Berliner Rede
Nachdem Michel Friedman die 18. Berliner Rede zur Freiheit gehalten hat, spricht der Jurist, Publizist und Philosoph mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, der stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung, über den Wert von Demokratie und Freiheit. Als einer der entschiedensten Verteidiger unserer liberalen Demokratie kämpft Friedman für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit Leidenschaft.
Text: Judy Born
Berliner Rede
Nachdem Michel Friedman die 18. Berliner Rede zur Freiheit gehalten hat, spricht der Jurist, Publizist und Philosoph mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, der stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Friedrich-Naumann-Stiftung, über den Wert von Demokratie und Freiheit. Als einer der entschiedensten Verteidiger unserer liberalen Demokratie kämpft Friedman für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mit Leidenschaft.
Text: Judy Born
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Manch einer glaubt, wenn man wählen darf und eine Mehrheit entscheidet, dann sei das Demokratie. Wäre das alles, würde von der Freiheit nicht viel übrig bleiben. Ich glaube, dass wir viel mehr gegen autoritäre Bestrebungen und Übernahmen kämpfen müssen. Und dafür müssen wir den Wert und die Werte von Demokratie und Freiheit auf vielfältige Art und Weise vermitteln.
Michel Friedman: Erst mal muss ich wissen, „was“ ich vermittle und wofür ich stehe. Das muss jeder für sich selbstkritisch hinterfragen. Nur zu sagen: „Ich stehe für Demokratie“, reicht ja nicht. Was ist denn Demokratie? Demokratie ist Freiheit und Gerechtigkeit. Aber was bedeutet denn Freiheit, und was heißt Gerechtigkeit?
Wie beantworten Sie das für sich?
Als Philosoph vertrete ich den Ansatz, dass die Demokratie die Komplexität des Einzelnen akzeptiert. Aber vor allem akzeptiert sie die Komplexität von Gesellschaften sowie von sich immer wieder verändernden politischen Themen. Das Großartige daran ist, dass die Demokratie versucht, Kompromisse zu finden. Die Eigenschaft der Diktatur hingegen ist die Einfältigkeit.
Was bedeutet das also für die Politik?
„Die“ Politik gibt es nicht. Ich adressiere die Politik in ihrer Vielfalt und finde es großartig, dass es so viele unterschiedliche Ansätze und Schwerpunkte gibt.
Ich erwarte aber von den Parteien, dass sie ihre jeweiligen Ausgangspunkte deutlicher machen. Damit meine ich auch, dass sie ihre Unterschiede deutlicher machen, ebenso wie die Kompromisse, zu denen man gemeinsam kommt. Und ich erwarte, dass so ein Kompromiss dann begründet wird und man bei ihm bleibt. Nur so können die Menschen mitgenommen werden und ein Ergebnis akzeptieren, auch wenn sie selbst anderer Meinung sind.
Das hat ja auch etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun, was wiederum heißt, bereit zu sein, offen zu streiten. Sie sind ein Verfechter einer Auseinandersetzung, die auf Argumenten und Fakten basiert. Im Gegensatz zu den Diskussionen, bei denen jeder seine Meinung von sich gibt, ohne sich für stichhaltige Argumente zu interessieren. So können wir möglichst viele Bürgerinnen und Bürger bei der Entscheidungsfindung mitnehmen. Am Ende müssen diese Auseinandersetzungen zu Ergebnissen führen, nach denen gehandelt wird.
Die Frage ist aber, reden wir darüber mit einer Sehnsucht, dass es wieder sehr streng und autoritär zugeht oder frei? Das ist doch gerade die Kernfrage, vielmehr sogar die politische Existenzfrage. Ich bezweifle, dass die im Bewusstsein vieler Menschen angekommen ist. Ich erwarte, dass wir diese Frage im politischen Alltag und im Wahlkampf – durchaus streitig – verhandeln. Wie wollt ihr leben? Wollt ihr frei oder wollt ihr autoritär leben? Und das mit allen Möglichkeiten und Konsequenzen? Das ist die Grundlage, und wenn die geklärt ist, können wir uns um die vielen wichtigen Details kümmern wie Wirtschaft, Umwelt, Bildung und soziale Gerechtigkeit. Da kann dann jeder seine politischen Schwerpunkte eingravieren. Wenn wir aber die Demokratie und die Freiheit verlieren, dann müssen alle wissen, dass in einer Diktatur oder einem autoritären oder von der AfD regierten Deutschland von diesen Details nichts mehr übrig bleiben wird.
Sie haben in Ihrer Rede gefordert, dass Demokratie an Schulen gelehrt werden solle. Ich denke, man muss noch weitergehen und auch den Lehrkräften mehr an die Hand geben. Nehmen wir aktuell den israelbezogenen Antisemitismus und die Israelkritik an Schulen und Universitäten– müssen Lehrer und Dozenten nicht in die Lage versetzt werden, darauf adäquater zu reagieren?
