Deutschland braucht dringend eine neue Angebotspolitik. Die Schuldenbremse muss gewahrt werden. Steuererhöhungen verbieten sich, Steuersenkungen sind nötig. Eine Reform des Sozialstaats ist überfällig.
Text: Karl-Heinz Paqué & Florian Rentsch
Für Freunde der Zahlenmystik: Etwa alle 25 Jahre wird es in Deutschland ernst mit der Frage nach einem radikalen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurswechsel. Zuletzt war dies zur Jahrtausendwende der Fall, als die Nation unter der Last der Arbeitslosigkeit an Dynamik verlor und international zurückfiel. 25 Jahre zuvor, Mitte der Siebzigerjahre, lösten ihn die erste Ölpreiskrise, das Ende des Nachkriegsbooms und die drastische Schrumpfung der Industrie aus. Beide Male zogen sich Reformen über Jahre hin und verursachten empfindliche politische Schmerzen. Aber sie waren erfolgreich.
Heute stehen wir wieder an einem solchen Wendepunkt. Die Reformdividende der Agenda 2010 war schon Mitte der Amtszeit von Angela Merkel aufgebraucht. Der Handlungsbedarf hat sich schon lange aufgebaut, seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist er evident und spaltet die Ampelkoalition. Ihr Indikator ist die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft: Seit der Corona-Krise hinkt Deutschland deutlich hinterher: Für den Zeitraum 2022–2025 beträgt das Wachstum in der Eurozone real insgesamt 7 Prozent, in den USA 7,7 Prozent, in Deutschland dagegen nur 3,5 Prozent. „Is Germany again the sick man of Europe?“, fragte das Magazin „The Economist“ im August vergangenen Jahres. Die Antwort lautet: ja!
Deutschland braucht dringend eine neue Angebotspolitik. Die Schuldenbremse muss gewahrt werden. Steuererhöhungen verbieten sich, Steuersenkungen sind nötig. Eine Reform des Sozialstaats ist überfällig.
Text: Karl-Heinz Paqué & Florian Rentsch
Für Freunde der Zahlenmystik: Etwa alle 25 Jahre wird es in Deutschland ernst mit der Frage nach einem radikalen wirtschafts- und finanzpolitischen Kurswechsel. Zuletzt war dies zur Jahrtausendwende der Fall, als die Nation unter der Last der Arbeitslosigkeit an Dynamik verlor und international zurückfiel. 25 Jahre zuvor, Mitte der Siebzigerjahre, lösten ihn die erste Ölpreiskrise, das Ende des Nachkriegsbooms und die drastische Schrumpfung der Industrie aus. Beide Male zogen sich Reformen über Jahre hin und verursachten empfindliche politische Schmerzen. Aber sie waren erfolgreich.
Heute stehen wir wieder an einem solchen Wendepunkt. Die Reformdividende der Agenda 2010 war schon Mitte der Amtszeit von Angela Merkel aufgebraucht. Der Handlungsbedarf hat sich schon lange aufgebaut, seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist er evident und spaltet die Ampelkoalition. Ihr Indikator ist die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft: Seit der Corona-Krise hinkt Deutschland deutlich hinterher: Für den Zeitraum 2022–2025 beträgt das Wachstum in der Eurozone real insgesamt 7 Prozent, in den USA 7,7 Prozent, in Deutschland dagegen nur 3,5 Prozent. „Is Germany again the sick man of Europe?“, fragte das Magazin „The Economist“ im August vergangenen Jahres. Die Antwort lautet: ja!
Der Arbeitsmarkt und die Preisinflation sprechen dafür, dass es sich tatsächlich um einen neuen säkularen Trend handelt – und nicht um eine konjunkturelle Delle. Es herrscht nämlich eine extreme Knappheit an Arbeitskräften und noch immer eine beachtliche Preisinflation, auch die Löhne steigen kräftig. Die Situation ähnelt der Lage in den späten Siebzigerjahren. Damals sprach man von Stagflation. Erklären lässt sie sich wie damals durch eine Angebotsschwäche der deutschen Wirtschaft, nicht durch einen Mangel an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage.
