LIBERALISMUS
Der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama über die Erosion liberaler Werte, die Auswirkung linker Identitätspolitik auf moderne Gesellschaften und die Frage, warum der Aufstieg von Frauen bei Männern weltweit Wut auslöst.
Interview: Alexander Görlach
LIBERALISMUS
Der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama über die Erosion liberaler Werte, die Auswirkung linker Identitätspolitik auf moderne Gesellschaften und die Frage, warum der Aufstieg von Frauen bei Männern weltweit Wut auslöst.
Interview: Alexander Görlach
Wir haben uns zuletzt vor Ausbruch der Pandemie in Warschau getroffen und über den Zustand der Welt diskutiert. Viel ist in der Zwischenzeit passiert. Wo stehen wir heute, nach fast drei Jahren Covid-19?
Ich muss sagen, dass die Pandemie weniger ins Wanken gebracht hat, als ich gedacht habe. Der Krieg gegen die Ukraine wird meiner Meinung nach länger nachwirken und drastischere Konsequenzen nach sich ziehen.
Haben sich Demokratien oder Diktaturen in der Pandemie besser geschlagen?
Das lässt sich so pauschal nicht sagen: China hatte den schrecklichen Ausbruch in Wuhan, dann war die Situation eine Weile stabil, nun ist sie wieder außer Kontrolle. Deutschland hat sich zuerst gut geschlagen, dann kam die zweite Welle. Ein solches Vor und Zurück gab es überall auf der Welt, unabhängig vom jeweiligen Regierungssystem.
Was war Ihrer Meinung nach entscheidend, um gut durch die Pandemie zu kommen?
Vor allem ein gutes Gesundheitssystem und eine politische Führung, die willens war, auf die Menschen zu hören: Die Trump-Regierung hatte daran kein Interesse. Vertrauen in die Bevölkerung vonseiten der Politik und umgekehrt Vertrauen in die Regierung vonseiten der Bevölkerung, das ist in den USA nicht überall gegeben.
Haben Ihre Erfahrungen in den USA in der Pandemie dazu geführt, dass Sie jetzt ein Buch geschrieben haben „Der Liberalismus und seine Feinde“?
Der Grund dafür ist in der Tat der Aufstieg von Populisten und Nationalisten überall auf der Welt, von Indien bis Brasilien. Sie verklären in einer nationalistischen Nostalgie die Vergangenheit. Sie mögen keine Einwanderung, sie verpflichten sich einer bestimmten Religion. Und sie stehen dem Liberalismus feindlich gegenüber, was heißt, dass sie nichts davon halten, dass die Menschen ihr Leben selbst gestalten können.
Was zu gespaltenen Gesellschaften überall auf der Welt geführt hat.
Aber anders als bei einem Krieg ist das kein Konflikt zwischen Staaten, sondern er findet innerhalb von Nationen statt, auch in den beiden größten Demokratien der Welt, -
den USA und Indien.
Was heißt für Sie Liberalismus?
Im Kern besagt er, dass wir als Gesellschaften die sogenannten großen Fragen nach Gott und Sinn nicht politisch beantworten, sondern jeder und jedem diese Möglichkeit privat überlassen. Liberale Gesellschaften begegnen der Vielzahl von Antworten mit Toleranz. Liberalismus bedeutet auch, dass Menschen in die Lage versetzt sind, Entscheidungen für und über ihr Leben selbst zu treffen. In liberalen Demokratien werden diese Überzeugungen rechtlich codiert und durch Wahlen und von Institutionen geschützt.
Das sind bürgerliche Rechte, aber wie steht es um die soziale Komponente des Liberalismus?
Liberalismus bedeutet auch das Recht auf Eigentum und Institutionen, wie die Gerichte, die dieses Eigentumsrecht garantieren. Wo es solche Garantien gibt, sprechen wir von einem Rechtsstaat.
Warum erleben wir gerade jetzt ein neues Aufbäumen antiliberaler Kräfte?
