KINDERARMUT

„Keiner kann lange auf einem Bein stehen“

Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen in Armut auf. Das begrenzt, beschämt und bestimmt ihr Leben von der Bildung bis zur Gesundheit. Die geplante Kindergrundsicherung kann helfen, die Armut zu verringern, wenn sich auch die soziale Infrastruktur verbessert.

Text: Jenni Roth

KINDERARMUT

„Keiner kann lange auf einem Bein stehen“

Immer mehr Kinder und Jugendliche in Deutschland wachsen in Armut auf. Das begrenzt, beschämt und bestimmt ihr Leben von der Bildung bis zur Gesundheit. Die geplante Kindergrundsicherung kann helfen, die Armut zu verringern, wenn sich auch die soziale Infrastruktur verbessert.

Text: Jenni Roth


Erst kam die Trennung. Dann die Diagnose: Brustkrebs. Seither ist Barbara S. arbeitsunfähig. Und seit ihr Mann ausgezogen ist, muss sie allein die Miete zahlen, sich allein um die beiden Kinder, 13 und 16 Jahre alt, kümmern. Dafür braucht sie staatliche Unterstützung. Aber wegen eines Fehlers im Jobcenter ist seit Dezember 2022 kein Geld aufs Konto gekommen. Es ist so knapp, dass auch die 200 Euro für die Klassenfahrt ihres älteren Sohnes fehlen – zumal sie dafür auch noch Reisetasche und Schlafsack kaufen müsste.

Das ist nur ein Fall, mit dem Claudia Keul vom Deutschen Kinderhilfswerk zu tun hat, das sich für Kinderrechte und gegen Kinderarmut einsetzt. Inzwischen ist mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland von Armut betroffen. In Zahlen sind das 2,88 Millionen Kinder unter 18 Jahren, dazu gelten 1,55 Millionen junge Erwachsene als armutsgefährdet. Das heißt, sie leben in Haushalten mit einem Einkommen unter 60 Prozent des Durchschnittseinkommens. Oder in einem Haushalt, der sozialstaatliche Leistungen bezieht. Die Situation sei akut, sagt Claudia Keul – ob in Berlin, Bremen oder Stuttgart: Die aktuellen Krisen und die damit einhergehenden Preissteigerungen hätten die Kinder- und Jugendarmut weiter verschärft.

Krankheiten, Trennungen, große Familien und oft auch ein Migrationshintergrund – das sind die häufigsten Gründe, warum Kinder in Armut geraten. Auch bei Familie B., fünf Kinder, das jüngste sieben Monate alt. Die Mutter kümmert sich Vollzeit um die Kinder, weil drei von ihnen mit Entwicklungsverzögerungen kämpfen. Ihr Mann bekommt in einer Agrargenossenschaft nur den Mindestlohn. Die Kinder haben keine Kleiderschränke, ihre Sachen sind notdürftig in Pappkisten und Wäschekörben untergebracht. Das Baby schläft im Laufgitter und die Zweijährige neben der Mutter auf dem Sofa, weil nicht genug Betten da sind. Die Matratzen der anderen sind alt und teilweise verdreckt. Die Sechsjährige braucht eine Ecke, wo sie ungestört malen und Schreibübungen machen kann. Sie hat keinen Tisch, keinen Stuhl und keine Lampe. Das ist die materielle Seite. Aber laut Claudia Keul geht es auch um Scham und Ausgrenzung, von der Kita über das Schulsystem bis zum Berufsleben. 

Kinder aus armen Familien laden aus Platzmangel seltener Freunde ein.
Claudia Keul, Deutsches Kinderhilfswerk 

Kinder in Plattenbauten in Letschin im Oderbruch nahe der polnischen Grenze 

Von Armut betroffene Kinder leben häufig in beengten Verhältnissen. „Sie schämen sich oft für ihre Lebensverhältnisse.“

Kein Hobby, Eis oder Kino

Für Hobbys fehlt meist das Geld, etwa weil die Sportkleidung oder das Musikinstrument zu teuer ist. Urlaube fallen oft genauso aus wie Klassenfahrten, wobei die Eltern die Kinder dann häufig krankmelden. Eis oder Kino mit Freunden – nicht drin. Oft erfinden sie dann Ausreden, sagt Claudia Keul. Kinder aus armen Familien laden auch seltener Freunde nach Hause ein, weil nicht genug Platz ist oder weil nicht genug übrig ist, um die anderen zu bewirten. Laut Keul schämen sie sich für ihre Lebensverhältnisse, wenn andere zu Besuch kommen, oder fühlen sich schuldig für ihre Lage. Oft sagen sie bei Kindergeburtstagen ab, weil sie kein Geld für Geschenke haben, oder feiern selbst nicht, weil der Platz in der Wohnung fehlt. Bei Lehrern oder Trainern müssen sie stigmatisierende Anträge für Klassenfahrten oder Freizeitangebote stellen und unangenehme Fragen über Familienverhältnisse beantworten, für die sie nichts können.

