Vor Ort

Clevere Politik
in einem
privatisierten Krieg

Russlands Wirtschaft ist erstaunlich widerstandsfähig. Den Krieg in der Ukraine kann das Land noch Jahre finanzieren, zahlt dafür aber einen hohen Preis: eine immer größere Abhängigkeit von China und eine zunehmende Deindustrialisierung.

Text: Wladislaw Inosemzev

Ein Geschäft in China: Das Land profitiert vom Krieg Russlands gegen die Ukraine. Russen kaufen hier Lebensmittel und Stalin-Devotionalien.

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Clevere Politik
in einem
privatisierten Krieg

Russlands Wirtschaft ist erstaunlich widerstandsfähig. Den Krieg in der Ukraine kann das Land noch Jahre finanzieren, zahlt dafür aber einen hohen Preis: eine immer größere Abhängigkeit von China und eine zunehmende Deindustrialisierung.

Text: Wladislaw Inosemzev


Ein Geschäft in China: Das Land profitiert vom Krieg Russlands gegen die Ukraine. Russen kaufen hier Lebensmittel und Stalin-Devotionalien.

Zwei Jahre nach dem Überfall auf die Ukraine steht die Russische Föderation, das nun mit Abstand am stärksten sanktionierte Land der Welt, wirtschaftlich recht gut da. Das BIP im Jahr 2023 übertrifft das Vorkriegsniveau, das Haushaltsdefizit bleibt gering, und die real verfügbaren Einkommen der Menschen stiegen 2023 um 5,4 Prozent und damit so schnell wie seit einem Jahrzehnt nicht mehr. Natürlich haben die westlichen Sanktionen die russischen Energieexporte eingeschränkt. Doch die Durchschnittsrussen haben nur einen geringfügigen Rückgang ihres Wohlstands erfahren und spüren keine tiefe Krise. Der Mangel an westlich produzierten Waren und Dienstleistungen betrifft vor allem die obere Mittelschicht in den Großstädten. Die Bedürftigen hat der Kreml mit steigenden Sozialleistungen und einer Anhebung des Mindestlohns um 18,5  Prozent ab dem 1. Januar 2024 erfreut.

Sollte man daher heute von einer „russischen Kriegswirtschaft“ sprechen, die von der Rüstungsindustrie beherrscht wird und allein der Logik des Krieges unterworfen ist? Ich sehe das aus mehreren Gründen nicht so.

Erstens sind die Militärausgaben insgesamt zwar hoch, aber keineswegs außergewöhnlich. 2024 haben sie einen Anteil von 6,5 Prozent am BIP erreicht, den höchsten Stand seit dem Ende der Sowjetunion. Die russische Wirtschaft kann diese Ausgaben durch steigende Staatsverschuldung mindestens noch zehn Jahre lang finanzieren. Die in die Wirtschaft fließenden Haushaltsmittel führen zu einer zusätzlichen Nachfrage, die die Unternehmen im ganzen Land belebt.

Zweitens muss man sich darüber im Klaren sein, dass die in den 1990er-Jahren eingeleiteten westlich inspirierten liberalen Reformen der entscheidende Faktor für die Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft sind. Die meisten westlichen Analysten stellen die russische Wirtschaft als staatlich kontrolliert dar und verweisen auf die laufende Verstaatlichung vieler großer Unternehmen. Aber der Staat kontrolliert nur die Megakonzerne in den Bereichen Energieerzeugung, Militärindustrie, Verkehr und Finanzen. Selbst diese sind jedoch in die Marktwirtschaft integriert und funktionieren nach der Logik des Marktes.

Die übrigen Unternehmen sind privat, und ihre Eigentümer haben ihr Bestes getan, um sie in der einsetzenden Krise zu retten. Durch genehmigte sogenannte Parallelimporte kamen 2022 Waren für mehr als 20 Milliarden Dollar nach Russland. Das Angebot an Grundnahrungsmitteln war im August 2022, weniger als ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn, wiederhergestellt. Die Moskauer Einzelhändler stellten das iPhone 15 am selben Tag aus, an dem es in den USA auf den Markt kam. Auch trug die Isolierung Russlands dazu bei, dass Tourismus und Gastronomie im Inland genauso boomen wie die Reparatur westlicher Autos, Geräte und Hightech-Produkte.

Vorzeitiges Ende der Lehre

Drittens vermied der Kreml die massive Einberufung, die den Krieg bei der einfachen Bevölkerung unpopulär machen würde. Vielmehr erhöhte der Kreml den Sold der Soldaten: Betrug er im Durchschnitt Mitte 2022 noch 40 000 bis 50 000 Rubel monatlich, so stieg er bis zum Jahresende auf über 200 000 Rubel, wobei sogar bis zu 500 000 Rubel ausgezahlt wurden.

