Industriepolitik
Deutschland im Jahre 2 der Energiekrise: Haben wir etwas aus dem letzten Jahr gelernt? Energie bleibt teuer, doch die Versorgung über den Winter scheint gesichert.
Text: Margaret Heckel
Am 2. Juli diesen Jahres war es wieder einmal so weit: Wind- und Sonnenstrom in Hülle und Fülle, und am Sonntag nur wenig Industrieanlagen als Abnehmer. „Wer seine Produktion anpassen kann und an der Strombörse kauft, hätte zu dem Zeitpunkt den Strom geschenkt bekommen“, sagt Stefan Kapferer, Vorsitzender der Geschäftsführung des Stromverteilnetzes 50Hertz. Der langjährige Staatssekretär in unterschiedlichen Ministerien und FDP-Politiker kennt auch einen Stahlhersteller, der seine Produktion bereits so steuert: „Das sind die positiven Seiten der Energiewende.“
Die weniger guten Seiten kennt Kapferer allerdings auch: „Die Energiewende wird noch sehr lange sehr hohe Systemkosten für den Umbau produzieren“, sagt er. Netzausbau, Stromtrassen, Batteriespeicher, Back-up-Kapazitäten – die nächsten 10 bis 15 Jahre wird das viele Milliarden Euro kosten. Zudem wird Energie nie mehr so preiswert werden wie vor dem russischen Angriff auf die Ukraine.
Klar ist aber auch, wie die Energiewirtschaft umgebaut werden wird. „75 Prozent“ der diesbezüglichen Entscheidungen für diese Legislaturperiode seien getroffen, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck Anfang August der „ZEIT“. 50Hertz-Chef Kapferer sieht das ähnlich: „Die entscheidenden Zielvorgaben sind da.“
Industriepolitik
Deutschland im Jahre 2 der Energiekrise: Haben wir etwas aus dem letzten Jahr gelernt? Energie bleibt teuer, doch die Versorgung über den Winter scheint gesichert.
Text: Felix Holtermann
Damit geht Deutschland grundlegend anders in den kommenden Winter und mögliche Engpasslagen auf dem Energiemarkt. Die deutschen Gasspeicher sind gefüllt, mehrere LNG-Flüssiggasterminals in Betrieb. Sowohl die Privathaushalte als auch die Unternehmen haben gezeigt, dass sie auf Preissignale reagieren: Um 7,1 Prozent ist der Energieverbrauch in Deutschland im ersten Halbjahr 2023 laut Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen gesunken. Sowohl die Strom- als auch die Gaspreise liegen sehr deutlich unter den Höchstwerten von vor einem Jahr.
Von den 200 Milliarden Euro, die die Bundesregierung für die Energiepreisbremsen bei Strom und Gas bereitgestellt hat, sind Stand Ende Juli 2023 erst 18 Milliarden Euro ausgegeben. Um auch für den kommenden Winter Preissicherheit für die Verbraucher zu schaffen, wird Wirtschaftsminister Habeck die eigentlich zu Ende des Jahres auslaufende Maßnahme bis Ostern 2024 verlängern.
Dennoch ist die Stimmung insbesondere im energieintensiven Teil der Wirtschaft schlecht. „Das Haus brennt“, sagte der Präsident des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), Markus Steilemann, Ende Juli. Um ein Sechstel sei die Produktion der Chemieindustrie (ohne Pharma) im ersten Halbjahr 2023 gesunken: „Wir sind der erste Dominostein, der wackelt. Wenn es uns schlecht geht, folgen bald auch andere.“
Energieintensive Branche
Keine Branche in Deutschland braucht so viel Energie wie die Chemie – und kaum eine steht wohl vor einem so großen Umbruch. Mit einem Jahresbedarf von weit über 300 Terawattstunden benötigt der Sektor die Hälfte dessen, was alle deutschen Privathaushalte an Strom, Gas und Öl nutzen. Der Preisdruck auf die Branche ist groß: Zu den Bezugskosten kommen die Investitionskosten für den Umstieg auf regenerative Energiequellen.
Für einige Jahre will Wirtschaftsminister Habeck energieintensiven Branchen deshalb einen subventionierten Industriestrom für wahrscheinlich sechs Cent pro Kilowattstunde zur Verfügung stellen. Allerdings kann er sich bislang in der Regierung damit nicht durchsetzen. VCI-Präsident Steilemann mahnt den Industriestrompreis an: Zwar seien beim VCI „überzeugte Marktwirtschaftler“, doch beim „Industriestrompreis geht es um Löschwasser“, formuliert Steilemann seine Metapher vom brennenden Chemie-Haus zu Ende.
Für einige Jahre will Wirtschaftsminister Habeck energieintensiven Branchen deshalb einen subventionierten Industriestrom für wahrscheinlich sechs Cent pro Kilowattstunde zur Verfügung stellen. Allerdings kann er sich bislang in der Regierung damit nicht durchsetzen. VCI-Präsident Steilemann mahnt den Industriestrompreis an: Zwar seien beim VCI „überzeugte Marktwirtschaftler“, doch beim „Industriestrompreis geht es um Löschwasser“, formuliert Steilemann seine Metapher vom brennenden Chemie-Haus zu Ende.
