Umgang mit der AfD
Rückkehr zum Wirtschaftswachstum, Rückgewinn der Grenzsicherung, Rückzug aus dem Kulturkampf
Text: Karl-Heinz Paqué
Illustrationen: Emmanuel Polanco & Doriano Strologo
Umgang mit der AfD
Rückkehr zum Wirtschaftswachstum, Rückgewinn der Grenzsicherung, Rückzug aus dem Kulturkampf
Text: Karl-Heinz Paqué
Illustrationen: Emmanuel Polanco & Doriano Strologo
Fangen wir mit ein paar Fakten an. Die AfD ist zehn Jahre alt. Ihr Aufstieg in Umfragen und Bundestagswahlen vollzog sich in drei Schüben: zunächst 2013 im Nachbeben der Euroschuldenkrise auf fast 5 Prozent, dann zur Mitte des Jahrzehnts fast zeitgleich zur Flüchtlingskrise auf 10 bis 13 Prozent und zuletzt ab Mitte 2022 bis auf 20 Prozent. Es ist dieser letzte Schub, der für viele völlig überraschend kam, zumal er im Westen mindestens so stark ausfiel wie im Osten.
Längst gibt es dafür plausible Erklärungen – zuletzt etwa in erfrischender Kürze von Stefan Locke in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Er verweist auf zwei zentrale politische Problemfelder, die der AfD massiv neue Munition geben: die wirtschaftliche Stagnation und die ausufernde Zuwanderung.
Der kranke Mann Europas
„Is Germany once again the sick man of Europe?“ – diese Frage stellte der Londoner „Economist“ jüngst auf dem Titelbild seiner Ausgabe vom 19. August 2023 – und gab die Antwort: ja (wie zuletzt 1999!). Die deutsche Wirtschaft wächst nicht mehr, die Unternehmen blicken düster in die Zukunft, die Menschen beschleichen Abstiegsängste, auch wenn ihr Arbeitsplatz wegen der demografischen Entwicklung nicht unmittelbar gefährdet ist. Gleichzeitig ächzt das Land unter hohen Sozialausgaben, Steuern und bürokratischen Lasten. Der Zustand von Schienen, Straßen und Brücken ist marode, das digitale Netz dürftig. Energie und Strom sowie Wohnraum sind zu knapp und teuer. Es herrscht hohe Inflation. Der schlechte Service der Bahn ist längst zum täglichen Gespött geworden. Hinzu kommen internationale Blamagen – wie jüngst jene groteske Panne der Flugbereitschaft, die dafür sorgte, dass die Außenministerin im Nahen Osten stecken blieb, statt nach Australien weiterzufliegen. Mangelnde Erfolge im Sport tun ihr Übriges.
All dies verstehen viele Menschen nicht. Sie wollen stolz auf ihr Land sein, auch wirtschaftlich. Deutschland war, was die wirtschaftliche Leistungskraft betrifft, über Jahrzehnte ein weltweites Vorbild. Daran haben sie sich gewöhnt. Jetzt sind wir nur noch ein ohnmächtiger Oberlehrer für globale Moral und Ökologie, ohne selbst Leistung zu bringen. Und gleichzeitig philosophieren Teile der politischen Elite von „De-Growth“ statt Wachstum – mit Verzicht auf Konsum statt neuen Lebenschancen als Leitbild. Das finden viele Menschen jämmerlich. Und manche protestieren dagegen leider durch Wahl der AfD, zunehmend auch im Westen.
Dagegen hilft nur eines: ein weitreichendes Wachstumsprogramm. Was jüngst in Meseberg auf den Weg gebracht wurde, reicht noch lange nicht. Mehr muss folgen: von der Erneuerung der Infrastruktur bis zu wachstumsfördernder Steuerpolitik und Abbau bürokratischer Lasten.
Nie wieder 2015
Zur Wachstumsschwäche kommt eine zweite riesige Sorge der Menschen: die ungesteuerte Zuwanderung. Sie schwillt seit 2022 wieder massiv an, fast perfekt parallel zur Bereitschaft, die AfD zu wählen. Die Zahl der Asylanträge hat inzwischen den höchsten Stand seit 2016 erreicht. Die Kommunen stöhnen, die Grenzen der Belastbarkeit nahen. Wann wird endlich der europäische Asylkompromiss vom Juni dieses Jahres umgesetzt?
