RELIGIONSFREIHEIT

Religionsfreiheit statt Staatskirche

Die christlichen Kirchen in Deutschland verlieren an Bedeutung. Der Staat muss die altertümliche Finanzierung der Religionsgemeinschaften weiterentwickeln und das Staatskirchenrecht durch ein modernes Religionsrecht ersetzen.

Text:  Alexander Görlach

RELIGIONSFREIHEIT

Religionsfreiheit statt Staatskirche

Die christlichen Kirchen in Deutschland verlieren an Bedeutung. Der Staat muss die altertümliche Finanzierung der Religionsgemeinschaften weiterentwickeln und das Staatskirchenrecht durch ein modernes Religionsrecht ersetzen.

Text:  Alexander Görlach

An Heiligabend 2022 füllten sich die Kirchen nur spärlich. Beobachter erklärten dies damit, dass die Pandemie die Menschen von dem traditionellen Gottesdienstbesuch an Weihnachten entwöhnt habe. Andere sahen in den mäßig besetzten Sakralräumen den nächsten Schub eines Trends, an dessen Ende eine Marginalisierung des institutionalisierten Christentums in Deutschland stehen würde. Ein Soziologe sprach sogar davon, dass die Entchristlichung der Gesellschaft nunmehr unumkehrbar sei, wenn selbst zu Weihnachten die Kirchen keine soziale Bindekraft mehr entfalteten.

Der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung scheint diese These zu bestätigen: Nur noch 17 Prozent der Kirchenmitglieder gehen mindestens einmal im Monat zum Gottesdienst. Und jedes vierte Kirchenmitglied habe demnach im vergangenen Jahr über einen Austritt aus der Religionsgemeinschaft nachgedacht. Rund 830 000 Menschen sind im Jahr 2022 tatsächlich aus der Kirche ausgetreten.

Auch das ist ein Trend, der seit Jahren besteht, mit dem Resultat, dass in Deutschland die Gruppe der nicht religiös organisierten Menschen mittlerweile immer größer wird: Mit rund 41 Millionen gehören ihr heute so viele Menschen an wie der katholischen (rund 21 Millionen) und der evangelischen Kirche (rund 20 Millionen) zusammen. Der Anteil der Kirchenmitglieder liegt inzwischen unter 50 Prozent. Interne Berechnungen der beiden ehemals als Volkskirchen bezeichneten christlichen Großgemeinschaften gehen davon aus, dass sich ihre Mitgliederzahl bis zum Jahr 2060 noch einmal halbieren wird.

Eine christliche Nation?

Diese Zahlen sagen nichts über das religiöse Befinden von Menschen jenseits einer registrierten Kirchenmitgliedschaft aus. In der Tat geben viele der im Religionsmonitor Befragten an, sich als Christen zu verstehen, auch wenn sie dem Gottesdienst fernbleiben. Allerdings suggerieren überlieferte Gewohnheiten, auch im politischen Betrieb der Bundesrepublik, dass es sich bei Deutschland nach wie vor um eine christliche Nation handele. Bei wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen werden im Fernsehen Gottesdienste übertragen, an denen Bundespräsident oder Bundeskanzler in ihrer Amtsfunktion teilnehmen. Solche Bilder erinnern an eine Zeit, in der Religion in Deutschland nur das Christentum meinte.

Das Staatskirchenrecht, in dem unter anderem die christlichen Feste als staatliche Feiertage und der Sonntag als Ruhetag ausgewiesen werden, stammt in Teilen noch aus der Weimarer Reichsverfassung. Andere Elemente sind in den Gründungsjahren der Bundesrepublik hinzugekommen. Der Bogen des Staat-Kirche-Verhältnisses spannt sich in Deutschland zurück bis ins Jahr 1806, in dem im Zuge der Säkularisierung Kirchengüter eingezogen und enteignet wurden. Bis heute zahlt der deutsche Staat Ausgleich für das damals getane Unrecht.

Die Probleme, die dadurch für die adäquate Bewertung des religiösen Lebens in Deutschland und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft zu den Religionsgemeinschaften entstehen, liegen spätestens auf der Hand, seit versucht wird, das Verhältnis zur islamischen Religionsgemeinschaft rechtlich zu verstetigen. Obwohl mittlerweile rund fünf Millionen Muslime im Land leben, hat die Politik nur das Staatskirchen-Raster als Vorlage, um das organisierte Verhältnis zu den islamischen Gemeinden zu regeln. Das aber könnte nicht nur die Religionsfreiheit beschneiden, sondern den Staat der Möglichkeit berauben, gesellschaftliches Leben zu gestalten.