Ähnlich skeptisch wie Bundeskanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner sehen die meisten Wirtschaftswissenschaftler einen subventionierten Industriestrompreis. Neben dem Abgrenzungsproblem, welche Branchen und ab welcher Firmengröße Unternehmen davon profitieren, ist das Hauptargument die Verzerrung der Marktsignale. Eine solche war bereits bei der Strom- und Gaspreisbremse zu beobachten. Fast alle Energieversorger haben ihre Preise leicht oberhalb der staatlich festgelegten Werte angesiedelt – nicht so hoch, dass viele Kunden wechseln, aber eben auch nicht darunter, selbst wenn die wirtschaftliche Lage der Versorger das beispielsweise wegen langjähriger Versorgungsverträge hergegeben hätte. Zwar will die Regierung so entstandene „Übergewinne“ abschöpfen. Ob das gelingt, ist allerdings äußerst fragwürdig.
Die Energiewende wird noch lange hohe Systemkosten produzieren.
Zudem verlangsamen staatliche Eingriffe in den Markt das Innovationstempo, warnt Thomas Krings, Geschäftsführer der Quadra Energy in Düsseldorf. Sein Unternehmen vermarktet Strom aus „Tausenden einzelner Wind- und Solaranlagen“ und bündelt das in einem „virtuellen Kraftwerk“, wie er Anfang August im „F.A.Z.“-Podcast „digitec“ sagte. Als Großhändler von Grünstrom beliefert Quadra vor allem Versorger, aber auch große Industrieabnehmer.
Wir sind der erste Dominostein, der wackelt.
Zum Kerngeschäft von Quadra Energy gehört die Vorhersage von Strommengen und -preisen. Krings hält die derzeitigen Vorschaupreise an der Strombörse von 130 bis 140 Euro pro Megawatt für nächstes Jahr und knapp unter 100 Euro für 2027 für plausibel. Das sei „immer noch um den Faktor vier bis fünf“ höher als vor der Energiekrise. Aber der Abwärtstrend sei eben auch sichtbar, so der Experte.
Unternehmen, die ihren Energiekonsum sehr kurzfristig anpassen können, dürften in den nächsten Jahren sogar öfter von negativen Preisen profitieren. „Sonntage mit einem so hohen regenerativen Energieüberschuss wie am 2. Juli werden künftig nicht so selten sein“, erwartet Quadra-Chef Krings. Mit einem Prognosefehler von nur noch zehn Prozent kann sein Unternehmen für den Folgetag die exakten Strommengen vorhersagen, die Windmühlen und Solarpanels in den jeweiligen Regionen Deutschlands produzieren.
Netzausbau entscheidend
Je genauer diese Vorhersagen werden, desto einfacher auch die Aufgabe der Stromübertragungsnetze wie 50Hertz. Noch müssen in den Leitzentralen der insgesamt vier deutschen Stromübertragungsnetze an wind- und sonnenreichen Tagen ohne ausreichend Nachfrage Windmühlen abgeschaltet werden, um die Stabilität des Stromnetzes nicht zu gefährden. Im Gegenzug warnen Kritiker im Winter regelmäßig vor sogenannten Dunkelflauten, wenn nicht genug Wind weht und die Sonne nicht scheint. Für Klaus Müller, den Chef der Bundesnetzagentur, ist das ein überholtes Argument. „Herausfordernd für die Systemstabilität ist nicht die sogenannte Dunkelflaute, sondern eine Situation mit hohem Verbrauch im Süden und sehr viel erneuerbarer Erzeugung im Norden“, sagte er bei der Vorstellung der Netzreserve für den kommenden Winter. Dies zeige „erneut, dass ein rascher Netzausbau für die Energiewende wesentlich ist“.
Das wird teuer. „Tragen werden das vor allem die kleinen Unternehmen, der sprichwörtliche Bäckermeister und natürlich die privaten Haushalte“, sagt 50Hertz-Chef Kapferer. „Die energieintensiven Großunternehmen sind von vielen preistreibenden Abgaben wie beispielsweise der Stromsteuer befreit.“ Mindestens ein Drittel kommt so noch auf den Börsenstrompreis drauf.
Geplante Netzerweiterung
Umso wichtiger ist für Kapferer deshalb die Frage, ob „die Energiewende nicht kostengünstiger organisiert werden kann“. So müssen die geplanten Stromtrassen von Nord nach Süd weitgehend unter der Erde verlegt werden, was rund dreimal so viel kostet wie die Freileitungen. Gegen die oberirdischen Leitungen gab es Bürgerproteste, die der damalige bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer populistisch zum Thema machte.
