Diskriminierung
Als Antiziganismus bezeichnet man Rassismus, der sich gegen Sinti und Roma richtet – ihre Diskriminierung hält bis heute an. Aus dem Grund hat die Bundesregierung Mehmet Daimagüler zum Antiziganismusbeauftragten benannt. Im Interview erläutert er, wie stark Vorurteile und Narrative der Vergangenheit auch heute noch wirken.
Interview: Judy Born
Kunstprojekt „Die Romareise“: Joakim Eskildsen und Cia Rinne fotografierten Roma in sieben Ländern Europas.
Diskriminierung
Als Antiziganismus bezeichnet man Rassismus, der sich gegen Sinti und Roma richtet – ihre Diskriminierung hält bis heute an. Aus dem Grund hat die Bundesregierung Mehmet Daimagüler zum Antiziganismusbeauftragten benannt. Im Interview erläutert er, wie stark Vorurteile und Narrative der Vergangenheit auch heute noch wirken.
Interview: Judy Born
Kunstprojekt „Die Romareise“: Joakim Eskildsen und Cia Rinne fotografierten Roma in sieben Ländern Europas.
Herr Daimagüler, wie kam es zu Ihrer Berufung?
Meine Berufung geht auf eine Initiative der letzten Bundesregierung zurück, die 2019 eine „Unabhängige Kommission Antiziganismus“ eingesetzt hat. Ihr Abschlussbericht im Juli 2021 enthält eine ganze Reihe zentraler Handlungsempfehlungen. Eine davon war die Einrichtung meines Amtes. Nach einem Kabinettsbeschluss der Ampel-Koalition wurde ich 2022 berufen, um die Belange der Sinti und Roma in Deutschland auf Regierungsseite zu vertreten. Konkret sehe ich meine Aufgabe darin, die zentralen Forderungen des erwähnten Abschlussberichts zu erfüllen. Dabei geht es unter anderem um die umfassende Anerkennung des nationalsozialistischen Genozids an Sinti und Roma sowie um die Aufarbeitung des Unrechts, das in der Bundesrepublik Deutschland an ihnen begangen wurde.
Aber gibt es nicht sowohl die offizielle Anerkennung des NS-Völkermords an den Sinti und Roma wie auch die Anerkennung als nationale deutsche Minderheit?
Das stimmt, Ersteres im Jahr 1982 durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Aber mal abgesehen davon, dass es dafür nach 1945 rund 37 Jahre gedauert hat, passierte danach nicht viel. Die Anerkennung darf sich nicht darin erschöpfen, ein Verbrechen nur zuzugeben und an Gedenktagen Kränze niederzulegen. Man muss sich mit den Auswirkungen auseinandersetzen, die der Völkermord für die Menschen hatte und immer noch hat. Die Folgen reichen von transgenerationalen Traumata über Ausgrenzung, Diskriminierung bis zu Armut und Kriminalisierung.
Ein Unrecht, welches das Leben und Ansehen der Menschen bis heute prägt …
Es gibt einen eigenen Ausdruck dafür: Wir sprechen hier von der „Zweiten Verfolgung“, also dem, was nach Ende des Zweiten Weltkriegs folgte: Heimkehrern wurden beispielsweise deutsche Pässe verweigert, weshalb viele ihrer Nachkommen auch heute noch staatenlos sind. In den Kommunen wurden sie ausgegrenzt und an den Rändern der Gesellschaft angesiedelt – an Autobahnauffahrten und Eisenbahnlinien, auf ehemaligen Mülldeponien. Heute würde man das als Umwelt-Rassismus bezeichnen. All das muss aufgearbeitet werden.
Wie gehen Sie das an?
Wir beginnen mit der Einberufung einer Wahrheitskommission. Für deren Gründung wird ein Konzept erarbeitet, das wir noch in diesem Jahr mit Vertretern der Community diskutieren. Dazu habe ich über 150 Menschen aus Selbstorganisationen und andere Expertinnen und Experten nach Berlin eingeladen, auf der wir auch über den Stand unserer Arbeit sowie die nächsten Schritte sprechen. Außerdem geht es darum, wie die Community all diese Prozesse selbst steuern kann. Denn immer, wenn es um Sinti und Roma geht, müssen Sinti und Roma involviert sein.
Sie sprechen mal von Sinti und Roma, mal von Sinti*zze und Rom*nja. Was ist denn laut der Community richtig?