Das Staatskirchenrecht muss deshalb dringend in ein Religionsrecht geweitet werden. Bislang war der politische Wille, dieses Unterfangen anzugehen, nicht wirklich ausgeprägt. Doch ein modernes Religionsrecht ist ein Muss für jeden freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaat. Es darf dabei auch in Zusammenhang mit einem neuen Einwanderungsrecht gedacht werden, das ebenfalls den Geist der demokratischen Grundordnung Deutschlands atmen sollte.

Liberaler Pluralismus

Kreuze im öffentlichen Raum wirken heute auf manche Betrachter wie Boten aus der Vergangenheit.

Ein liberales Land ist alles andere als religionsfeindlich, sondern es versteht und erkennt an, dass die Identitäten von Menschen auch von ihrem religiösen und kulturellen Erbe getragen und bereichert werden. Gleichzeitig ist ein liberales Land pluralistisch: Menschen verschiedener religiöser Bekenntnisse sitzen in der Schule, am Ausbildungs- oder Arbeitsplatz nebeneinander, konfessions- und religionsverschiedene Ehen sind Normalität. In den großen Städten stehen neben den Kirchen und Kathedralen längst vielerorts auch Moscheen und neu errichtete oder restaurierte Synagogen. Und nicht zuletzt wird durch die Medien und durch Reisen deutlich, dass es unter Gottes Himmel mehr als eine Religion gibt. Konkret bedeutet das, dass jene Elemente des Staatskirchenrechts, die als Privilegien der Kirchen missverstanden werden könnten, in einem neuen Religionsrecht nicht mehr vorkommen. Denn ein neues Religionsrecht kann nicht einfach heißen, dass allen Religionsgemeinschaften künftig das zugedacht wird, was bislang den Kirchen zukam. Anstelle beispielsweise eines Religionsunterrichts für Christen, Mus-lime, Juden, Buddhisten und Hindus, der dann neben eigenständigem Unterricht für nicht religiös gebundene Schülerinnen und Schüler angeboten werden müsste, sollte ein Fach wie Ethik- oder Lebenskundeunterricht stehen, an dem alle teilnehmen.

Gleichzeitig müssen sich die politisch Verantwortlichen Gedanken darüber machen, welche Elemente des Christlichen in einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen einer Kirche angehören, weiterhin vom Staat finanziert werden sollen. Das wird zum Beispiel die Baudenkmäler betreffen wie die vielen Dorfkirchen, die in der einen oder anderen Weise nach wie vor Identität stiften. Das gilt nicht weniger für die Kirchenchöre, die Orgelbaukunst oder das Glockengeläut, die alle nicht nur deutsches Kultur-, sondern auch Exportgut sind.

Die Staatsleistungen an die Kirche für die Enteignungen vor über 200 Jahren könnten in einen Fonds auslaufen, der den Erhalt der als solche definierten Kulturgüter finanziert. Ob weiterhin die Mitgliedsbeiträge von Religionsgemeinschaften von den Finanzämtern eingezogen werden sollten, ist ebenfalls eine relevante Frage, denn hier greift der Staat sowohl in individuelle Rechte als auch in das Selbstorganisationsrecht von Religionsgemeinschaften ein, wenn beispielsweise unter anderem Mitgliederverzeichnisse verlangt werden, die Voraussetzung für den Einzug dieser Steuer sind. Entscheidend wird sein, zu vermitteln, dass ein neues Religionsrecht niemandem etwas wegnehmen wird, sondern am Ende mehr Freiheit für alle schafft. Dafür muss in einem ersten Schritt ein Forum für einen breiten gesellschaftlichen Dialog geschaffen werden, der alle Beteiligten einbezieht.

Alexander Görlach ist Honorar-professor für Ethik und Theologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Er unterrichtet unter anderem Theorien von Pluralismus, Säkularismus und Kosmopolitismus.

Alexander Görlach ist Honorar-professor für Ethik und Theologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Er unterrichtet unter anderem Theorien von Pluralismus, Säkularismus und Kosmopolitismus.

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