Gerade in Bildungsinstitutionen ist es für mich unverzichtbar, dass diejenigen, die Verantwortung tragen, entsprechend ausgebildet werden. Wir können und müssen über die Dinge reden, die die Gesellschaft und die Menschheit beschäftigen. Kein Thema ist tabu. Es geht nicht darum, ob darüber gesprochen wird. Es geht darum, wie darüber diskutiert wird. Wir sollten im Bildungsunterricht mehr Wert auf emotionale Intelligenz und Empathie legen. Ohne Empathie sind wir in dieser Welt nicht in der Lage, anderen Menschen als Menschen zu begegnen und für alle Beteiligten Lösungen der Freiheit zu finden. Und es ist richtig, sich emotional, mit Leidenschaft und Wut, mit Trauer und Frustration, zu streiten. Aber wir dürfen uns dabei nicht persönlich beleidigen. Manchmal schreit man sich auch an, aber dann sollten wir lernen, uns zu entschuldigen.
Bezogen auf den teils antisemitischen Protest an Hochschulen aufgrund des Gazakriegs, zeigen die Verantwortlichen da zu wenig Haltung und Verantwortung?
Wenn jüdische Studenten an deutschen Unis nicht mehr als Juden auftreten können, weil sie sofort als Massenmörder bezeichnet und genötigt werden, dann geht es dabei wieder um das „Wie“ und nicht darum, ob die Politik Israels richtig oder falsch ist. Ich erwarte hier von den Professoren, Rektoren und Präsidenten einer Hochschule, dass sie klarstellen: So nicht. Ganz unabhängig vom Thema. Das betrifft auch eine grundsätzliche Frage: Wollen wir Universitäten, die Kunst, die Kultur als besonders geschützte Räume sehen, an denen man über alles nachdenken und forschen, reden und streiten kann – oder nicht? Wenn das nicht mehr möglich ist, erleben wir einen Offenbarungseid, nicht nur im Bildungssystem.
Nehmen sich zu viele die Freiheit, nichts zu tun?
Freiheit ist auch Verantwortung, und darin steckt eine Handlungspflicht. Die Pflicht zur Hilfeleistung etwa, wenn Menschen genötigt werden oder unter Druck geraten. Wir sprechen von der Fürsorgepflicht von Eltern und Lehrern gegenüber Kindern und Jugendlichen, aber gilt die nicht auch im Alltag, wenn jemand wegen seines Davidsterns oder Kopftuchs angemacht wird? Was machen wir da? Haben wir nicht alle eine Verantwortung? Freiheit ist nur dann ein Wert, wenn sie im Alltag gelebt wird. Ansonsten ist sie nur ein leeres Loch. Wie wir dieses Loch füllen, das entscheiden wir. In Freiheit.
Die Berliner Rede zur Freiheit ist eine jährlich im Frühjahr stattfindende Stiftungsveranstaltung. Seit 2007 leisten Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft oder Kultur damit einen wichtigen Beitrag zum Freiheits-diskurs. Bisherige Redner waren u. a. Joachim Gauck, Peter Sloterdijk, Zhanna Nemzowa, Kaja Kallas und Sviatlana Tsikhanouskaya.
Auszüge aus der
18. Berliner Rede
In diesem Jahr setzt Michel Friedman mit seiner Rede zur Freiheit ein
Zeichen gegen Judenhass und
für gesellschaftlichen Zusammenhalt.
… die Verhandlung, die wir über die Freiheit führen, ist die Freiheit des Menschen, Mensch sein zu können, ist die Freiheit in Selbstbestimmung, sich entdecken zu können, geschützt ohne Angst.
Alles, was in der Welt passiert, ist Innenpolitik. Alles, was in der Welt passiert, passiert mit uns. Ökonomisch, militärisch-strategisch, demokratisch. Alles.
Warum sind wir nicht radikaler und engagierter, wenn wir dieses unglaubliche Produkt aus Freiheit, Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit, Pressefreiheit, Demokratie an den Menschen bringen wollen? Warum sind wir nicht in der Lage, so leidenschaftlich dafür zu werben, wie momentan die werben, die es zerstören wollen?
Jeder, der frei leben will, der entscheiden will, wie das Leben ist, kann nicht wünschen, dass eine autoritäre Partei wie die AfD mir in Zukunft durch Gesetze vorschreibt, wie ich nicht leben darf oder wer hier nicht mehr leben darf.
Es muss zum Pflichtunterricht gehören, zu lernen, was Demokratie ist. Sie ist nicht statisch, sondern dynamisch. Und alle, Kinder, Jugendliche, Eltern, Lehrer, wir alle, müssen permanent darüber verhandeln.
Auszüge aus
der 18. Berliner Rede
In diesem Jahr setzt Michel Friedman mit seiner Rede zur Freiheit ein Zeichen gegen Judenhass und für gesellschaftlichen Zusammenhalt.
… die Verhandlung, die wir über die Freiheit führen, ist die Freiheit des Menschen, Mensch sein zu können, ist die Freiheit in Selbstbestimmung, sich entdecken zu können, geschützt ohne Angst.
