Migration

Kinder, die aus
dem System fallen

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben keine Lobby, aber einen Auftrag: Sie sollen sich und ihren Familien eine bessere Zukunft ermöglichen. Die Strukturen, die sie auffangen sollen, sind jedoch hoffnungslos überlaufen.

Text: Jenni Roth

Jugendliche Geflüchtete sitzen in einer Inobhutnahme auf der Couch. Es ist oft Zufall, ob sie von zusätzlichen Angeboten speziell für ihre Altersgruppe erfahren.

Djamal hat sich gut auf das Interview vorbereitet. Er sitzt im Berliner Bildungs- und Beratungszentrum BBZ und legt Dokumente vor sich auf den Tisch. 70 Euro hat er für die Übersetzung bezahlt, das ist viel Geld bei zwei Euro Taschengeld am Tag. Aber die Papiere sind wichtig. Sie sollen beweisen, dass er erst 16 Jahre alt ist. Djamal trägt einen Kapuzenpulli, eine schwarze Kappe und wippt auf dem Stuhl. Was, wenn die Behörden ihm und seinen Papieren nicht glauben? Dann wäre der syrische Junge offiziell volljährig und auf sich allein gestellt.

Er wartet seit seiner Ankunft in Berlin. Erst einen Monat, dann zwei, dann fünf, dann acht. Weil es nicht schneller geht, sagen die Politiker. Das Warten sei Programm, sagen Kritiker: Am besten so lange, bis ein „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ (UmF) 18 Jahre ist. Dann steht ihm keine teure Jugendhilfe mehr zu, er muss in eine Sammelunterkunft umziehen und ein ganz normales Asylverfahren durchlaufen. Und: Er kann seine Familie nicht mehr nachholen. Vielleicht hört man auch deshalb so oft von Fällen, in denen UmF offensichtlich minderjährig sind, aber volljährig geschätzt werden.

Die Gänge im BBZ sind voll mit Geflüchteten. Alle wollen irgendetwas. Information, Beratung, einfach mal mit jemandem reden. Daniel Jasch, Leiter der Beratungsstelle, versucht zwischen Tür auf, Tür zu zu erklären, was erklärbar ist.

Kinder,
die aus dem
System fallen

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben keine Lobby, aber einen Auftrag: Sie sollen sich und ihren Familien eine bessere Zukunft ermöglichen. Die Strukturen, die sie auffangen sollen, sind jedoch hoffnungslos überlaufen.

Text: Text: Jenni Roth

Jugendliche Geflüchtete sitzen in einer Inobhutnahme auf der Couch. Es ist oft Zufall, ob sie von zusätzlichen Angeboten speziell für ihre Altersgruppe erfahren.

Djamal hat sich gut auf das Interview vorbereitet. Er sitzt im Berliner Bildungs- und Beratungszentrum BBZ und legt Dokumente vor sich auf den Tisch. 70 Euro hat er für die Übersetzung bezahlt, das ist viel Geld bei zwei Euro Taschengeld am Tag. Aber die Papiere sind wichtig. Sie sollen beweisen, dass er erst 16 Jahre alt ist. Djamal trägt einen Kapuzenpulli, eine schwarze Kappe und wippt auf dem Stuhl. Was, wenn die Behörden ihm und seinen Papieren nicht glauben? Dann wäre der syrische Junge offiziell volljährig und auf sich allein gestellt.

Er wartet seit seiner Ankunft in Berlin. Erst einen Monat, dann zwei, dann fünf, dann acht. Weil es nicht schneller geht, sagen die Politiker. Das Warten sei Programm, sagen Kritiker: Am besten so lange, bis ein „unbegleiteter minderjähriger Flüchtling“ (UmF) 18 Jahre ist. Dann steht ihm keine teure Jugendhilfe mehr zu, er muss in eine Sammelunterkunft umziehen und ein ganz normales Asylverfahren durchlaufen. Und: Er kann seine Familie nicht mehr nachholen. Vielleicht hört man auch deshalb so oft von Fällen, in denen UmF offensichtlich minderjährig sind, aber volljährig geschätzt werden.