Klar ist: Ohne wirksame Kontrollen an den EU-Außengrenzen wird das Trauma der Flüchtlingskrise 2015 in den Köpfen der Menschen ständig wiederbelebt. Es wird der AfD mühelos Wählerinnen und Wähler in die Arme treiben – als Bild eines Staates, der unfähig ist, die Zuwanderung zu steuern. Die Bundesregierung muss schleunigst in Brüssel auf eine schnelle Lösung drängen, auch um dem Rechtspopulismus den Wind aus den Segeln zu nehmen.
Fast ein Kulturkampf
Der jüngste Aufstieg der AfD lässt sich also durchaus mit jenen großen unerledigten Aufgaben erklären, die sich nach Jahren des Stillstands aufgetürmt haben, für alle objektiv erkennbar. Hinzu kommt allerdings ein wichtiges weiteres Element mit eher subjektivem Charakter. Es betrifft den Zeitgeist – genauer: den grünen Zeitgeist, der seit 2021 in Gestalt von Bündnis 90/Die Grünen parteipolitisch nun auch in der Bundesregierung vertreten ist, erstmals nach 16 Jahren.
Die Grünen haben ein alles dominierendes Ziel. Sie wollen die Welt ökologisch und moralisch besser machen. Sie versuchen dies auch, indem sie in Freiheitsrechte eingreifen und eine entsprechende Rhetorik pflegen. Sie fordern zum Beispiel die zügige Abkehr vom motorisierten Individualverkehr – vor allem: weg vom zunehmend verteufelten Auto, selbst wenn es mit Elektroantrieb fährt. Sie wollen die schnellstmögliche Umstellung der Heizungsanlagen auf regenerative Energien. Sie fordern die Abkehr vom schädlichen Fleischkonsum.
Diese grünen Ziele kollidieren mit den einfachen Wünschen vieler Menschen. Auf pädagogische Appelle reagieren sie allergisch. Das ist die bittere Erfahrung der Grünen in ihrer Regierungspraxis. Selbst Menschen, die den Weg zur Klimaneutralität befürworten, fühlen sich bevormundet und entmündigt. Traut die grüne Politik ihnen gar nichts zu? Sie fühlen sich bedrängt und gemaßregelt, wozu die überhastete und undurchdachte Umsetzung der grünen Ideen etwa beim ersten Entwurf des Gebäudeenergiegesetzes massiv beigetragen hat. Sie haben im Übrigen berechtigte sachliche Bedenken in Anbetracht der offensichtlichen Engpässe bei erneuerbaren Energien und der Verfügbarkeit von Strom.
Auch jenseits von Ökologie und Klimapolitik zeigt sich die pädagogische Dimension des grünen Zeitgeistes: Fast wöchentlich gibt es neue Meldungen über irgendein Kinderbuch – von „Jim Knopf“ und „Pippi Langstrumpf“ bis „Huckleberry Finn“ –, das aufgrund politischer Korrektheit umformuliert wird, um die junge Generation nicht mit historischer Terminologie der Diskriminierung zu belasten. Auch der Humor leidet dabei. Zum 75. Geburtstag des grandiosen Spaßmachers Otto Waalkes, einer Ikone der Babyboomer-Generation, wurde vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen einem seiner Filme allen Ernstes ein Warnhinweis vorgeschaltet. Zum Symbol des neuen Zeitgeistes ist schließlich der Genderstern geworden – allgegenwärtig auch im gesprochenen Wort, aber vom Rechtschreibrat nicht empfohlen.
„Viele Menschen wollen
stolz auf ihr Land sein, auch wirtschaftlich.“
All dies ähnelt einem Kulturkampf, der polarisiert und viele irritiert. Auch gelegentlich den Verfasser dieser Zeilen, der allerdings denkt: Schwamm drüber, es gibt Wichtigeres. So denken aber viele andere nicht, und das kann man verstehen. Sie wollen mit ihren Sorgen um Sprache und Kultur ernst genommen werden. Sie wollen eine Gesellschaft, die ihre „geistige“ Heimat erhält. Und sie beobachten, dass unter anderem die öffentlich-rechtlichen Medien sich um ihre Sorgen nicht kümmern. All dies führt zur Frustration.