Allerdings gibt es auch einen deutlichen Unterschied zur Lage vor 50 Jahren: Damals strömten ab etwa 1975 die Babyboomer auf den Arbeitsmarkt; heute beginnt diese Generation den Arbeitsmarkt aus Altersgründen zu verlassen. Die Dimension dieses Aderlasses ist gewaltig: Bis 2040 wird das inländische Potenzial an Erwerbspersonen um rund fünf Millionen Personen abnehmen, darunter viele hoch qualifizierte Ingenieure und Fachkräfte. Wird dieser Engpass nicht beseitigt, werden Arbeitsleistung und Innovationskraft dramatisch schrumpfen – erstmals übrigens in der deutschen Wirtschaftsgeschichte seit der Industrialisierung vor zwei Jahrhunderten. Die Verteilungskonflikte werden sich dann mit der Wachstumsschwäche zuspitzen. Ein düsteres Novum!
Neue Arbeitsmarktpolitik: Motivieren und Mobilisieren
In den Engpässen am Arbeitsmarkt liegt heute die fundamentalste Schwäche der deutschen Wirtschaft. Wird sie nicht behoben oder abgefedert, bleiben alle anderen Maßnahmen Makulatur. Dazu bedarf es drei grundlegender Weichenstellungen, die auf eine tiefgreifende Reform unseres Sozial- und Steuerstaats hinauslaufen:
Die Anreize zur Aufnahme von Arbeit müssen massiv verbessert werden. Trotz eines historischen Hochs der Anzahl der Erwerbstätigen von heute rund 46 Millionen sind noch immer rund 2,8 Millionen Menschen arbeitslos, was einer Quote von etwa 6 Prozent entspricht – und dies bei geschätzt bis zu zwei Millionen offenen Stellen. Stärkere monetäre Anreize, mehr Unterstützung und mehr Druck zur Arbeitsaufnahme sind dringend geboten. Dafür brauchen wir einen grundlegenden Bewusstseinswandel in der Gesellschaft: Mehr Arbeit muss sich lohnen.
Die Arbeitszeit muss flexibler und länger werden. Dies ist auch zu Zeiten einer veränderten Work-Life-Balance der Beschäftigten möglich – nicht zuletzt, weil die Knappheit von Arbeitskräften den Unternehmen alle Anreize gibt, auf die Bedürfnisse der Arbeitnehmer einzugehen. Hier sind vor allem die Tarifparteien gefordert, für zeitgemäße Modelle zu sorgen. Ähnliches gilt für die Erwerbsbeteiligung von Frauen, die weiter unter jener von skandinavischen Ländern liegt. Und schließlich die Lebensarbeitszeit: Das starre Rentenalter in Deutschland muss flexibilisiert werden, sodass jeder Arbeitnehmer im Konsens mit seinem Arbeitgeber im Unternehmen weiterarbeiten kann.
Arbeitsmigranten bereichern den deutschen Arbeitsmarkt.
Die Einwanderung von arbeits- und integrationswilligen Arbeitskräften muss substanziell erhöht werden. Dies setzt eine neue Migrationspolitik voraus: zum einen Eindämmung der unkontrollierten Immigration durch EU-weite Grenzkontrollen und Verschärfung der Asylpraxis einschließlich der Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern; zum anderen Öffnung der Grenzen gegenüber Arbeitsmigranten, die den deutschen Arbeitsmarkt bereichern und eine dauerhafte Bleibeperspektive bis hin zur Staatsbürgerschaft erhalten. Deutschland muss endlich zu einem „klassischen“ Einwanderungsland werden, in dem sich die Zuwanderung nach der inländischen Arbeitsnachfrage richtet.
Mehr Investitionen, weniger Bürokratie
Auf der Angebotsseite erfordert wirtschaftliches Wachstum eine leistungsfähige Infrastruktur, einen hochmodernen Kapitalstock und risikobereite Finanzmärkte. Auch hier gibt es im heutigen Deutschland dramatische Engpässe:
Deutschland verdankt seinen Wohlstand und sein langjähriges Wachstum mittelständischen Unternehmen, die im verarbeitenden Gewerbe die Weltmärkte mit qualitativen Spitzenprodukten beliefern. Damit dies so bleiben kann, muss die Digitalisierung komplett in die industriellen Abläufe integriert werden. Dafür wiederum braucht es massive privatwirtschaftliche Investitionen. Es verbieten sich deshalb Steuererhöhungen, die mittelständische Unternehmen zusätzlich belasten. Geboten sind stattdessen Steuersenkungen.
