DIGITAL ONLY
Auf der Suche nach weniger Verkehr und mehr Grün suchen viele Menschen ihr Glück außerhalb der Großstadt. Doch nicht immer hält das Leben auf dem Land, was es verspricht.
Text: Anja Tiedge
Illustrationen: Emmanuel Polanco
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Neue Chancen im ländlichen Raum: Digitale Tools, politische Weichenstellungen und transparente Verwaltungsstrukturen könnten das Land zu einem attraktiven Ort machen, der Innovation und hohe Lebensqualität miteinander verbindet.
Text: Anja Tiedge
Illustrationen: Emmanuel Polanco
aus, Garten, Hund. Sarah Ackermanns Vision vom Leben auf dem Land ist so klar wie klischeehaft, wie sie selbst sagt. Ihr Traumhaus liegt et-was erhöht, mit Blick auf Felder und eine Wiese, darauf vier bis fünf Schafe. Das Bild lässt die 37 Jährige seit einer Auszeit in den Alpen vor mehreren Jahren nicht mehr los. Damals lebte sie in der Metropolregion Frankfurt. „Seit diesem Urlaub will ich raus aus der Stadt, weg vom Verkehr und der Anonymität. Ich möchte im Grünen leben. In meinen eigenen vier Wänden, aber umgeben von Freunden.“
Im Sommer 2021 war Ackermann diesem Traum ziemlich nah. Sie wohnte in der nordhessischen Kleinstadt Homberg/Efze, mitten in der beschaulichen Altstadt mit malerischen Fachwerkhäusern, fünf Minuten entfernt von Spazierwegen durch Wälder und Wiesen. Abends traf sie sich mit Freun-den auf dem Marktplatz auf ein Glas Wein. Und sie war kurz davor, sich einen Hund zuzulegen. Heute lebt Ackermann in einer Wohnung in Wiesbaden, die sie sich mit einer Freundin teilt. Die selbstständige Projektmanagerin arbeitet viel, in der Natur ist sie kaum noch. Bis auf ihre Mitbewohnerin kennt sie in der Stadt fast nie-manden, statt auf Schafe schaut sie aus dem Fenster auf Häuser und Autos. Trotzdem: Den Traum vom Leben in einer ländlichen Region will Ackermann nicht aufgeben.
Pilotprojekt „Summer of Pioneers“
Was ist passiert? „In Homberg hat es für mich nicht mehr funktioniert. Zum Ende hin hat es in der Gruppe ziemlich geknirscht.“ Die Gruppe, von der sie spricht, waren Teilnehmende des Projekts „Summer of Pioneers“: 20 Menschen aus der Großstadt, die auf Zeit im ländlichen Raum leben und arbeiten. Alles, was sie für ihren Job brauchen, sind ein Laptop und ein Internetzugang. In einem praktischen Versuch wollten sie 2021 gemeinsam herausfinden, wie ein besserer Austausch zwischen Menschen in Städten und in ländlichen Regionen gelingen kann – und jeder für sich, wie sich Landleben in echt anfühlt.
Mit dem Wunsch, die Großstadt hinter sich zu lassen und ins Grüne zu ziehen, sind sie nicht allein. Laut einer Studie des ifo-Instituts hatte 2021 jeder achte Bewohner einer Großstadt vor, sie binnen eines Jahres zu verlassen. Dem Berlin-Institut zufolge haben viele von ihnen diesen Plan bereits in die Tat umgesetzt: Verloren von 2008 bis 2010 noch zwei von drei Kleinstädten und Dörfern Einwohner, war es von 2018 bis 2020 großflächig umgekehrt. Fast zwei Drittel der ländlichen Gemeinden gewannen in diesem Zeitraum Bewohner hinzu. Währenddessen wuchsen die Städte weniger stark – und das nur, weil Menschen aus dem Ausland vorwiegend in Großstädte zogen. Ohne sie hätten die Metropolen im Schnitt „Wanderungsverluste“ eingefahren.
Die Menschen schätzen die Natur mehr als vor 20 Jahren. Die sogenannte Landlust erscheint aber auch medial überhöht.
