MUT ZUM AUFBRUCH
In der Kälte der kommenden Monate stellt sich auch die Frage, welche Antworten der Liberalismus uns heute noch geben kann.
TEXT: WOLFRAM EILENBERGER
ILLUSTRATIONEN: ANDREA UCINI
MUT ZUM AUFBRUCH
In der Kälte der kommenden Monate stellt sich auch die Frage, welche Antworten der Liberalismus uns heute noch geben kann.
TEXT: WOLFRAM EILENBERGER
ILLUSTRATIONEN: ANDREA UCINI
Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie?“, hielt Friedrich Nietzsche einst fest. Im Sinn hatte er nicht die Aussicht auf 18 Grad Raumtemperatur, verdoppelte Lebensmittelkosten und vervierfachte Gaspreise, die uns heute umtreibt. Es war vielmehr ein allzu schaler und letztlich freiheitsfeindlicher Utilitarismus, demgemäß es in Moral wie Politik schlicht darum geht, einer möglichst großen Anzahl von Erdenbürgern ein möglichst hohes Ausmaß an Glücksempfinden zu ermöglichen. Gerade in der Krise, so Nietzsches Einsicht, besteht die wichtigste Motivationsressource nicht in einer abstrakt bestimmten Verteilungsgerechtigkeit, sondern in einem individuell zu formulierenden Horizont dessen, was es heißt, ein sinnerfülltes, selbstbestimmtes Leben zu führen.
Heikles Durchhalten
Die Relevanz von Nietzsches Diktum für den heute nahenden Winter der Unzufriedenheit ist offensichtlich. Die Frage, wofür es sich zu leben lohnt, wird in Zeiten höchster Anspannung gleichbedeutend mit der Frage, wofür es sich zu verzichten oder gar zu kämpfen lohnt. Und genauso, wie kein Zweifel besteht, dass der russische Angriffskrieg auf die Ukraine den liberalen Demokratien Europas in den kommenden Monaten ein Verzichtsregiment abverlangt, wie sie es mindestens seit einem halben Jahrhundert nicht durchlebt haben, so sicher darf man sein, dass eine allzu abstrakte Prinzipien- oder Pflichtrhetorik („Verteidigung von Werten“, „moralische Pflicht zur Solidarität“) erst ins Leere und bald in einen explosiven Überdruss leiten wird.
Wer sich vor Augen führen will, wie heikel die anstehende Phase des Durchhaltens sein wird, könnte auf ein Denkbild von Nietzsches geistigem Erzieher Arthur Schopenhauer zurückgreifen. Schopenhauer beschrieb parabelhaft eine Gesellschaft von Stachelschweinen, die sich „an einem kalten Wintertage recht nah zusammendrängt, um sich durch die gegenseitige Wärme vor dem Erfrieren zu schützen. Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln, welches sie dann wieder voneinander entfernte. Wann nun das Bedürfnis der Erwärmung sie wieder näher zusammenbrachte, wiederholte sich jenes zweite Übel, so daß sie zwischen beiden Leiden hin und her geworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten.“
Es liegt im Wesen offener Gesellschaften, den Bürgerinnen und Bürgern anderes als nur die Perspektive des reinen Überlebens in Aussicht zu stellen.
Präziser ließen sich Zumutungen des anstehenden Winters kaum fassen. Wobei Schopenhauers Ansprache der Stachelschweine als „Gesellschaft“ neben rein privaten auch explizit die politisch-moralischen Aspekte des Dilemmas betont: Die eigene Lebensenergie soll durchaus zum Schutze anderer zum Einsatz gebracht werden, doch müssen dem Willen zur Rottenbildung im klaren Bewusstsein so entstehender, kaum mehr zu heilender Wunden auch klare Grenzen gesetzt bleiben.