Alles, was in der Welt passiert, ist Innenpolitik. Alles, was in der Welt passiert, passiert mit uns. Ökonomisch, militärisch-strategisch, demokratisch. Alles.
Warum sind wir nicht radikaler und engagierter, wenn wir dieses unglaubliche Produkt aus Freiheit, Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit, Pressefreiheit, Demokratie an den Menschen bringen wollen? Warum sind wir nicht in der Lage, so leidenschaftlich dafür zu werben, wie momentan die werben, die es zerstören wollen?
Jeder, der frei leben will, der entscheiden will, wie das Leben ist, kann nicht wünschen, dass eine autoritäre Partei wie die AfD mir in Zukunft durch Gesetze vorschreibt, wie ich nicht leben darf oder wer hier nicht mehr leben darf.
Es muss zum Pflichtunterricht gehören, zu lernen, was Demokratie ist. Sie ist nicht statisch, sondern dynamisch. Und alle, Kinder, Jugendliche, Eltern, Lehrer, wir alle, müssen permanent darüber verhandeln.
Sie haben in Ihrer Rede gefordert, dass Demokratie an Schulen gelehrt werden solle. Ich denke, man muss noch weitergehen und auch den Lehrkräften mehr an die Hand geben. Nehmen wir aktuell den israelbezogenen Antisemitismus und die Israelkritik an Schulen und Universitäten– müssen Lehrer und Dozenten nicht in die Lage versetzt werden, darauf adäquater zu reagieren?
Gerade in Bildungsinstitutionen ist es für mich unverzichtbar, dass diejenigen, die Verantwortung tragen, entsprechend ausgebildet werden. Wir können und müssen über die Dinge reden, die die Gesellschaft und die Menschheit beschäftigen. Kein Thema ist tabu. Es geht nicht darum, ob darüber gesprochen wird. Es geht darum, wie darüber diskutiert wird. Wir sollten im Bildungsunterricht mehr Wert auf emotionale Intelligenz und Empathie legen. Ohne Empathie sind wir in dieser Welt nicht in der Lage, anderen Menschen als Menschen zu begegnen und für alle Beteiligten Lösungen der Freiheit zu finden. Und es ist richtig, sich emotional, mit Leidenschaft und Wut, mit Trauer und Frustration, zu streiten. Aber wir dürfen uns dabei nicht persönlich beleidigen. Manchmal schreit man sich auch an, aber dann sollten wir lernen, uns zu entschuldigen.
Bezogen auf den teils antisemitischen Protest an Hochschulen aufgrund des Gazakriegs, zeigen die Verantwortlichen da zu wenig Haltung und Verantwortung?
Wenn jüdische Studenten an deutschen Unis nicht mehr als Juden auftreten können, weil sie sofort als Massenmörder bezeichnet und genötigt werden, dann geht es dabei wieder um das „Wie“ und nicht darum, ob die Politik Israels richtig oder falsch ist. Ich erwarte hier von den Professoren, Rektoren und Präsidenten einer Hochschule, dass sie klarstellen: So nicht. Ganz unabhängig vom Thema. Das betrifft auch eine grundsätzliche Frage: Wollen wir Universitäten, die Kunst, die Kultur als besonders geschützte Räume sehen, an denen man über alles nachdenken und forschen, reden und streiten kann – oder nicht? Wenn das nicht mehr möglich ist, erleben wir einen Offenbarungseid, nicht nur im Bildungssystem.
Nehmen sich zu viele die Freiheit, nichts zu tun?
Freiheit ist auch Verantwortung, und darin steckt eine Handlungspflicht. Die Pflicht zur Hilfeleistung etwa, wenn Menschen genötigt werden oder unter Druck geraten. Wir sprechen von der Fürsorgepflicht von Eltern und Lehrern gegenüber Kindern und Jugendlichen, aber gilt die nicht auch im Alltag, wenn jemand wegen seines Davidsterns oder Kopftuchs angemacht wird? Was machen wir da? Haben wir nicht alle eine Verantwortung? Freiheit ist nur dann ein Wert, wenn sie im Alltag gelebt wird. Ansonsten ist sie nur ein leeres Loch. Wie wir dieses Loch füllen, das entscheiden wir. In Freiheit.
Die Berliner Rede zur Freiheit ist eine jährlich im Frühjahr stattfindende Stiftungsveranstaltung. Seit 2007 leisten Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft oder Kultur damit einen wichtigen Beitrag zum Freiheits-diskurs. Bisherige Redner waren u. a. Joachim Gauck, Peter Sloterdijk, Zhanna Nemzowa, Kaja Kallas und Sviatlana Tsikhanouskaya.
Judy Born ist freie Journalistin in Hamburg. Sie schreibt über Menschen und Mobilität, Genuss und Gesellschaft.
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Warum die rechte Gewaltbereitschaft die größte Gefahr für unsere Demokratie ist
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