„Wir beobachten schon seit Längerem den Trend, dass Menschen aus Großstädten in kleinere Kommunen ziehen“, sagt Stefan Siedentop, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS). „Die Corona-Pandemie, während der viele Großstädter auf kleinem Raum Arbeit, Lernen und Leben vereinen mussten, hat diesen Trend verstärkt. Neu ist, dass nicht nur die Speckgürtel der Großstädte von der Wanderung profitieren, sondern immer mehr auch ländliche Regionen und hier insbesondere Kleinstädte.“ Das liege einerseits an sogenannten Push-Faktoren der Stadt: überteuertem Wohnraum sowie überlasteten Verkehrsinfrastrukturen, überfüllten Grünalagen sowie Engpässen bei Schulen und Kitas. Zugleich sei der Trend zum Landleben auch ein Zeitgeistphänomen. „Die Menschen schätzen die Natur und privat verfügbaren Freiraum mehr als vor 20 Jahren. Die sogenannte neue Landlust erscheint aber zugleich auch medial überhöht.“
„Wir beobachten schon seit Längerem den Trend, dass Menschen aus Großstädten in kleinere Kommunen ziehen“, sagt Stefan Siedentop, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung (ILS). „Die Corona-Pandemie, während der viele Großstädter auf kleinem Raum Arbeit, Lernen und Leben vereinen mussten, hat diesen Trend verstärkt. Neu ist, dass nicht nur die Speckgürtel der Großstädte von der Wanderung profitieren, sondern immer mehr auch ländliche Regionen und hier insbesondere Kleinstädte.“ Das liege einerseits an sogenannten Push-Faktoren der Stadt: überteuertem Wohnraum sowie überlasteten Verkehrsinfrastrukturen, überfüllten Grünalagen sowie Engpässen bei Schulen und Kitas. Zugleich sei der Trend zum Landleben auch ein Zeitgeistphänomen. „Die Menschen schätzen die Natur und privat verfügbaren Freiraum mehr als vor 20 Jahren. Die sogenannte neue Landlust erscheint aber zugleich auch medial überhöht.“
Digitalarbeit auf dem Lande
TV-Beiträge und Zeitschriften namens „Landlust“ oder „Mein schönes Land“ zelebrieren die Sehnsucht nach Erholung, Natur und echten Erlebnissen und tauchen ab in die Materie von Rasensaat und Bienenzucht. Doch so rosig wie in den Reportagen ist auf dem Land nicht alles. Vor allem junge Menschen verlassen den ländlichen Raum, wenn sie studieren oder einen Beruf lernen wollen, oft aus Mangel an Angeboten. Die Gemeinden kämpfen folglich mit Leerstand und Überalterung. Hier setzt der „Summer of Pioneers“ an, den es seit 2019 jedes Jahr in mehreren Kommunen in Deutschland und der Schweiz gibt: Die Beratungsagentur Neulandia, die die Projekte koordiniert, will stadtmüde Digitalarbeiter mit Kommunen auf dem Land vernetzen. Im Idealfall profitieren beide davon. „Im ländlichen Raum findet ihr noch Gestaltungsmöglichkeiten und eine Verwaltung, die offen für Neues ist“, heißt es auf der Webseite. „Gemeinsam mit Kommunen schnüren wir euch ein Rundum-sorglos-Paket bestehend aus möblierten Wohnungen, einem Coworking-Space und einer Community aus Kreativen und Digitalarbeiter:innen.“
Auch Sarah Ackermann genoss das All-inclusive-Angebot in Homberg. Eine möblierte Wohnung und ein Platz im Co-Working-Space kosteten zusammen 150 Euro monatlich – ein Bruchteil des Preises, den sie in der Großstadt gezahlt hätte. Die Gruppe wuchs schnell zusammen und versuchte mit Open-Air-Kinoabenden, Pop-up-Ausstellungen und Reparaturcafés mehr Leben in die Provinz zu bringen und mit den Einheimischen in Kontakt zu kommen. Vormittags trafen sich die Pioniere im Coworking-Space, nachmittags auf einen Kaffee auf dem Marktplatz und abends in der Gemeinschaftsküche. „Erasmus für Erwachsene“ nannten einige Teilnehmende den „Summer of Pioneers“ deshalb.
Zugezogene blieben unter sich
is zu einem gewissen Grad habe das funktioniert, sagt Ackermann. „Wir waren natürlich im Austausch mit den Hombergern, vor allem mit denen, die dem Projekt gegenüber aufgeschlossen waren. Aber die meiste Zeit waren wir Zugezogenen unter uns.“ Das reichte ihr für den Anfang. „Heimat entsteht für mich durch Gleichgesinnte. Durch Menschen um mich herum, die auf meiner Wellenlänge sind.“ Kann es überhaupt gelingen, dass gut verdienende Akademiker aus der Stadt von Landbewohnern mit teilweise geringerem Einkommen aufgenommen werden? „Studien zeigen, dass es dabei kulturelle Konflikte geben kann“, sagt Wissenschaftler Siedentop. „Die Einheimischen haben etwa die Sorge, dass die Grundstückspreise steigen und das Leben teurer wird.“ Je kleiner die Kommune, desto stärker sei dieser Effekt ausgeprägt.