In westlichen Demokratien gibt es politische Kräfte und Regierungen, denen ein staatlich verordnetes Abstandsregime im Sinne der Schopenhauer'schen Rotte als hygienisch-energetische Ideallösung der Zukunft vorschwebt. Mutmaßlich streng wissenschaftlich legitimiert, soll ein zentrales Regime mit dem Ziel installiert werden, einer möglichst großen Anzahl von aktuellen wie auch künftigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine möglichst gesunde, nachhaltige und also energieeffiziente Lebens-, präziser: Überlebensweise zu ermöglichen. Und zwar unter Umständen auch gegen deren ausdrücklichen individuellen Willen, wenn nötig, auch unter weitreichender Aushebelung liberale Gesellschaften eigentlich leitender Grundrechte und Marktprinzipien. Diese tief utilitaristische, illiberale Idee ist es, welche die Erfahrungen der vergangenen beiden Corona-Winter mit dem anstehenden Winter verordneter Energiedrosselung dystopisch verbindet.
Narrativ des Liberalismus
Es bleibt fraglich, ob solch ein auf Dauer gestelltes Krisennarrativ des „Überwinterns im Kollektiv“ moderne Demokratien zu tragen vermag. Niemand verzichtet freiwillig auf etwas, sofern alles, was dafür in Aussicht gestellt wird, die fremdgesteuerte Perpetuierung ebendieses Verzichts ist. Aber das Problem ist nicht nur die Umsetzbarkeit. Im Gegensatz zu totalitären Systemen liegt es im Wesen offener Gesellschaften, den Bürgerinnen und Bürgern anderes als nur die Perspektive des reinen Überlebens in Aussicht zu stellen. Ihr leitendes „Warum?“ lautet niemals nur: kollektiv überleben. Sondern mehr noch: möglichst selbstbestimmt gut und perspektivisch besser leben!
Dass James Watt die Dampfmaschine in ebenjenem Jahrzehnt patentieren ließ, in dem Immanuel Kant seine Philosophie kritischer Selbstaufklärung für mündige Subjekte zur Reife führte, ist aus dieser Perspektive weit mehr als nur eine historische Koinzidenz. In den freien Gesellschaften des Westens war und ist Mobilität das eigentliche Zeichen von Mündigkeit, und Energiesouveränität ist die eigentliche Bedingung der Möglichkeit freier Selbstentfaltung.
Es ist unklar, wie ein liberales Leitnarrativ im Zeichen einer mutmaßlich alternativlosen fortwährenden Energie- und Mobilitätsdrosselung künftig aussehen wird oder wie es demokratisch umsetzbar sein sollte. Die derzeit vorgeschlagenen Erzählungen, allesamt vom Prinzip „Weniger ist mehr“ getragen, wirken wie ein Pfeifen im Walde. Zudem laufen sie alle auf eine schleichende Beschneidung individueller Wahlfreiheiten hinaus.
So gesehen steht der kommende „Winter der Stachelschweine“ nur exemplarisch für den weitaus längeren und politisch gefährlicheren Winter eines aufgeklärten Liberalismus. Es ist eine Perspektive, die frösteln lässt. Der Philosoph John Stuart Mill hielt einst dem strengen Kollektivutilitarismus seiner britischen Denkgenossen entgegen, fremdverfügte Wohligkeit stelle einen selbst denkenden Menschen niemals wirklich zufrieden: „Lieber ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedenes Schwein.“ Um es also in einer der Gegenwart angepassten Variation zu sagen: „Lieber ein bibbernder Sokrates als ein staatlich wohltemperiertes Stachelschwein.“
Präziser ließen sich Zumutungen des anstehenden Winters kaum fassen. Wobei Schopenhauers Ansprache der Stachelschweine als „Gesellschaft“ neben rein privaten auch explizit die politisch-moralischen Aspekte des Dilemmas betont: Die eigene Lebensenergie soll durchaus zum Schutze anderer zum Einsatz gebracht werden, doch müssen dem Willen zur Rottenbildung im klaren Bewusstsein so entstehender, kaum mehr zu heilender Wunden auch klare Grenzen gesetzt bleiben.
