IM KONTEXT

Der Konflikt als Normalität

„Runaway world“: So bezeichnet Ralf Dahrendorf die Welt in Zeiten der Globalisierung in einem Büchlein, das er im Oktober 2002 in London abschloss, vor genau 20 Jahren.

TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ


IM KONTEXT

Der Konflikt als Normalität

„Runaway world“: So bezeichnet Ralf Dahrendorf die Welt in Zeiten der Globalisierung in einem Büchlein, das er im Oktober 2002 in London abschloss, vor genau 20 Jahren.

TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ

Es lohnt sich, dieses kleine Werk heute wieder zur Hand zu nehmen. Es enthält sechs Vorlesungen, die Ralf Dahrendorf auf Einladung der Krupp-Stiftung in Essen gehalten hatte, rund um die Jahreswende 2001/2, gerade einmal ein Vierteljahr nach dem islamistischen Anschlag auf das New Yorker World Trade Center, Symbol des globalen Kapitalismus. „Runaway world“ ist ein Begriff von Anthony Giddens. Dahrendorf übersetzt ihn als „haltlose“ oder „entfesselte Welt“. Es ist ein Zustand, der nach Ordnung ruft, und Dahrendorf versucht eine solche Ordnung im Ansatz zu skizzieren.

Seine Grundposition ist dabei die eines skeptischen Liberalen, der trotz allem Optimist bleibt. Er sieht in der Entwicklung des globalen Kapitalismus ungeheure Chancen der Freiheit und des Wohlstands. Zugleich macht er sich aber keine Illusionen, dass der materielle Fortschritt die Menschen einem Zustand des Glücks näherbringt – obwohl er nach objektiven Kriterien wie Gesundheit und Lebenserwartung das Schicksal eines Großteils der Weltbevölkerung verbessert. Den zusätzlichen Optionen des Lebens steht aber die zunehmende Auflösung von Bindungen („Ligaturen“) der Menschen gegenüber, und dies intensiviert die Konflikte in der Gesellschaft. Eine reife demokratische Gesellschaft muss diese Konflikte argumentativ austragen und emotional aushalten. Der politische Streit ist dabei alles andere als herrschaftsfrei, wie Dahrendorf der allzu träumerischen Diskursethik eines Jürgen Habermas entgegenhält.

Dahrendorf betrachtet überhaupt – Kant und nicht Rousseau folgend – den Konflikt, die „Antagonismen menschlicher Anlagen in der Gesellschaft, ja die ‚ungesellige Geselligkeit‘ der Menschen“ als Quelle des Fortschritts. Er bekennt sich damit zur stets vorhandenen Unvollkommenheit der Zustände, die nach immer neuen Anläufen der Ordnungsversuche verlangt. Auch die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung gehört dazu: oft beklagenswert, aber durchaus in der Natur menschlicher Anlagen und Unterschiede begründet. Ähnlich illusionslos sieht er den merkwürdig unvollkommenen Zustand der Europäischen Union – irgendwo im Niemandsland zwischen technokratischer Macht der Kommission und demokratischen Emanzipationsversuchen des Europäischen Parlaments.

Konflikte sind Quellen des Fortschritts.

„Auf der Suche nach einer neuen Ordnung“ von Ralf Dahrendorf. C.H. Beck Verlag (2003), 147 Seiten, 14,90 EUR

Deutlich spürbar ist das geistige Erbe von Karl Popper, den Dahrendorf – zusammen mit Kant – am häufigsten zustimmend zitiert. Kritischer Rationalismus, gepaart mit „piecemeal engineering“, jederzeit bereit zur Korrektur unhaltbarer Weichenstellungen: Das ist der Kern von Dahrendorfs Philosophie.

Liegt er damit falsch oder richtig? Fast zwei Jahrzehnte nach Erscheinen dieses wunderbaren Büchleins – nach Weltfinanzkrise 2007/8 und Europäischer Schuldenkrise 2010/11, nach Flüchtlingskrise 2015 und Corona-Krise 2020ff sowie nach dem Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukraine – ist man geneigt auszurufen: Ja, er hat recht. Zu oft sind große Entwürfe der Globalisierung gescheitert. Zu radikal ist vor allem die Wiederkehr der Geopolitik nach Putins brachialem Bruch des Völkerrechts, der eine „Zeitenwende“ einleitete – von kaum jemandem im Westen in dieser Form vorhergesagt.

Auch in dieser Hinsicht hat allerdings Ralf Dahrendorf in seinem Büchlein vor bald -20 Jahren Wegweisendes gesagt. Er beschwor die gemein-samen „westlichen“, aber universalen Werte Amerikas und Europas. Und er warnte davor, mit der EU eine Art Gegenmacht zu den USA aufzubauen. In der Auseinandersetzung mit Putins Russland wirken die Worte fast prophetisch.

Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er ist Volkswirt mit einem Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft. Die weltwirtschaftliche Entwicklung beschäftigt ihn seit seinem Studium in den Siebzigerjahren. Bereits vor zehn Jahren schrieb er ein Buch über die Folgen des demographischen Wandels: „Vollbeschäftigt, das neue deutsche Jobwunder“.

Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er ist Volkswirt mit einem Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft. Die weltwirtschaftliche Entwicklung beschäftigt ihn seit seinem Studium in den Siebzigerjahren. Bereits vor zehn Jahren schrieb er ein Buch über die Folgen des demographischen Wandels: „Vollbeschäftigt, das neue deutsche Jobwunder“.

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