Gegen die unterirdischen Leitungen allerdings gibt es auch Proteste – diesmal oft von den Landwirten, auf deren Grund sie laufen. Bei der aktuellen Trassenplanung wird sich in dieser Hinsicht kaum mehr was machen lassen. 50Hertz plant allerdings schon die nächste Netzerweiterung für das Jahr 2037. Dann soll auch das Stromnetz klimaneutral sein, nachdem die vielen in der Planung befindlichen Offshore-Windparks in der Nord- und Ostsee ans Netz gegangen sind.
50Hertz selbst will das für seinen Teil des Netzes schon 2032 erreichen und dann 100 Prozent erneuerbare Energien im Netz haben. Weil regenerativer Strom seit Längerem die kostengünstigste Stromart ist, sinken damit automatisch dann auch die Stromkosten. Derzeit liegt der Ausbau bei Solar für dieses Jahr 26 Prozent über Plan, der für Wind allerdings 14 Prozent unter Plan. In den kommenden Jahren werden sich die Zubauziele jedoch sehr deutlich erhöhen, weil ein immer größerer Teil der Energieversorgung auf regenerativen Strom umgestellt werden soll, der zudem Basis für die Wasserstoffwirtschaft werden soll.
Insofern zählt jedes Watt an Grünstrom – und da kommt dann wieder jeder und jede von uns ins Spiel. Dieses Jahr wurden gut 500 000 sogenannter Balkonkraftwerke verkauft – Solarpaneele, die einfach am Balkon Strom produzieren. Experten gehen davon aus, dass ein Durchschnittshaushalt damit rund 20 Prozent seines Stromverbrauchs einsparen kann.
Margaret Heckel ist Moderatorin, Journalistin und Autorin. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem demografischen Wandel und der sich wandelnden Arbeitswelt. Mit ihren Vorträgen und Workshops ist sie deutschlandweit unterwegs.
Margaret Heckel ist Moderatorin, Journalistin und Autorin. Sie beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem demografischen Wandel und der sich wandelnden Arbeitswelt. Mit ihren Vorträgen und Workshops ist sie deutschlandweit unterwegs.
Schwieriger Winter
Im Herbst wird Deutschlands Energieversorgung wieder stärker diskutiert. Der Überfall auf die Ukraine
hat den Energiemarkt weltweit erschüttert und die Transformation der Versorgung zu nachhaltigen Energiequellen beschleunigt. Aber erst mit genügend grüner Energie sind die Preise wieder kalkulierbarer.
Es wird knapp
Speicher sind wichtig: Das Gas reicht für etwa zwei kalte Monate, wenn Deutschland kein Gas mehr importieren kann.
Quelle: Agsi
Deutschland ist von Energie abhängig
Im Vergleich zu 2018–2021 ist der Erdgasverbrauch 2022 gesunken. Weil es wärmer war, aber auch weil der Gas-Preis gestiegen ist.
Quelle: Bundesnetzagentur
Starke Preissenkungen nach dem Ausschlag 2022
Weil die Energiepreise sich so extrem entwickeln und oft schwer kalkulierbar sind, scheuen viele Menschen und Unternehmen größere Investitionen. (Angaben in Prozent)
QuelleN: Verivox, tankerkoenig.de, esyoil, ZEIT ONLINE
Ausbau erneuerbarer Energien
Der Ausbau der Erneuerbaren muss deutlich schneller vorangehen: Die Installation neuer Windräder liegt derzeit unter Plan, der Ausbau der Solar-energie darüber. (Angaben in Prozent)
Quelle: Bundesnetzagentur
Industrie-Strompreis
Der durchschnittliche Industrie--Strompreis (Neuabschlüsse) hat sich 2023 gegenüber dem 2. Halbjahr 2022 mehr als halbiert.
(Angaben in Cent, Stand: 07/2023)
QuelleN: VEA, BDEW (07/2023)
Verlagerung ins Ausland
Wegen der hohen Preise und der Unsicherheiten am Energiemarkt überlegen viele Unternehmen aus energieintensiven Branchen, Produktionsanlagen zu verlagern. (Angaben in Prozent)
Quelle: IW Consult (2023)
Während der sommerlichen Hitzewellehaben viele Menschen in Europa eine Abkühlung herbeigesehnt. Dank Klimaanlagen, Ventilatoren und vollen Supermärkten kommen wir bei ausbleibenden Regenfällen schon für eine Weile klar. Mutter Natur hat es nicht so leicht, wenn Regen über Jahre ausbleibt.
Bar, digital oder per Dienstleister – bei der Wahl ihres Zahlungsmittels haben die Menschen mit digitalen Währungen noch mehr Freiheit. Es gibt gute Gründe, den digitalen Euro möglichst bald einzuführen.
Die Bundesregierung will Deutschland und seinen wichtigsten Handelspartner wirtschaftlich sanft entflechten. Eine ganzheitliche Risikoverringerung durch Wirtschaft und Politik allerdings steht weiterhin aus.