Zunächst einmal: DIE Community gibt es ebenso wenig, wie es „die Amerikaner“ oder „die Deutschen“ gibt. Sinti und Roma sind keine homogene Gruppe. Dort herrschen ebenso viele verschiedene Ansichten wie in anderen Bevölkerungsgruppen, etwa bei der Sprache. Es überrascht nicht, dass sich das Gendern auch in der Selbstbezeichnung widerspiegelt. Ich spreche von Sinti und Roma, sehe aber auch viel Unterstützung für den Begriff „Sintizze und Romnja“.
Mehmet Daimagüler
hat seine eigenen Erfahrungen mit Ausgrenzung und Rassismus gemacht und beobachtet seit Langem, wie Behörden, die Polizei sowie mitunter Mitbürger Minderheiten behandeln.
Als Rechtsanwalt vertrat er Opfer von Straftaten, Hassverbrechen und Polizeigewalt.
Bundesweit bekannt wurde er als Vertreter
der Nebenklage im NSU-Prozess. Daimagüler war zeitweilig Mitglied im FDP-Bundesvorstand.
Sie waren anfangs kein Freund der gendergerechten Sprache, richtig?
Ja, ich war der Meinung, es würde den Sprachfluss verkomplizieren, die Texte verschandeln. Ich habe diese Haltung aber bereits vor einigen Jahren revidiert. Wenn wir über Ermächtigung sowie gleichberechtigte Teilhabe sprechen und damit Rollen und Stereotypen verändern wollen, muss das ebenso für die Sprache gelten. Sie beeinflusst und bestimmt unser Denken und Handeln. Sprache ist wichtig, sie ist dynamisch, sie wandelt sich.
Sprache beziehungsweise Narrative sind ja DAS Manipulationsmittel schlechthin.
Narrative schaffen Wirklichkeit. Sprache spielt im Kontext rassistischer Ideologien eine zentrale Rolle. Die Reproduktion rassistischer Begriffe wie des „Z“-Worts oder das Schüren von Vorurteilen, dass Sinti und Roma grundsätzlich kriminell, arbeitsscheu und nicht sesshaft seien, sorgt dafür, dass Rassismus weiterlebt. Letztlich führt es zu institutionellem und strukturellem Rassismus in einer Gesellschaft. Sprache und Narrative sind aber nicht nur Manipulationsmittel, sondern die Grundlage für alles Zwischenmenschliche und Gesellschaftspolitische, in jeder Hinsicht.
Es heißt ja gern mal: „Rassismus hat es immer gegeben, das muss eine Demokratie aushalten.“ Was sagen Sie dazu?
Nein. Eine Demokratie muss andere Meinungen aushalten, aber nicht das aktive Wirken und Arbeiten gegen sich selbst. Im Gegenteil: Wir müssen für unsere demokratischen Werte und gegen diejenigen kämpfen, die die Demokratie nicht nur bedrohen, sondern abschaffen wollen.
Wie heißt das konkret?
Das bedeutet, dass die Demokratie kein Naturgesetz ist. Es ist ein Wahnsinn, dass wir heute wieder Nazis und Faschisten in den Parlamenten haben. Die erste Bürger- wie auch Staatspflicht ist es, unsere Demokratie zu schützen. All die vielen Vereine, Initiativen und Menschen, die sich jeden Tag engagieren und gegen diese Gefahr kämpfen, sind dafür unerlässlich. Diese Menschen und Institutionen benötigen die größtmögliche Unterstützung. Wir brauchen aber auch Bundesprogramme wie „Demokratie leben!“ oder die Bundeszentrale für politische Bildung. Hier sind nicht weniger, sondern mehr Investitionen erforderlich, vor allem langfristige Förderungen, nicht nur Projektfinanzierungen. Nur so lässt sich konstant und erfolgreich etwas -bewirken.
Sie haben einmal gesagt: „Minderheiten – wie etwa auch Sinti und Roma – können eine Art Pulsmesser für Veränderung sein. Sie spüren zuerst, wenn der Wind sich dreht.“ Dreht er sich gerade?
Ich möchte es so sagen: Dinge verrutschen. Es gibt eine essenzielle Bedrohung unserer Demokratie und Gesellschaft, ja. Auf der anderen Seite gibt es viele Menschen, die erkennen, dass Demokratie gelebt und erarbeitet werden muss. Für die vielen anderen, die Indifferenten, ist es Zeit, Position zu beziehen und, wenn man so will, ihre Sprache zu finden. Denn das Schweigen ist gefährlich.
Judy Born ist freie Journalistin und lebt und arbeitet in Hamburg.
Judy Born ist freie Journalistin und lebt und arbeitet in Hamburg.
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