Dazu sind sie gesundheitlich schlechter versorgt: Finanziell gut gestellte Eltern geben für Medikamente, Arztkosten oder Therapien ihrer Kinder rund zehnmal mehr aus als Eltern aus dem einkommensschwächsten Zehntel der Familien. Laut einer Langzeitstudie des AWO-Wohlfahrtsverbands leiden sie auch unter einer schlechteren psychischen Gesundheit. Besonders massiv seien die Unterschiede aber in den Bildungschancen, sagt Holger Stichnoth, der am Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) die Forschungsgruppe Ungleichheit und Verteilungspolitik leitet. Vom ärmsten Prozent der Kinder ginge nur eines von fünf aufs Gymnasium, vom reichsten Prozent sind es vier von fünf. Die Kinder hätten deutlich bessere Chancen, wenn ihre Eltern Abitur haben – selbst wenn diese nicht viel verdienten, könnten sie ihre Kinder beim Lernen besser unterstützen. Andere Studien zeigen, dass die soziale Schere noch weiter auseinandergeht und die Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status weiter gewachsen ist. So haben etwa Viertklässler aus privilegierten Elternhäusern in Mathematik und Deutsch etwa ein Jahr Leistungsvorsprung. Kinder aus benachteiligten Familien dagegen wiederholen öfter eine Klasse, werden bei gleichen Leistungen schlechter benotet und erhalten seltener eine Empfehlung für das Gymnasium. Zudem hat jedes vierte Kind keinen Computer mit Internet – mehr als zehnmal so viele wie in gesicherten Einkommensverhältnissen.

Zweigleisige Unterstützung

Man müsste diese Kinder zweigleisig unterstützen, findet Holger Stichnoth: mit Geld und Infrastruktur. „Keiner kann lange auf einem Bein stehen“, sagt er. So bringe die beste Schule nicht viel, wenn das Kind – oder die Mutter – hungrig ins Bett geht. Finanzielle Sicherheit sei unabdingbar, aber ohne funktionierendes Bildungssystem nicht viel wert. Stichnoth berät die Regierung in der Diskussion um die Kindergrundsicherung. Diese ist als zentrales „sozialpolitisches Projekt“ im Koalitionsvertrag verankert und soll alle familienpolitischen Leistungen bündeln: Kindergeld, Bürgergeld und Sozialhilfe, Teile des Bildungs- und Teilhabepakets sowie den Kinderzuschlag für Familien mit kleinen Einkommen. „Leistungen einfach nur zusammenlegen, dürfte aber nicht reichen“, sagt Stichnoth. Die Kindergrundsicherung müsste einfach und niedrigschwellig – möglichst digital – beantragt werden können, damit sie alle erreicht. Kinder und Jugendliche könnten selbst befragt werden, welchen Bedarf sie in verschiedenen Altersgruppen haben und was aus ihrer Perspektive zum Aufwachsen gehört. Am besten sollten Kinder und Jugendliche selbst anspruchsberechtigt sein.

Für Stichnoth ist klar, dass die Familien mehr Geld erhalten sollten als bisher: „Es ist auch nicht so, dass das Geld in den Mediamarkt getragen wird. Wir haben Studien, die zeigen, dass die Eltern in Vereine investieren, in Sport- und Musikangebote.“ Korrigiert werden müsste vor allem das Bildungs- und Teilhabepaket aus den Nullerjahren: „Zurzeit fließen 25 bis 30 Prozent des Geldes in die Verwaltung, das kommt nicht bei den Kindern an.“ Die Kindergrundsicherung, wie sie derzeit angepeilt wird, ist für den Bildungswissenschaftler Klaus Hurrelmann von der Hertie School Berlin aber nicht ausreichend: „Es ist bei genauem Hinsehen die Fortsetzung des traditionellen Modells: Die Elternhäuser erhalten Geld, der Staat aber hält sich mit seiner Verantwortung für die Kinder zurück.“ Dieser Ansatz habe Grenzen. In den letzten Jahren sei etwa das Kindergeld immer weiter erhöht worden – die Armutsquote sei aber nicht gesunken. „Kinderarmut ist nicht nur ein finanzielles Thema!“, sagt Hurrelmann. Es brauche neben einer sozialen Grundsicherung mehr Infrastruktur um die Familie herum und Einfluss auf die Familie. Und das ohne entwürdigende Anträge, ohne bürokratische Bedürfnisprüfung.

Die beste Schule bringt nichts, wenn das Kind hungrig ins Bett geht. 
Holger Stichnoth

Verbindliche Elternbildung

Besonders wichtig seien kostenfreie und am besten mit Anreizen verbundene Kita- und Vorschulangebote. „Warum ist Studieren gratis, aber die vorschulische Erziehung fast nirgends? Das ist ein wahnsinniger Konstruktionsfehler!“ Einkommensschwache Eltern würden ihre Kinder eher in die Kita schicken, gleichzeitig hätten die Eltern, besonders Alleinerziehende, dann mehr Freiraum zu arbeiten. Außerdem sollte es verbindliche „Elternbildung“ geben, von Erziehungsthemen bis zum Haushaltsmanagement. Wer an den Kursen teilnehme, bekomme Rabatte, etwa für Schwimmbäder.

All diese Ideen sind nicht neu. In Dänemark oder den Niederlanden setzt man längst nicht nur auf finanzielle Unterstützung, sondern auch auf eine gute (Vor-)Schulbetreuung und eine verbindliche Elternförderung. In diesen Ländern ist die Kinderarmut im europäischen Vergleich mit am geringsten.

Jenni Roth lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt vor allem Reportagen zu gesellschaftlichen Themen für namhafte Zeitungen und Magazine sowie Skripte für Hörfunk-Features bei Deutschlandradio. Ihre Beiträge wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.

Jenni Roth lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt vor allem Reportagen zu gesellschaftlichen Themen für namhafte Zeitungen und Magazine sowie Skripte für Hörfunk-Features bei Deutschlandradio. Ihre Beiträge wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.

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