Verteidigung Europas

Kant zwischen
den Fronten

Versuch zur Aufklärung eines bedrohten Kontinents

Text: Wolfram Eilenberger

Verteidigung Europas

Kant zwischen
den Fronten

Versuch zur Aufklärung eines bedrohten Kontinents

Text: Wolfram Eilenberger



Zwei Entwicklungen erfüllen das Gemüt mit wachsender Sorge und Furcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: die militärische Bedrohung durch östliche Diktaturen sowie der identitätspolitische Tribalismus inmitten eigener Reihen. In unheimlicher Gleichzeitigkeit bedrohen sie derzeit das Gedeihen, ja den Fortbestand liberaler Demokratien im Herzen Europas – und weltweit. Eine Erhöhung von deren Wehrhaftigkeit tut deshalb dringend not. Endgültig aus ihrem dogmatischen Schlummer vom „Ende der Geschichte“ erwacht, sieht sich selbst die Bundesrepublik Deutschland zu neuer Ertüchtigung eigener Grundlagen verdammt.

Bereits eine entscheidende Form liberaler Kapitulation bedeutete es dabei, diese allein auf dem Feld militärischer sowie wirtschaftlicher Ertüchtigung leisten zu wollen. Als ob gerade grausamste Kriege vorrangig um materielle Ressourcen geführt würden – und nicht etwa um Ideale und Identitäten. Als ob kritische Schwächungen sich zuerst in Bruttosozialprodukt und sinkenden Wehretats ankündigten – und nicht im Bereich leitender Überzeugungen und geteilter Glaubenssätze.

Feinde der Aufklärung

Ein entscheidend erster Schritt zur Klärung und also Stärkung der eigenen Lage bestünde vor diesem Hintergrund in der Erkenntnis, dass beide politisch existenzbedrohenden Entwicklungen der Gegenwart – der diktatorisch-regressive Nationalismus à la Putin sowie die mutmaßliche progressiv-emanzipatorische Identitätspolitik linker Akademiemilieus – dasselbe Feindbild vor Augen haben. Es sind die sowohl moralischen wie rechtlichen Ideale der europäischen Aufklärung. Insbesondere in Form des unbedingten Bekenntnisses zu einem Universalismus menschlicher Würde, handelnder Selbstbestimmung sowie individueller, nicht zuletzt ökonomischer Entwicklungsrechte.

Von keinem lebendigen Geist wurden diese Ideale in ihrer Geltung klarer formuliert und philosophisch tiefer gefestigt als von Immanuel Kant. Von allerlei hehrem Tamtam begleitet, jährt sich der Geburtstag dieses größten aller Aufklärer im Frühling des Jahres 2024 nun zum 300. Mal. Kants Erbe zu ehren, es kann in der eigenen Gegenwart nur heißen, die freiheitliche Lebensform der europäischen Moderne einmal mehr über ihre eigenen, wieder einmal kritisch gefährdeten Grundlagen aufzuklären.

Im Auge des Feindes

Zu den bittersten Ironien unserer philosophisch selbstvergessenen Zeit zählt dabei, dass die erklärten Feinde liberaler Lebensformen den tragenden Wert von Kants Denken weitaus klarer erkennen und benennen als deren Verteidiger. Pünktlich zum Jubiläumsfrühling denunzierte etwa Anton Alichanow als amtierender Gouverneur der russischen Enklave Kaliningrad (einst: Königsberg) den berühmtesten Sohn der Stadt als „geistigen Schöpfer des modernen Westens“ und präzisierte sogleich, es seien Kants „Kritik der reinen Vernunft“ sowie dessen „Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten“, welche „die ethischen und werthaften Grundlagen für den gegenwärtigen Konflikt gelegt“ hätten. Im Sinne hatte der bestellte Putin-Papagei dabei den Abwehrkrieg der Ukraine.

Auch wenn Herrn Alichanows Urteil gewiss von keiner tieferen Textkenntnis belastet war, tat hier Idiotenmund doch Wahrheit kund. Denn in der Tat steht Kants Aufklärung in schärfstem Kontrast zu unseligen Gewaltregimen wie dem Putins, die mit einer nebligen Mischung aus Rassismus, völkischen Reinheitsfantasien und orthodoxen Glaubenslehren die Waffen zum unbedingten Krieg gegen dämonisierte ganz Andere – hier „den Westen“ – schmieden. Es ist absolut wahr: Wer so denkt und handelt, hat Kant zum entschiedenen Feind! Und wird ihn für alle Zeit haben!

In selbstgeheiligtem Namen

Keineswegs kultureller Zufall ist es, dass Kant auch für das Lager sich progressiv gebender Identitätspolitik das eigentliche Feindbild des eigenen Aktivismus darstellt. Im selbstgeheiligten Namen von Antikolonialismus, Antieurozentrismus, Antiphallozentrismus sowie natürlich Antikapitalismus wird das Sein und Wirken des alten weißen Mannes aus Königsberg zum Symbol all dessen, was es unbedingt zu überwinden, wenn nötig auch mit Gewalt vom Podest zu stoßen gilt.

