MUT ZUM AUFBRUCH

Schneller rudern reicht nicht

Deutschlands Arbeitsmarkt ist nicht fit für die Zukunft. Er braucht mehr Agilität und grundlegende Reformen.

TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ
ILLUSTRATIONEN: ANDREA UCINI

MUT ZUM AUFBRUCH

Schneller rudern reicht nicht

Deutschlands Arbeitsmarkt ist nicht fit für die Zukunft. Er braucht mehr Agilität und grundlegende Reformen.

TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ
ILLUSTRATIONEN: ANDREA UCINI

Kein Zweifel, Deutschland steht vor gewaltigen Herausforderungen. Der Staat soll die Landesverteidigung massiv verbessern, die Infrastruktur rundum erneuern, die Digitalisierung konsequent vorantreiben, die Schulen besser ausstatten. Die Energieversorgung soll sich radikal verändern: von Gas, Kohle und Öl zu Sonne, Wind und Biomasse. Die Industrie soll sich ökologisch transformieren: vom Verbrennungs- zum Elektromotor und von fossilen zu synthetischen Kraftstoffen, vom abfallträchtigen Plastik zu abbaubaren Naturstoffen, von der Einweg- zur Kreislaufökonomie. Der öffentliche Nah- und Fernverkehr soll endlich attraktiv werden durch einen Ausbau von Schienennetz und Servicedichte. Und natürlich soll die Gesundheitsversorgung erhalten bleiben, und zwar nicht nur in den dicht bevölkerten Ballungszentren, sondern auch in den entlegenen Räumen des Landes.

Das verlangt ein riesiges Programm der Modernisierung. Es ist das Ergebnis von fast zwei Jahrzehnten, den „Merkel-Jahren“, in denen Deutschland von der Substanz lebte – und dies lange noch ganz gut. Jetzt aber kommt die Quittung. Seit der frühen Nachkriegszeit vor rund 70 Jahren ist der aufgestaute Gestaltungs- und Reformbedarf für Staat, Wirtschaft und Gesellschaft niemals größer gewesen. Die zentrale Frage dabei lautet: Wer soll dies alles leisten? Alle reden derzeit von der Knappheit von Gas – und in der Tat ist die Versorgung mit Energie durch Putins Krieg gegen die Ukraine zum überragenden aktuellen Problem geworden. Aber auf mittlere und längere Sicht gibt es einen viel grundlegenderen Engpass: Es fehlt an Arbeitskräften.

Damoklesschwert der Demografie

Wer mit offenen Augen durch die Straßen geht, kann dies heute schon erkennen. Überall werden Arbeitsplätze annonciert: Auf Lastwagen liest man „Fahrer gesucht“, Gaststätten werben um Hilfskräfte, Handwerksbetriebe um Azubis, Krankenhäuser und Altenheime um Pflegekräfte, Kindertagesstätten um Kinderbetreuerinnen und Kinderbetreuer. Ganz zu schweigen von der händeringenden Suche der Industrie nach technischem Fachpersonal, das überhaupt erst in der Lage ist, die Digitalisierung in die Praxis umzusetzen; ganz zu schweigen auch vom Lehrermangel in den Schulen, der immer mehr zum Normalzustand wird, nicht nur im ländlichen Raum, sondern auch in den Städten.

Alle reden von der Knappheit von Gas. Aber auf mittlere und längere Sicht gibt es einen viel grundlegenderen Engpass: Es fehlt an Arbeitskräften.

Tatsächlich gibt es in Deutschland nach jüngsten Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) etwa 2 Millionen offene Stellen – bei rund 45 Millionen Erwerbstätigen. Erstmals seit Jahrzehnten hat damit die Zahl der offenen Stellen in etwa die der Arbeitslosen erreicht. Und sie wird diese bald weit übertreffen, denn die deutsche Gesellschaft wird in den kommenden Jahren Schritt für Schritt schrumpfen, was die Zahl der Erwerbspersonen betrifft. Die große Kohorte der Generation der Baby-Boomer – geboren zwischen 1955 und 1970 – scheidet aus dem Arbeitsmarkt aus. Sie wird durch die viel kleinere Generation derjenigen ersetzt, die nach der Jahrtausendwende zur Welt kamen. Die Schrumpfung bewegt sich in der Dimension von – netto – etwa fünf bis zehn Millionen Menschen bis 2040, je nachdem, welche mehr oder weniger realistischen Annahmen man über die Veränderung der Zuwanderung und/oder der Erwerbsbeteiligung macht. Damit geht eine beträchtliche Alterung der verbleibenden Erwerbspersonen einher.

