ANSCHLUSS VERPASST?

Boomende Städte,
sterbendes Land?

In Deutschland gibt es eine beneidenswerte Vielfalt an Wirtschaftsräumen – in städtischen und ländlichen Regionen. Der Wettbewerb zwischen den Standorten funktioniert, wenn man ihn zulässt.

Text: Karl-Heinz Paqué
Illustrationen: Emmanuel Polanco

ANSCHLUSS VERPASST?

Boomende Städte,
sterbendes Land?

In Deutschland gibt es eine beneidenswerte Vielfalt an Wirtschaftsräumen – in städtischen und ländlichen Regionen. Der Wettbewerb zwischen den Standorten funktioniert, wenn man ihn zulässt.

Text: Karl-Heinz Paqué
Illustrationen: Emmanuel Polanco


Die Neunzigerjahre waren eine Dekade der Hoffnungen, aber auch der Illusionen. Außenpolitisch sorgte der Fall des Eisernen Vorhangs dafür, dass viele glaubten, wir stünden weltweit vor einem dauerhaften Sieg von Rechtsstaat, Demokratie und Marktwirtschaft. Zur selben Zeit sorgten neue Technologien und vor allem das aufkommende Internet dafür, dass viele Volkswirte eine goldene Zeit ländlicher Räume vorhersagten. Das war durchaus logisch, schufen doch die Mikroelektronik und das damals neue Internet anscheinend die Möglichkeit, Wertschöpfungsketten viel besser in der Breite des Raumes zu vernetzen und damit auch entlegenen, dünn besiedelten Regionen die Chance zu eröffnen, sich in die hoch produktiven Wachstumspole der urbanen Metropolen einzuklinken. Eine goldene Zeit des Aufholens vom Land gegenüber der Stadt schien bevorzustehen.

Es kam ganz anders. In den letzten 30 Jahren beobachten wir eher das Gegenteil. Die Städte wachsen deutlich schneller als die ländlichen Regionen. Bei in etwa stagnierender Bevölkerung Deutschlands gibt es einen Trend zur Abwanderung vom Land in die Stadt, und der konzentriert sich vor allem auf jüngere, gut ausgebildete Menschen. Am deutlichsten ist dies an den Baulandpreisen abzulesen. Die vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumplanung (BBSR) ermittelten Zahlen belegen eindrücklich: Lagen die Baulandpreise Mitte der Neunzigerjahre in den urbanen Regionen noch im Durchschnitt doppelt so hoch wie in den ländlichen Räumen, so stieg der Abstand bis 2020 auf das Vierfache an, und zwar recht kontinuierlich im Trend – bis in die Gegenwart.

Das war nicht immer so: In den Nachkriegsjahrzehnten des industriellen Wachstums profitierten eher ländliche Regionen von der Standortverlagerung und dem Ausbau von Produktionsstätten vor allem in Kleinstädten, die dann den ländlichen Raum wirtschaftlich mit sich zogen – auch als Ergebnis der Motorisierung. Bis 1973 herrschte in Deutschland eine extreme Knappheit an Arbeitskräften, und die half, das Kapital dorthin zu lenken, wo es überhaupt noch qualifizierte Erwerbspersonen gab. Das genau waren die eher ländlichen Räume, die noch im Grad der Industrialisierung hinterherhinkten. Das Kapital wanderte zur Arbeit, nicht umgekehrt.

Warum ist dies heute offenbar anders? Zum einen schrumpfte die klassische Industrie in Westdeutschland in den Siebziger- und Achtzigerjahren als Folge der Ölkrisen – und in Ostdeutschland in den Neunzigerjahren aufgrund der radikalen marktwirtschaftlichen Transformation. Zum anderen verlagerte sich das Wachstum auf moderne Dienstleistungen. Sie brauchten die hoch spezialisierten Arbeitsmärkte der großstädtischen Räume sowie die Nähe verwandter Dienstleistungen, um ihre volle Produktivität entfalten zu können. Ökonomen sprechen in solchen Fällen von positiven räumlichen Externalitäten, die eine Ballung der Wirtschaftskraft begünstigen.

Also genau das Gegenteil der Hoffnungen der Neunzigerjahre! Wird das so bleiben? Nicht unbedingt. Zwei Trends sprechen dagegen: Zum einen werden wir in den nächsten Jahren – wie vor mehr als 50 Jahren – einen extremen Mangel an Arbeitskräften erleben. Dies wird wieder jene unternehmerischen Kräfte in Bewegung setzen, die nach den letzten Reserven suchen, bis hin zur weit entfernten Provinz. Zum anderen – und wichtiger noch – wird sich die Technologie verändern. Genauer: Sie tut es bereits. Immer größere und komplexere Datenmengen können leicht verschickt werden. Die Möglichkeit, in einer entlegenen Zweigstelle oder im weit entfernten Homeoffice die Zentrale mit Dienstleistungen zu beliefern, rückt in die Nähe der realistischen Planung. Die Integration des unternehmerischen Zentrums mit der betrieblichen Peripherie kann damit eine ganz neue Dimension erreichen. Wohlgemerkt: Sie kann, aber sie muss nicht. Denn dies wird nur möglich sein, wenn die nötige Infrastruktur der Digitalisierung auch in den entferntesten Winkeln des Landes vorhanden ist. Dazu braucht es gewaltiger Investitionen, staatlicher wie privater. Andere Länder wie etwa Estland haben längst bewiesen, dass dies möglich gemacht werden kann.