Selbst vor groteskesten Übersprungsschlüssen wird dabei nicht haltgemacht. Ausgehend von der (zutreffenden) Namhaftmachung, auch Kant sei als Geist seiner Zeit gewissen rassistischen Vorurteilen erlegen und habe diese in seinen anthropologischen Vorlesungen referiert, wird dessen gesamte praktische wie theoretische Philosophie – gegen jede belastbare Textevidenz – als todbringende Ursprungsideologie für Kolonialismus, Rassismus und Sklaverei vermittelt. Ja, selbst Kants Bemühen um eine Kritik der „reinen“ Vernunft ist als nicht nur sprachlicher Vorbereiter ethnischer „Säuberungsprogramme“ markiert.

Die Feinde liberaler Lebens-formen erkennen den tragenden Wert von Kants Denken klarer als deren Verteidiger.
Wolfram Eilenberger

Wo Kant’scher Universalismus und Liberalismus war, sollen – im Namen gegenwärtiger Identitätspolitik – fortan Werterelativismus und Kollektivismus regieren. Wo der Mensch als selbstbestimmtes Wesen den Weg zu eigener Stimme und Glück suchen sollte, soll fortan das marginalisierte Opfer als Teil eines einstimmigen Opferkollektivs vorrangiger Adressat eigener Selbstbeschreibung und Gruppenentwicklung sein.

Besagte Identitätsideologie prägt dabei nicht nur weite Teile digital-agitatorischer Publizistik, sondern auch Handeln und Ausrichtung führender Universitäten in den USA wie in Europa. Bliebe entlarvend hinzuzufügen, dass der einzige westliche Ismus, dem man in diesen ideologisch zunehmend geschlossenen Kreisen durchaus nicht unbedingt widerstehen will, der Antisemitismus ist.

Ankunft im Prinzipiellen

Die nur scheinbar widersprüchliche Allianz benannter Aufklärungsfeinde hätte binnen des vergangenen Jahrzehnts indes kaum eine solche Wucht entwickeln können, hätte sich nicht auch das liberale Lager von Kants radikalem Universalismus (um einen Begriff des Philosophen Omri Boehm zu nennen) verabschiedet. Und damit vom eigentlichen Fundament einer kohärent liberalen Haltung. Als Zeitgeistfolge des Kollapses von 1989 vermeinte man auch im Westen – in Theorie wie Praxis –, auf jede Form tieferer Selbstreflexion verzichten zu können. Sprach die sogenannte Wirklichkeit nicht für sich? Hatte das westliche Modell liberaler Demokratien seine funktionale Überlegenheit nicht faktisch bewiesen? Lebensweltlich, wirtschaftlich, kulturell, selbst noch ökologisch?

Philosophisch zeigte sich die Denkfaulheit im Aufstieg des Pragmatismus als eigentlicher liberaler Leitphilosophie der Post-1989-Ära. Gemäß ihr sollte jeder Art von tieferen, insbesondere Zeit und Raum transzendierenden Begründunganstrengungen (wie sie Kants Ambition entsprachen) mit gnädigem Achselzucken begegnet werden. Kants kategorischer Imperativ wurde als eine Faustregel unter anderen relativiert, der philosophisch entscheidende Unterschied zwischen Überreden und Überzeugen ebenso lässlich eingeebnet, wie man in einer nur weiteren Form magischen Denkens erhoffte, der Handel mit global gültigen Wertanlagen werde den Wandel hin zu global gültigen Werturteilen ganz von allein bewirken. Selbst „die Menschheit“ wurde in solchem Zuge zu einer rein biologischen Kategorie verkürzt – und nicht etwa, wie bei Kant, als ein erst noch ins Werk zu setzendes Ideal kultureller Entwicklung begriffen. Pragmatismus ersetzte Metaphysik, ein Opportunismus des geringsten Widerstandes die Vision eines wahrhaft wehrhaften, also nachhaltigen Friedens zwischen den Völkern und Kontinenten. Nimmermehr.

Spätestens im Jahr 2014 mit der Annexion der Krim hätten die auch innereuropäischen Folgen solcher Gesamtbequemlichkeit offenbar werden müssen. Wer glaubt heute noch, allein mit wohlwollendem, gern auch subventionsgestütztem Pragmatismus durch die existenziellen Engen derzeitiger Konstellationen manövrieren zu können? Seien es die im Donbas, im Chinesischen Meer, am Strand von Gaza oder im Golf von Aden? Allesamt heikelste Gebiete mit höchstem Gewalt- und Vergeltungspotenzial, in denen allein ein unbedingtes, eben kantisches Bekenntnis zum Wert eines jeden einzelnen Menschenlebens sowie ein robustes Eintreten für das humanitäre Völkerrecht als liberaler Kompass dienen kann.

Gesetz in uns

Wie dieser Kompass für jeden Einzelnen von uns zu entdecken und gerade in größter Dunkelheit zu aktivieren wäre, auch darüber hat Kant uns in unübertrefflicher Klarheit aufgeklärt. Nämlich in Form einer schlichten Mußeübung in Stunden drohender Furcht und Selbstverlorenheit. Sie ziert bis heute seinen Grabstein in Königsberg: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir.“

Haben Sie nur den Mut, selbst einmal das Experiment solch eines philosophischen Blicks zu wagen. Er mag bis heute, für jedes freie Vernunftwesen, wahre Wunder wirken.

Wolfram Eilenberger ist Philosoph und Autor. Zuletzt erschien von ihm „Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943)“.

Wolfram Eilenberger ist Philosoph und Autor. Zuletzt erschien von ihm „Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten (1933–1943)“.

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