Tatsächlich gibt es in Deutschland nach jüngsten Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) etwa 2 Millionen offene Stellen – bei rund 45 Millionen Erwerbstätigen. Erstmals seit Jahrzehnten hat damit die Zahl der offenen Stellen in etwa die der Arbeitslosen erreicht. Und sie wird diese bald weit übertreffen, denn die deutsche Gesellschaft wird in den kommenden Jahren Schritt für Schritt schrumpfen, was die Zahl der Erwerbspersonen betrifft. Die große Kohorte der Generation der Baby-Boomer – geboren zwischen 1955 und 1970 – scheidet aus dem Arbeitsmarkt aus. Sie wird durch die viel kleinere Generation derjenigen ersetzt, die nach der Jahrtausendwende zur Welt kamen. Die Schrumpfung bewegt sich in der Dimension von – netto – etwa fünf bis zehn Millionen Menschen bis 2040, je nachdem, welche mehr oder weniger realistischen Annahmen man über die Veränderung der Zuwanderung und/oder der Erwerbsbeteiligung macht. Damit geht eine beträchtliche Alterung der verbleibenden Erwerbspersonen einher.

Dies hat weitreichende Folgen. Vor allem: Die extreme Knappheit an Arbeitskräften wird zum normalen Fieberzustand der deutschen Wirtschaft, ähnlich wie in Westdeutschland in den Sechzigerjahren – allerdings mit dem Unterschied, dass damals Milderung in Sicht war, weil wenige Jahre später die jungen, gut ausgebildeten Baby-Boomer auf den Arbeitsmarkt strömen würden. So kam es ja auch. Nichts dergleichen an Entlastung ist heute am Zeithorizont zu erkennen. Es droht eine Welt des permanenten inflationären Drucks – mit Preis- und Lohnspiralen weit über die Steigerung der Energiepreise hinaus. Und es droht eine Innovationsschwäche, denn ältere Arbeitskräfte haben weniger neue Ideen als jüngere.

Wir brauchen einen agilen Arbeitsmarkt

Was ist heute zu tun, um diesen Gefahren entgegenzuwirken? In der Theorie ist die Antwort einfach: Politik und Wirtschaft müssen alles tun, um die zunehmende Knappheit an Arbeitskräften dynamisch abzufedern. Es braucht eben einen agilen Arbeitsmarkt, der trotz der neuen Knappheiten die Elastizität der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung aufrechterhält. Das ist eine große Aufgabe.

Bei ihrer Lösung können zwei Umstände hilfreich sein: Zum einen wird sich der Prozess der weiteren Verknappung über zwei Jahrzehnte hinziehen, ist also relativ gut vorhersehbar. Es gibt daher die Möglichkeit, sich Schritt für Schritt darauf einzustellen. Zum anderen wird es einen ganz natürlichen, marktgetriebenen Trend zu steigenden Reallöhnen und besseren Arbeitsbedingungen geben, bedingt durch den Anreiz für die Wirtschaft, die hoch begehrten Arbeitskräfte zu umwerben, und zwar selbst jene, die keine besonders gute Qualifikation mitbringen. Motivation und Mobilisierung könnten dabei ihre Wirkung tun – durch Einsatz neuer digitaler Technologien, Angebote der Weiterbildung und Modernisierung des Arbeitsumfelds.

Die Arbeitnehmer sind im Vorteil

Für die Erwerbstätigen selbst birgt dies riesige Chancen: Sie werden am Markt so begehrt sein, dass sich, ganz anders als in den zurückliegenden Jahrzehnten, ihre Verhandlungsposition maßgeblich verbessert. Das langjährige Übergewicht von Kapital- gegenüber Arbeitnehmerinteressen wird sich umdrehen: Individuelle Arbeitnehmer, aber auch Gewerkschaften werden ihre Vorstellungen von einer neuen Work/Life-Balance durchsetzen können – allerdings wohl stärker in Richtung „Work“ als „Life“, weil die Arbeitgeber ihre Angebote so gestalten werden, dass für die Arbeitnehmer ein großer Anreiz zur Mehrarbeit besteht. Wenn alle Beteiligten klug und marktgerecht handeln, könnte dies auch das Ende der langjährig beklagten, schlecht bezahlten prekären Beschäftigung einläuten – und ebenso das Auslaufen von manchen Modellen der Teilzeit, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu anderen Zeiten nicht immer ganz freiwillig akzeptiert haben.