In westlichen Demokratien gibt es politische Kräfte und Regierungen, denen ein staatlich verordnetes Abstandsregime im Sinne der Schopenhauer'schen Rotte als hygienisch-energetische Ideallösung der Zukunft vorschwebt. Mutmaßlich streng wissenschaftlich legitimiert, soll ein zentrales Regime mit dem Ziel installiert werden, einer möglichst großen Anzahl von aktuellen wie auch künftigen Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine möglichst gesunde, nachhaltige und also energieeffiziente Lebens-, präziser: Überlebensweise zu ermöglichen. Und zwar unter Umständen auch gegen deren ausdrücklichen individuellen Willen, wenn nötig, auch unter weitreichender Aushebelung liberale Gesellschaften eigentlich leitender Grundrechte und Marktprinzipien. Diese tief utilitaristische, illiberale Idee ist es, welche die Erfahrungen der vergangenen beiden Corona-Winter mit dem anstehenden Winter verordneter Energiedrosselung dystopisch verbindet.
Narrativ des Liberalismus
Es bleibt fraglich, ob solch ein auf Dauer gestelltes Krisennarrativ des „Überwinterns im Kollektiv“ moderne Demokratien zu tragen vermag. Niemand verzichtet freiwillig auf etwas, sofern alles, was dafür in Aussicht gestellt wird, die fremdgesteuerte Perpetuierung ebendieses Verzichts ist. Aber das Problem ist nicht nur die Umsetzbarkeit. Im Gegensatz zu totalitären Systemen liegt es im Wesen offener Gesellschaften, den Bürgerinnen und Bürgern anderes als nur die Perspektive des reinen Überlebens in Aussicht zu stellen. Ihr leitendes „Warum?“ lautet niemals nur: kollektiv überleben. Sondern mehr noch: möglichst selbstbestimmt gut und perspektivisch besser leben!
Dass James Watt die Dampfmaschine in ebenjenem Jahrzehnt patentieren ließ, in dem Immanuel Kant seine Philosophie kritischer Selbstaufklärung für mündige Subjekte zur Reife führte, ist aus dieser Perspektive weit mehr als nur eine historische Koinzidenz. In den freien Gesellschaften des Westens war und ist Mobilität das eigentliche Zeichen von Mündigkeit, und Energiesouveränität ist die eigentliche Bedingung der Möglichkeit freier Selbstentfaltung.
Es ist unklar, wie ein liberales Leitnarrativ im Zeichen einer mutmaßlich alternativlosen fortwährenden Energie- und Mobilitätsdrosselung künftig aussehen wird oder wie es demokratisch umsetzbar sein sollte. Die derzeit vorgeschlagenen Erzählungen, allesamt vom Prinzip „Weniger ist mehr“ getragen, wirken wie ein Pfeifen im Walde. Zudem laufen sie alle auf eine schleichende Beschneidung individueller Wahlfreiheiten hinaus.
So gesehen steht der kommende „Winter der Stachelschweine“ nur exemplarisch für den weitaus längeren und politisch gefährlicheren Winter eines aufgeklärten Liberalismus. Es ist eine Perspektive, die frösteln lässt. Der Philosoph John Stuart Mill hielt einst dem strengen Kollektivutilitarismus seiner britischen Denkgenossen entgegen, fremdverfügte Wohligkeit stelle einen selbst denkenden Menschen niemals wirklich zufrieden: „Lieber ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedenes Schwein.“ Um es also in einer der Gegenwart angepassten Variation zu sagen: „Lieber ein bibbernder Sokrates als ein staatlich wohltemperiertes Stachelschwein.“
Wolfram Eilenberger ist ein mehrfach ausgezeichneter deutscher Schriftsteller, Philosoph und Publizist. Er lebt in Freiburg i. Br.
Wolfram Eilenberger ist ein mehrfach ausgezeichneter deutscher Schriftsteller, Philosoph und Publizist. Er lebt in Freiburg i. Br.
Die Schriftstellerin und Trägerin des Friedenspreises steht in ihrer Heimat Simbabwe vor Gericht.
Die Ukraine kämpft nicht nur für sich, sondern auch für die Friedensordnung in Europa.
„Runaway world“: So bezeichnet Ralf Dahrendorf die Welt in Zeiten der Globalisierung in einem Büchlein, das er im Oktober 2002 in London abschloss, vor genau 20 Jahren.