In den vergangenen dreißig Jahren hat sich durch die Globalisierung in den reichen Nationen ein Spalt aufgetan zwischen der Arbeiterklasse und denen, die besser ausgebildet sind. Die Arbeiterklasse betrachtet sich als Verlierer der Globalisierung, genauso wie Menschen, die im ländlichen Raum leben. Dies führt zu einer Ausprägung verschiedener Werte, was sich vor allem in der Ablehnung von Einwanderung zeigt.
Das ist kein neues Phänomen. Gibt es denn etwas an der Globalisierung, was die aktuelle Entwicklung -losgetreten oder begünstigt hat?
In der globalisierten Welt sind auf einmal Fähigkeiten gefragt, die in der Vergangenheit weder Prestige noch viel Geld einbrachten. Wer in der Schule gut in Mathe war, konnte früher auf einen soliden Job in der Buchhaltung -hoffen. Heute werden Leute, die gut in Mathe sind, Programmierer oder gehen zu den großen Banken und verdienen hundertmal so viel wie ihre einstigen Klassenkameraden, die schlecht in Mathe waren. Überhaupt gilt heute: Kognitive Fähigkeiten sind wichtiger als physische Stärke. Das führt dazu, dass Frauen heute in der Arbeitswelt eine größere Rolle spielen.
Identitätspolitik gibt jeder Gruppe einen Rahmen: „Ich bin das Opfer anderer Gruppen.“
Die nationalistischen, populistischen Bewegungen, von denen Sie sprechen, propagieren allesamt ein altes, patriarchalisches Frauenbild.
Frauen haben begonnen zu arbeiten und sind in vielem auch besser als die Männer. So schließen mehr Frauen als Männer ein Studium ab. Da Hirn wichtiger ist als Muskeln, übernehmen heute Frauen Jobs, von denen Männer glaubten, dass sie ihnen vorbehalten seien. Diese Entwicklung beunruhigt sie.
Das heißt, die Männer wehren sich mit ihrem Widerstand auch gegen das Ende des Patriarchats?
Ja, der populistische Backlash ist auch ein Aufbegehren des Patriarchats. Der Hass, der Hillary Clinton entgegenschlug, ist in großen Teilen dem Unbehagen geschuldet, das viele Männer gegenüber erfolgreichen Frauen empfinden. Ihre Wut ist auch ein Grund für den Erfolg von Donald Trump.
Nicht nur „weiße alte Männer“ sind auf der Zinne. Ihre Wut teilen sie mit Männern in Indien, Ungarn und Brasilien.
Absolut richtig. Und die Akteure, die diese Wut anheizen, haben sich zu antidemokratischen Allianzen zusammengeschlossen. Putin unterstützt beispielsweise Venezuela und den Iran militärisch, im Cyber-Raum und durch Hilfsleistungen. Diese Länder haben nicht viel gemein, außer dass sie keine Demokratien sind. Sie sind ausschließlich durch ihre Ablehnung von Freiheit und Demokratie miteinander verbunden.
Wie hat es der Liberalismus geschafft, sich auch Gegner in eigentlich liberalen Gesellschaften zu machen?
Den ökonomischen Punkt haben wir ja bereits angeschnitten: Privatisierung, De-Regulierung, Rückzug des Staates. Der Wechsel zu neoliberalem Wirtschaften hat vielen Menschen Nachteile gebracht, weswegen sie sich vom Liberalismus abgewendet haben.
Sie nennen den Neoliberalismus in Ihrem Buch eine „Deformierung des Liberalismus“.
Genau, und eine weitere Deformierung ist die Identitätspolitik. Im linken Spektrum kam der Gedanke auf, Menschen nicht als Individuen, sondern als Mitglieder von Gruppen zu klassifizieren, denen sie aufgrund bestimmter Merkmale wie Ethnie oder Geschlecht angehören. Das führte zu einer Gegenentwicklung im rechten Spektrum, wo man sich als weiße Person als Opfer, als belagerte Minderheit zu sehen begann. Das ist natürlich weitestgehend Unsinn. Aber Identitätspolitik gab jeder Gruppe einen Rahmen, die eigene Situa-tion herauszustellen: Ich bin das Opfer anderer Gruppen, die meine Gruppe marginalisieren.