Christian Soult bestätigt, dass die Integration von Großstädtern in der ländlichen Region auch nach mehreren Jah-ren eine Herausforderung ist. Er zog 2019 von Berlin in die 17 000-Einwohner-Stadt Wittenberge, als Teilnehmer des ersten „Summer of Pioneers“. Das Projekt ist längst abgeschlossen, doch rund die Hälfte der Teilnehmenden ist geblieben und hat die Kooperative „Elblandwerker“ gegründet, darunter auch Soult. „Wir fühlen uns hier sehr gut aufgenommen und sind eng mit vielen Akteuren der Stadt verbunden“, sagt er. „Aber die Gruppe vermischt sich noch nicht so mit alteingesessenen Einheimischen, wie wir uns das wünschen.“ Positiv stimmt ihn, dass zu den Karaoke-Abenden oder Re-paraturcafés, die die Elblandwerker anbieten, immer mehr Wittenberger kommen.
PR-Berater Soult zählt mittlerweile rund 300 Menschen zu den Elblandwerkern – nicht nur diejenigen, die sich inzwi-schen in der Region angesiedelt haben, sondern auch Leute, die damit liebäugeln, in die Stadt oder den Landkreis zu zie-hen, und sich für die Projekte der Kooperative interessieren. Manche von ihnen wohnen mehrere Wochen oder gar Monate in einer Community-Wohnung zur Probe, die von der Stadt subventioniert und von den Elblandwerkern verwaltet wird. Die meisten kommen aus Berlin oder Hamburg, beide Städte erreicht man mit dem ICE in rund einer Stunde. „Wir sind eine gute Mischung aus Paaren, Familien und Singles“, sagt Soult. Und fast alle sind 30 Jahre oder älter. „Das ist eine unserer größten Herausforderungen: Jüngere Menschen zu erreichen – und generell diverser zu werden.“
Es müsste eine Art ,Tinder fürs Dorf‘ geben.
Die Städte verjüngen sich
Größere Städte werden dagegen zunehmend jünger und internationaler. „Vor allem Menschen mit Migrationshintergrund und Studierende, die bereit sind, auf relativ wenig Fläche zu leben, ziehen weiterhin in die Großstädte“, sagt Stefan Siedentop vom ILS. Das stelle die Städte vor die Herausforderung, dass die Infrastruktur mitwachsen muss. Sie bräuchten mehr Kindergärten, Schulen und Grünflächen, um für junge Familien attraktiv zu bleiben. Beim Wohnungsbau setzen sie oftmals auf Nachverdichtung, etwa mit der Bebauung von Hinterhöfen oder der baulichen Ergänzung von Zeilensiedlungen. „Das stößt bei der Bevölkerung aber oft auf starke Vorbehalte, weil befürchtet wird, dass Grünflächen verloren gehen und der Verkehr noch stärker wächst.“
Auch Sarah Ackermann wünschte sich nahes Grün und kurze Wege und hatte in Homberg beides gefunden. Als der „Summer of Pioneers“, der ursprünglich ein halbes Jahr dauern sollte, verlängert wurde, blieb sie, genau wie knapp die Hälfte der Teilnehmenden. Doch als neue Pioniere dazustießen, veränderte sich die Dynamik in der Gruppe, und es gab Auseinandersetzungen. „Normalerweise ist das völlig in Ordnung. Dann trifft man abends eine Freundin und macht seinem Ärger Luft.“ Doch ihre Freunde waren gleichzeitig Kollegen und Projektmitstreiter. Ackermann fühlte sich zunehmend unwohl. Auch der Winter machte ihr zu schaffen: Viele Formate, die die Pioniere angestoßen hatten, waren von gutem Wetter abhängig, und man traf sich nicht mehr spontan zum Sundowner auf dem Marktplatz. Als ihr Mitbewohner, ebenfalls Pionier, ihr nahelegte, aus der gemeinsamen Wohnung auszuziehen, verließ sie schließlich das Projekt.
„Homberg war es nicht. Aber der Wunsch, aufs Land zu ziehen, besteht nach wie vor.“ Um Gleichgesinnte zu finden, mit denen es auf Dauer funktioniert, hat Ackermann schon eine Idee: „Es müsste eine Art ‚Tinder fürs Dorf‘ geben, wo man Menschen trifft, die auch aufs Land ziehen wollen und ähnliche Vorstellungen haben.“ Die Frage, ob sie noch einmal an einem ähnlichen Format teilnehmen würde, beantwortet sie nur zögerlich. „Im Moment nicht – vielleicht in ein, zwei Jahren wieder, wenn ich bis dahin noch nicht auf dem Land lebe.“
Anja Tiedge arbeitete viele Jahre als Redakteurin für das „manager magazin“ und „Spiegel Online“. Heute schreibt sie als freie Autorin über Gesellschafts-, Reise und Wirtschaftsthemen.
Anja Tiedge arbeitete viele Jahre als Redakteurin für das „manager magazin“ und „Spiegel Online“. Heute schreibt sie als freie Autorin über Gesellschafts-, Reise und Wirtschaftsthemen.
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