Infrastruktur und innovativer Spirit

Auch die Verkehrsinfrastruktur in den ländlichen Räumen bleibt eine politische Priorität, die gleichfalls in der Merkel-Ära stiefmütterlich behandelt wurde. Machen wir uns nichts vor: Selbst in der Ära der Digitalisierung bedarf es moderner, schneller und zuverlässiger Verkehrswege, und zwar sowohl auf der Straße als auch auf der Schiene. Will man als ländlicher Raum der natürlichen Magnetwirkung der Städte im Standortwettbewerb trotzen, so geht dies nur mit attraktiver physischer Vernetzung.

Regionale Differenzierung bringt Probleme mit sich: In den Boomstädten klagen Berufstätige mit vergleichsweise niedrigen Löhnen über hohe Bodenpreise und Mieten.

Hinzu kommt schließlich im ländlichen Raum so etwas wie ein innovativer Spirit. Der beginnt im Rathaus einer Gemeinde – oder auch nicht. Er ist abhängig vom Grad der Autonomie, den die Kommunalverfassung des jeweiligen Landes zulässt. Er ist unersetzbar und hängt stark von der individuellen Initiative des Einzelnen ab. Manchmal staunt man, dass es in der einen Gemeinde hervorragend funktioniert und das Gewerbegebiet aus den Nähten platzt, während die Nachbargemeinde dahinsiecht. Dies ist demokratischer Wettbewerb im Raum, den man fördern muss.

Wie man sich überhaupt bewusst sein muss, dass nicht alles steuerbar ist. Und wo man dies gegen die Kräfte des Standortwettbewerbs versucht, geht es schief. Ein klassisches Beispiel dafür sind die Mietpreisbremsen in Ballungsräumen. Im Wesentlichen sind steigende Mieten – ob man dies mag oder nicht – Ausdruck des wirtschaftlichen Erfolgs einer Region.
Dass London, New York und Paris sehr teure Städte sind, erklärt sich eben aus ihrer Anziehungskraft als Metropolen ihrer Länder und der Welt. Die hohen Bodenpreise und Mieten von Großstädten schaffen wiederum Anreize für Menschen und Unternehmen, Wohnungen oder Produktionsstand-orte anderweitig zu suchen. Sie sind  Instrument und Mittel des Ausgleichs zwischen Regionen. Sie vermindern die Unterschiede in den Realeinkommen, und sie nivellieren das Preis-Leistungs-Verhältnis zwischen Stadt und Land. Insofern sind sie absolut unentbehrlich, um den Regionen außerhalb der Zentren eine Chance des Aufstiegs zu bieten.

Wettbewerb zwischen den Standorten

Gerade Deutschland ist mit seiner Wirtschaftsgeschichte ein herausragendes Beispiel dafür. Durch seine Zersplitterung in viele Fürstentümer hatte das Land über Jahrhunderte eine Fülle von großen, mittleren und kleinen Zentren, die miteinander im Wettbewerb standen, vor allem wirtschaftlich und kulturell. Dies hat dem Land überhaupt nicht geschadet. Deutschland hat gerade dadurch jene Vielfalt entwickelt, die bis heute von Besucherinnen und Besuchern aus zentralistischeren Nationen beneidet wird. Diese Vielfalt macht auch klar, dass eine absolute Nivellierung der Lebensstandards zwischen Stadt und Land gar nicht wünschenswert ist. Oft genug stellen einzelne Menschen im Laufe ihres Lebens fest, dass sich ihre eigenen Präferenzen verändern – bisweilen gar vom wohlhabenden urbanen Bürger zum ländlichen Aussteiger mit rustikalem Lebensstil. So füllt sich dann der brandenburgische Fläming mit Berlinern, der Bayerische Wald mit Münchnern und der holsteinische Geestrücken mit Hamburgern, die jeweils dem Druck der Großstadt entfliehen.

Klar ist: Regionale Differenzierung bringt ihre eigenen Probleme mit sich. So klagen in den boomenden Städten alle Berufstätigen mit vergleichsweise niedrigen Löhnen über hohe Bodenpreise und Mieten. Für die Krankenschwester oder den Krankenpfleger in Berlin, Hamburg oder München, die nicht gut verdienen, aber hohe Mieten zahlen, ist natürlich der belehrende Hinweis auf die Bedeutung des Standortwettbewerbs wenig hilfreich. Allerdings muss man gerade bei unentbehrlichen Dienstleistungen fragen, warum sie in den Großstädten nicht besser bezahlt werden. Der Staat kann in einer sozialen Marktwirtschaft jenseits des Mindestlohns nicht noch die Aufgabe übernehmen, den dringend gebrauchten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern jene Löhne zu sichern, die ihre Wohnungen bezahlbar machen. Dies ist und bleibt Aufgabe der Tarifparteien.

Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Professor der Volkswirtschaftslehre. Das Gefälle zwischen Stadt und Land ist für ihn ein zentrales Thema, das ihn seit seinem Studium in den Siebzigerjahren begleitet.

Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Professor der Volkswirtschaftslehre. Das Gefälle zwischen Stadt und Land ist für ihn ein zentrales Thema, das ihn seit seinem Studium in den Siebzigerjahren begleitet.

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