Deutschland verdankt seinen Wohlstand und sein langjähriges Wachstum mittelständischen Unternehmen, die im verarbeitenden Gewerbe die Weltmärkte mit qualitativen Spitzenprodukten beliefern. Damit dies so bleiben kann, muss die Digitalisierung komplett in die industriellen Abläufe integriert werden. Dafür wiederum braucht es massive privatwirtschaftliche Investitionen. Es verbieten sich deshalb Steuererhöhungen, die mittelständische Unternehmen zusätzlich belasten. Geboten sind stattdessen Steuersenkungen.
Deutschland hat im Vergleich zu den USA, Großbritannien oder Israel einen außerordentlich schwachen Markt für Risikokapital, das für die Innovationskraft im Bereich neuer digitaler Technologien von überragender Bedeutung ist. Hier braucht es maßgebliche Impulse der Steuerpolitik und Deregulierung, um zu verhindern, dass junge innovative Firmen abwandern oder am Wachstum gehindert werden. Zentrale Probleme sind dabei die Bürokratie und die Dauer von Genehmigungsverfahren. Darüber hinaus muss die Aktienkultur in Deutschland gestärkt werden, um Start-ups im Standortwettbewerb die Exit- und Entry-Möglichkeiten zu erleichtern. Dazu ist jüngst mit der Erhöhung des Sparerpauschbetrags auf 1000 Euro ein wichtiger erster Schritt erfolgt. Eine weitere deutliche Erhöhung sollte folgen – zusammen mit einer Wiedereinführung der Spekulationsfrist für den steuerfreien Verkauf von Aktien nach zehn Jahren.
Stabilität mit Schuldenbremse
Deutschland steckt derzeit in einem Teufelskreis: Es gibt einen gewaltigen Bedarf an staatlichen Investitionen, aber ohne Wachstum fehlen die Steuereinnahmen, um diese zu finanzieren. Steuererhöhungen sind kein Ausweg, denn sie verschlechtern die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts. Im Übrigen ist Deutschland längst ein Hochsteuerland – und liegt bei der Steuer- und Abgabenquote EU-weit an zweiter Stelle.
Neue Schulden, also die Preisgabe der Schuldenbremse, sind gleichfalls keine Lösung, denn sie würden die Lasten auf die Schultern künftiger Generationen verschieben.
Reformen von Sozialstaat
Es bleibt daher nur der Weg, die Freiräume für Investitionen im Staatshaushalt durch eine Reform des Sozialstaats zu erweitern. Es ist der Weg, aus Deutschland eine „Große Schweiz“ zu machen. Denn die Schweiz – wie Deutschland mit Schuldenbremse – kann ihren Investitionsbedarf aus dem laufenden Haushalt decken und arbeitet bei großen und teuren staatlichen Projekten weit erfolgreicher. Einer der Schlüssel zur Schweizer Erfolgsbilanz liegt in einem deutlich kleineren Sozialstaat mit einem überaus gut funktionierenden Arbeitsmarkt und wesentlich geringeren Subventionen des Bundes für die Träger der Sozialversicherung – sie machen in Deutschland fast 30 Prozent des Bundeshaushalts aus.
Die Schlussfolgerung ist ökonomisch klar und einfach, aber politisch bitter und schwierig: Deutschland kann nur dann zu nachhaltigem Wachstum zurückkehren, wenn es gelingt, die Arbeitslosigkeit noch weiter deutlich zu senken und unsere Systeme der Sozialversicherung auf kräftigere Füße der Eigenverantwortung zu stellen. Kurzum: Es bedarf einer tiefgreifenden Reform unseres Sozialstaats, die wohl über Jahrzehnte von der Bevölkerung substanzielle Opfer verlangt.
Karl-Heinz Paqué ist Volkswirt, Vorstandsvorsitzender der FNF und Mitglied im Bundespräsidium der FDP. Er war Finanzminister von Sachsen-Anhalt.
Florian Rentsch ist Vorstandsvorsitzender des Verbands der Sparda-Banken sowie Vorstandsmitglied und Schatzmeister der FNF. Er war Wirtschaftsminister von Hessen.
Karl-Heinz Paqué ist Volkswirt, Vorstandsvorsitzender der FNF und Mitglied im Bundespräsidium der FDP. Er war Finanzminister von Sachsen-Anhalt.
Florian Rentsch ist Vorstandsvorsitzender des Verbands der Sparda-Banken sowie Vorstandsmitglied und Schatzmeister der FNF. Er war Wirtschaftsminister von Hessen.
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