Umstrittene Lebensgefühle
Wie überhaupt der altmodische Begriff „Heimat“ einen Schlüssel zum Verständnis der derzeitigen Lage liefern könnte. Dies gilt sowohl für den jüngsten Anstieg der Bereitschaft, rechtspopulistisch zu wählen, als auch für die besondere Stärke der AfD im Osten (und dort vor allem im regionalstolzen Sachsen). Alle etablierten demokratischen Parteien müssen versuchen, den Menschen ein Gefühl der Heimat zu bieten – trotz der Herausforderungen, die zu bewältigen sind. Das tun sie derzeit nicht genug. Besonders offensichtlich wird dies bei zwei „konservativen“ Parteien, die vormals besonders gut darin waren, ein Heimatgefühl zu vermitteln: die Union deutschlandweit und die Linke im Osten.
„Die etablierten Parteien schaffen es nicht, den Menschen ein Gefühl der Heimat zu bieten.“
Die CDU näherte sich in der langen Regierungszeit von Angela Merkel Schritt für Schritt jenem grünen Zeitgeist, der damals noch keinen offiziellen Platz in der Bundespolitik, wohl aber in einigen Landesregierungen einnahm. Jetzt versucht der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, Teile dieses konservativen Bodens zurückzugewinnen, was offenbar auf starken innerparteilichen Widerstand trifft. Der Fall der Linken ist noch dramatischer. Sie bot über Jahre eine Art Heimat für „konservative“ Ostdeutsche, die ihrer Jugend und Vergangenheit im untergegangenen DDR-Sozialismus nachhingen. Das Lebensgefühl, das die Partei ausstrahlte, war zutiefst konservativ – trotz linkssozialistischer Inhalte. Heute dominiert in der Partei eindeutig der grüne Zeitgeist, weshalb Die Linke besonders viele Wählerinnen und Wähler im Osten an die AfD verloren hat.
Es geht dabei übrigens nicht um eine allzu späte, reuevolle Anerkennung der Lebensleistung der DDR-Bürger. Und auch nicht um einen Versuch, den Menschen im Osten „Demokratie beizubringen“, wie manche arroganten westlichen Analysten suggerieren, denn die Demokratie funktioniert auf den Ebenen der Kommunen und der Länder im Osten genauso gut wie im Westen. Es geht allein um die Zukunft: Wir müssen endlich das erkennen, was die Gemütslage im Osten dominiert, nämlich das Gefühl, als Region mit eher konservativ ländlich-kleinstädtischer Prägung im Wertgefüge der künftigen Bundesrepublik Deutschland mit ihrem grünen Zeitgeist keine Rolle mehr zu spielen. Das wollen die Menschen nicht.
Es wird deshalb höchste Zeit, dass die demokratischen Parteien der Mitte – CDU, FDP, SPD und auch die Grünen selbst – darüber nachdenken, wie es ihnen gelingen kann, die Zukunft des Landes nicht allein grün leuchten zu lassen. Eine Mammutaufgabe. Nur so wird es gelingen, die AfD in ihre Schranken zu weisen.
Das „Lichtblick“-Filmtheater in Oldenburg hat sich für die Premiere der vom Bund mitsubventionierten neuen Projektionsanlage übrigens den Film „Avatar 2 – The Way of Water“ eingekauft. Der Blockbuster rangiert inzwischen auf Platz drei der weltweiten Bestenliste der höchsten Einspielergebnisse und hat deutlich über zwei Milliarden US-Dollar eingespielt.
Preisbremsen verschärfen das Problem, das sie beseitigen sollen.
Karl-Heinz Paqué ist Vorsitzender des Vorstands der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Professor (emer.) für Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Von 2002 bis 2006 war er Finanzminister des Landes Sachsen-Anhalt.
Karl-Heinz Paqué ist Vorsitzender des Vorstands der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Professor (emer.) für Volkswirtschaftslehre an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Von 2002 bis 2006 war er Finanzminister des Landes Sachsen-Anhalt.
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