Die Gänge im BBZ sind voll mit Geflüchteten. Alle wollen irgendetwas. Information, Beratung, einfach mal mit jemandem reden. Daniel Jasch, Leiter der Beratungsstelle, versucht zwischen Tür auf, Tür zu zu erklären, was erklärbar ist.

Ein Dutzend Jugendliche pro Tag

3195 UmF sind 2022 nach Berlin gekommen, 2023 waren es 3105. Nur 2015 waren es mehr. Im Schnitt kommt pro Werktag ein Dutzend weiterer Jugendlicher an, die meisten aus Afghanistan, Syrien und der Ukraine, nur gut fünf Prozent sind weiblich. Eigentlich müsste man jede Woche zwei neue Einrichtungen eröffnen. Knapp 1500 UmF leben derzeit in der Obhut des Senats, in den Erstaufnahme- und Clearingeinrichtungen des Landesjugendamtes. Oft sind es noch Kinder, manche sind traumatisiert. Eigentlich bräuchten sie besonderen Schutz und Betreuung, so ist es im Gesetz festgeschrieben, in Paragraf 8 Sozialgesetzbuch.

Aber das System ist voll, heißt es in den Kommunen, in den Ländern. Und deshalb prallen jetzt gesetzliche Ansprüche und Kinderschutz auf ein System, das an seine Grenzen kommt. Die UmF, das hört man öfter bei dieser Recherche, haben keine Lobby. Sie sind die Vergessenen. Wenn alles schlecht läuft, sind sie auch eine verlorene Generation. Und es läuft ziemlich schlecht.

Auf ein Blatt Papier zeichnet Daniel Jasch diagonale Stufen, um den Prozess zu erläutern. Ganz oben, sagt er, sei für manche das Ziel: „Wer hier ankommt, kann seine Familie nachholen.“ Dann zeigt Jasch auf einen Punkt unter der ersten Stufe: „Hier steht Djamal jetzt. Offiziell existiert er noch gar nicht – nach acht Monaten in Deutschland.“

Auf Stufe zwei käme er nach dem Erstgespräch, dann folgt die offizielle Anerkennung, dann wird der Bedarf geklärt: Ist er traumatisiert, braucht er besondere Betreuung? Entscheidend ist: unter 18 oder über 18? Davon hängen ganze Schicksale ab. Die Klärung müsste laut Gesetz spätestens vier Wochen nach Ankunft stattfinden. Zurzeit sind es laut Senat im Schnitt vier bis fünf Monate, im Herbst waren es neun. Weil reguläre Plätze und Fachpersonal fehlen und immer mehr UmF kommen. Solange sie warten, dürfen sie nicht einmal zur Schule.

Da lastet ein unglaublicher psychischer, familiärer Druck auf den Jungs.
Daniel Jasch

Wie groß das Problem europaweit ist, zeigt eine Datenrecherche des internationalen Journalistennetzwerks „Lost in Europe“. Demnach werden in ganz Europa weit über 50000 unbegleitete minderjährige Geflüchtete vermisst, die zuvor in staatlicher Obhut waren. In Deutschland soll es sich um rund 2000 Fälle handeln. Noch werden die meisten UmF in Einrichtungen versorgt, so wie Djamal.

Es gibt Tage, an denen sitzt Djamal einfach nur auf seinem Bett in dem kleinen Zimmer seiner Unterkunft und starrt die Wand an. Es gibt einen Tisch, ein paar Stühle. Ihm gehören ein paar Fächer in einem Schrank. Seine Mitbewohner seien laut, sagt er, sie hörten viel Musik, manchmal morgens um vier. Aber Djamal traut sich nicht, etwas zu sagen. Überhaupt spricht er nicht viel, mit wem auch. Seine Mutter erreiche er per WhatsApp oft nur alle paar Tage, wenn es in seinem syrischen Heimatort mal Netz gibt, immer wieder flammen die Kämpfe dort auf. Er weiß nie, ob er das letzte Mal mit seiner Mutter spricht. Sein Vater sei verschollen.

Seit vier Jahren ist Djamal unterwegs. Er sei über die Türkei gekommen, wo er als Straßenverkäufer gearbeitet habe und in einer Bäckerei. Immer wieder dreht er beim Reden den Kopf weg, man weiß nicht, ob er kurz vor den Tränen ist, genervt oder einfach erschöpft.

