz. Umweltzerstörung und Atomtechnologie waren für viele Ausdruck einer neuen Krise des Systems. Man kann in der grünen Gründungsgeschichte nicht genau trennen zwischen Umweltbewegung und einer neuen Form linker Kapitalismuskritik. Beides zusammen hat den Erfolg der frühen Grünen möglich gemacht.

Wie sehen Sie die deutsche „Energiewende“?

Für den gleichzeitigen Ausstieg aus Kohle und Atom gab es eine Voraussetzung: dass ausreichend Erdgas zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung steht. Das ist vorbei. Mit dem Ukraine-Krieg ist eine völlig neue Situation entstanden. Man braucht aber auf mittlere Sicht Reservekapazitäten für Tage, an denen der Wind nicht bläst und die Sonne nicht scheint. Viele Länder setzen wieder verstärkt auf Atomenergie – selbst Japan. Deutschland ist mit dieser Art von „Energiewende“ eher auf einem Sonderweg.

Tun wir Deutschen uns mit der Realität schwer, und sind die Grünen in diesem Sinne besonders deutsch?

Lebenslügen gibt es auch anderswo. Das ist also kein spezielles Problem der Grünen. Aber die moralische Aufladung des Redens über Politik hat bei uns ein Ausmaß erreicht, dass es manchmal zu Selbsttäuschungen führt. Mag sein, dass die Grünen davon besonders betroffen sind. Siehe Migrationspolitik, siehe Energiepolitik. Am stärksten hat sich das jedoch in der Außen- und Sicherheitspolitik gezeigt. Gerade da aber haben die Grünen angesichts des Kriegs in der Ukraine doch sehr rasch Kurskorrekturen vorgenommen. Sie unterstützen die „Zeitenwende“ und sind für Waffenlieferungen an die Ukraine. Und in Sachen China ist die Außenministerin viel klarer als der Bundeskanzler.

Trauen Sie den Grünen eine Kurskorrektur beim Thema Kernenergie zu?

Da bin ich skeptisch. Das Thema Atomkraft sitzt sehr tief, jedenfalls bei den älteren Grünen. Aber ausschließen würde ich gar nichts. Wir wissen alle noch nicht, wie sich im nächsten Frühjahr die Lage darstellen wird, was Preise und Versorgungssicherheit angeht. Dazu die Klimadebatte. Seit der ersten Regierungsbeteiligung nach 1998 haben sich die Grünen immer wieder in einem Widerspruch zwischen Ideologie und Realismus bewegt. Wenn es zum Schwur kam, hat die Partei meistens beachtlichen Pragmatismus gezeigt. Beim Atomthema ist das sicher am schwierigsten. Allerdings sehe ich nicht, dass diese Koalition daran auseinanderbrechen wird.

Carsten Jäger ist Bereichsleiter Programm und Analyse in der Bundesgeschäftsstelle der FDP.

Carsten Jäger ist Bereichsleiter Programm und Analyse in der Bundesgeschäftsstelle der FDP.

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