Für Staat und Wirtschaft wird die Lage natürlich schwieriger. Dort ist ein komplett neues „Mindset“ nötig. Vorbei ist die Zeit eines überheblichen Selbstbewusstseins der Auftraggeber, in der für jedes Projekt die benötigten Arbeitskräfte in ausreichender Zahl und Qualität mehr oder weniger automatisch bereitstanden. Es bedarf deshalb überall einer klugen Planung und Priorisierung. Dies trifft vor allem den öffentlichen Bereich, der schon heute mit gesellschaftlich bedeutsamen Aufgaben überfrachtet ist. Politisch gilt es fortan, nicht nur vollmundig ambitionierte Ziele und Termine der Transformation auszurufen, sondern eben auch den Weg dahin realistisch aufzuzeichnen, mit Blick auf die Motivation und Mobilisierung der Menschen, die zum Einsatz kommen.

Elemente eines Masterplans

Dessen überragendes Ziel: die Elastizität der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft zu erhöhen, um den Engpässen am Arbeitsmarkt zu begegnen. Das Instrument: eine neue Angebotspolitik, die alles ermöglicht, was einen agilen Arbeitsmarkt befördert. Damit verknüpfen sich sieben Imperative:

1.

Mehr Zuwanderung ermöglichen!

Der direkteste Weg zum Ziel ist die Zuwanderung, passgenau zu den drängendsten Engpässen am Arbeitsmarkt. Hier braucht es dringend ein umfassendes Einwanderungsgesetz, das vor allem die qualifizierte Immigration aus nicht-europäischen Ländern erleichtert.

2.

Arbeitszeiten flexibler gestalten!

Viel zu starr sind die Arbeitszeiten in Deutschland. Wochenarbeitszeiten über 40 Stunden sollten erleichtert werden, ebenso wie ein späterer Ruhestand – jeweils als Teil von flexiblen tarifvertraglichen Vereinbarungen mit attraktiver Entlohnung sowie digitalen Home-Office-Optionen.

3.

Frauen besser fördern!

Die Erwerbsbeteiligung von Frauen sollte zunehmen, zumal sie im internationalen OECD-Vergleich noch immer relativ niedrig ist. Teilzeit könnte schrittweise wieder zu (variabler) Vollzeit anwachsen. Auch die Wahl technischer Berufe muss für junge Frauen attraktiver gemacht werden.

4.

Digitalisierung durchsetzen!

Routinearbeit sollte weitestmöglich durch digitale Technik ersetzt werden, auch durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz. Wo es möglich ist, muss sich der Mensch auf seine Kernkompetenzen konzentrieren können, unter anderem als steuernde Instanz von Computern und Robotern.

5.

Bürokratie abbauen!

Verzichtbare administrative Tätigkeit sollte verschwinden. Berichts- und Dokumentationspflichten sollten auf das unumgängliche Minimum beschränkt werden. Und dieses sollte weitgehend durch digitalisierte Routineprozesse zu erledigen sein.

6.

Innovationskraft stärken!

In Staat und Wirtschaft sollten Teams so zusammengesetzt sein, dass die Fähigkeiten der Menschen bestmöglich komplementär genutzt werden. Dies gilt vor allem für die Arbeitsteilung von (originellen) jungen Menschen und (erfahrenen) Älteren – zum Nutzen der Innovationskraft.

7.

Arbeitslosigkeit abbauen!

Noch immer sind mehr als zwei Millionen Erwerbspersonen in Deutschland arbeitslos, trotz der Masse offener Stellen. Sie sollten in den Arbeitsmarkt integriert werden, und zwar durch eine Reform von ALG II („Hartz IV“) zum sogenannten Bürgergeld, die verstärkte Anreize zur Arbeitsaufnahme setzt.

Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er ist Volkswirt mit einem Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft. Die weltwirtschaftliche Entwicklung beschäftigt ihn seit seinem Studium in den Siebzigerjahren. Bereits vor zehn Jahren schrieb er ein Buch über die Folgen des demographischen Wandels: „Vollbeschäftigt, das neue deutsche Jobwunder“.

Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er ist Volkswirt mit einem Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft. Die weltwirtschaftliche Entwicklung beschäftigt ihn seit seinem Studium in den Siebzigerjahren. Bereits vor zehn Jahren schrieb er ein Buch über die Folgen des demographischen Wandels: „Vollbeschäftigt, das neue deutsche Jobwunder“.

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