Selbst die staatlichen Betriebe Russlands sind in die Marktwirtschaft integriert.
Wladislaw Inosemzew

Wenn ein Soldat im Kampf getötet wird, liegt das Sterbegeld bei fünf Millionen Rubel, die speziell für die Teilnehmer am ukrainischen Krieg seit März 2022 zusätzlich zu den regulären drei  Millionen Rubel gezahlt werden. Kombiniert mit Versicherungszahlungen und Zuschlägen aus der Heimatregion eines Soldaten kann sich das Sterbegeld auf bis zu 12 Millionen Rubel belaufen – umgerechnet fast 120 000  Euro. Dieser Betrag übersteigt bei Weitem das, was ein 35-jähriger Mann in einer durchschnittlichen russischen Provinz bis zu seinem 60. Lebensjahr verdienen kann.

Doch wer über Russlands Kriegswirtschaft spricht, darf zwei weitere wichtige Punkte nicht vergessen.

Zum einen die Sanktionen. Aus meiner Sicht zeigen sie das Versagen des Westens in seiner Russlandpolitik. Zwar haben sie einige russische Branchen beeinträchtigt, zum Beispiel die Autoindustrie und den zivilen Flugzeugbau, nicht aber den russischen Energiesektor. Gleichzeitig haben sie die russische Wirtschaftselite enger an den Kreml gebunden: Deren Auslandsvermögen haben die europäischen Regierungen blockiert, aber Präsident Putin erlaubt ihnen, ihre Geschäfte im Land fortzusetzen. Auch das Risiko der Verstaatlichung wird dabei oft überschätzt. In den vergangenen Monaten wurden nur einige Unternehmen ins Visier genommen, die die Rüstungsindustrie beliefern oder Personen gehören, die dem Regime gegenüber nicht loyal genug sind. Nicht zuletzt sind die Sanktionen gegen Russland der erste Fall von internationalen Sanktionen, bei dem Staaten, die die restriktiven Maßnahmen ergriffen haben, womöglich größere finanzielle Verluste erlitten haben als Russland selbst.

Zum anderen ist der Substitutionseffekt wichtig, ohne den die russische Wirtschaft nicht richtig verstanden werden kann. Damit meine ich den zunehmenden Einfluss Chinas. Der Krieg in der Ukraine hat die russische Wirtschaft gänzlich neu ausgerichtet. Chinas Anteil am russischen Außenhandel stieg von 18,4 Prozent im Jahr 2021 auf 33,8 Prozent im Jahr 2023, bei vielen Produkten ist die Abhängigkeit von Peking unumkehrbar. Zugleich erkannte die russische Finanzwirtschaft den Yuan als einzige vertrauenswürdige Währung an. Sein Anteil am Devisenhandel an der Moskauer Börse stieg von 0,2 Prozent vor dem Krieg auf 48 Prozent Ende 2022.

Stabiles Konstrukt

Die Beziehungen zwischen den beiden Ländern lassen vermuten, dass Russland in den kommenden Jahrzehnten nicht wieder zu einer Industriemacht aufsteigen kann, weil China an Russland nur als Lieferant natürlicher Ressourcen und als Absatzmarkt für die eigenen Produkte interessiert ist, aber nicht als Standort für die Auslagerung von industrieller Fertigung.

Wenn Russland dennoch wie eine Kriegswirtschaft wirkt, dann deshalb, weil die Regierung alles tut, um die Moral der einfachen Russen zu stärken. Es gilt, sich auf den großen Kampf gegen den „kollektiven Westen“ zu konzentrieren.

In der Realität aber sieht die Kriegswirtschaft im Russland des Jahres 2024 eher wie eine gut geführte Wirtschaft aus, die von Privatunternehmen dominiert wird, welche eine Armee aus Söldnern versorgen, die auf fremdem Territorium kämpfen. Dieses Konstrukt wirkt relativ stabil und kann uns noch viele Jahre begleiten. Bis entweder der Krieg in der Ukraine oder Putins irdischer Weg ein Ende gefunden hat.

Wladislaw Inosemzew ist russischer Ökonom und Soziologe. Der Gastkommentator westlicher Medien gilt als großer Kritiker Präsident Putins.

Wladislaw Inosemzew ist russischer Ökonom und Soziologe. Der Gastkommentator westlicher Medien gilt als großer Kritiker Präsident Putins.

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