Also sind nicht fehlende Beteiligungsmechanismen oder mangelnde Repräsentation der Grund für die Krise der Demokratie, sondern wir müssen zuerst unser Wirtschaftssystem reliberalisieren, weg vom neoliberalen Irrweg?
Ja, aber falsche Wirtschaftspolitik lässt sich schneller umkehren als eine Identitätspolitik, die verhärtete Fronten zwischen Menschen geschaffen hat. Hier sind fundamentale Rechte von Leuten betroffen. Eine Lösung funktioniert also nicht einfach so nach dem Motto: „Wir sind alle gleich, aber dann doch nicht ganz“.
Um bei Ihrer Wirtschaftskritik zu bleiben: China ist in der ökonomischen Ausrichtung den USA gefolgt. Im Ergebnis sind Ungleichheit und Vermögensverteilung heute in beiden Ländern fast gleich, trotz völlig verschiedener politischer Systeme. Zeigt das nicht umso mehr, dass Neoliberalismus Gesellschaften zerstört, ganz gleich, ob es demokratische oder autokratische sind?
Der Kapitalismus in der Volksrepublik ist nicht neoliberal, sondern interventionistisch. Die Kommunistische Partei Chinas glaubt nicht daran, dass der Staat eine kleine oder gar keine Rolle in der Wirtschaft spielen sollte. Derzeit erleben wir ja das genaue Gegenteil. Generell kann man sagen: Kapitalismus, der nicht an Demokratie gebunden ist, kann groteske Ungleichheit produzieren. Deshalb glaube ich nicht, dass Liberalismus für sich allein funktioniert. Liberalismus braucht die Demokratie, um ein legitimes System der Rückverteilung aufzubauen.
Das klingt nach sozialer Marktwirtschaft.
Genau, Kontinentaleuropa hat ein solches Modell. Auch dort ist in jedem Land die Ungleichheit in der jüngeren Vergangenheit größer geworden, aber bei Weitem nicht so wie in den USA.
Wie liberal ist denn unsere internationale Ordnung noch? Chinas Machthaber Xi Jinping hat immer wieder klargemacht, dass er die Spielregeln der Welt ändern will. Ist der Verweis auf die Unantastbarkeit der nationalen Souveränität der einzig verbliebene Wert aus der Charta der Vereinten Nationen, auf den man sich noch einigen kann?
Daran, dass die Volksrepublik Souveränität verteidigt, sehen Sie, dass es sich dabei nicht um einen liberalen Wert per se handelt. Häufig dient der Verweis auf die Souveränität dazu, nationalistische Ziele zu verwirklichen und sich Einmischung von außen zu verbitten.
Genau das tut Peking im Hinblick auf Taiwan. China will die Inseldemokratie erobern, weil Xi – wie Putin gegenüber der Ukraine – behauptet, dass Taiwan Teil seines Landes sei. Wird Washington Taipeh zu Hilfe kommen, wenn Peking das Land angreift?
Xi hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Taiwan, wie er sagt, mit China „wiederzuvereinigen“. Es steht nicht zu erwarten, dass dies auf friedliche Weise geschieht. Deshalb wird Peking nicht umhinkommen, auch die US-Stellungen im Pazifik anzugreifen. Dann werden die USA Kriegspartei.
Xi und Putin begründen ihren Kampf gegen die freie Welt mit der Behauptung, dass der Westen Demokratie und Menschenrechte nutze, um den Rest der Welt ein weiteres Mal zu kolonialisieren.
Ich glaube, dass man auf der Grundlage universeller, menschlicher und moralischer Wahrheit mit Recht behaupten kann, dass alle Menschen ein Mindestmaß an Freiheit haben, dass sie respektiert und fair behandelt werden möchten. Was leider nicht universell ist, sind die Mechanismen und Institutionen, die diese Rechte garantieren, zum Beispiel eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Es gilt, für die Verbreitung dieser Institutionen zu kämpfen, weil es keinen Automatismus gibt, der sie hervorbringt und stärkt, obschon die meisten Menschen sie wirklich wollen.
Alexander Görlach ist Journalist und Theologe. Er arbeitet als Senior Fellow am New Yorker Carnegie Council for Ethics in International Affairs.
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