„Da lastet ein unglaublicher psychischer, familiärer Druck auf den Jungs“, sagt Jasch. „Sie sorgen sich um ihre Familien in Krisengebieten. Sie kommen oft aus einfachen Verhältnissen. Und dann hängt das Schicksal der Familie von ihnen ab: Du bist unsere einzige Chance.“

Immerhin: Djamal musste nicht über das Mittelmeer, hat keine Gewalt erlebt. Keine Selbstverständlichkeit. Denn die Situation an den EU-Außengrenzen werde schwieriger, und auch sonst haben laut Flüchtlingsorganisationen immer mehr UmF, die hier ankommen, Folter erlebt, wurden von Schleppern verhaftet, erpresst oder von Hunden gehetzt. Das Problem ist: Alle wissen, dass es ein Problem gibt. Aber keiner weiß so richtig, was zu tun ist.

Eine Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge in Berlin. Weil Geld und Personal fehlen, fallen viele junge Menschen aus dem System.
Eine Unterkunft für minderjährige Flüchtlinge in Berlin. Weil Geld und Personal fehlen, fallen viele junge Menschen aus dem System.

„Das System ist im letzten Jahr vollgelaufen“, sagt dazu CDU-Staatssekretär Falko Liecke: „Die Fachkräfte waren am Limit.“ Im Winter sei die Lage witterungsbedingt etwas entspannter, ab Mai steige meist deutlich der Zuzug. Der Bund müsse sich stärker beteiligen, die Länder allein schafften das nicht – allein 2023 habe das Land Berlin 70 Millionen Euro für die Versorgung der UmF ausgegeben. Dazu kommt der überhitzte Immobilienmarkt. Was also bleibt, als Standards abzusenken und (fast) alles zu nehmen, was man kriegen kann? Das ist zumindest der einhellige Vorwurf von sozialen Trägern und Jugendämtern: Es tauchten plötzlich freie Träger auf, teils Ableger von Investorengruppen, die beim in die Enge gedrängten Senat das große Geschäft witterten und überzogene Summen für ihre Unterkünfte kassierten.

Die Helfer sind müde und oft abgestumpft

Die Helfer sind müde
und oft abgestumpft

Der Senat räumt ein, dass er nach der Flüchtlingskrise 2015/16 Strukturen womöglich zu schnell wieder abgebaut habe, aber die Stimmung sei damals anders gewesen. Es habe viele Ehrenamtliche gegeben, und eine Wir-schaffen-das-Kanzlerin. Jetzt seien die Menschen müde, vielleicht auch abgestumpft von so vielen Krisen. Und die UmF zahlen dafür. Dabei haben sie Rechte, genau wie deutsche Kinder auch. Auf Schutz vor Gewalt und auf Privatsphäre, auf das Recht zu spielen und einfach mal Kind zu sein.

Ein Lichtblick ist die S27 in Kreuzberg, ein Träger für Beratungen und Tagesstruktur. In dem alten Klinkerbau nahe der Spree führt Geschäftsführerin Barbara Meyer durch das Atelier. UmF sitzen mit Pinseln vor Leinwänden, angeleitet von einer Kunsttherapeutin. Jeden Tag können die Jungs herkommen, Essen planen, einkaufen, kochen, oder handwerken: „Wenn die Jugendlichen erfahren, der Hocker ist stabil, gibt Halt – das gibt das Gefühl, etwas schaffen zu können.“

Nur ist es eben Zufall, ob man von solch einem Projekt erfährt, von anderen unbegleiteten Minderjährigen oder Betreuern – wenn man sie hat. Djamal weiß von nichts. Und selbst wenn er nach dem Erstgespräch Schulplatz und Betreuung bekäme, könnte es zu spät sein: „Wenn die Jungs zu lange ohne Struktur bleiben, nur mit einem Dach über dem Kopf und Essen, haben sie keine soziale Anbindung, sind nicht an Regeln gewöhnt“, sagt Barbara Meyer. Sie funktionierten dann wie auf der Flucht, organisierten sich selbst, manchmal auf Abwegen. Damit vergeude man ein großes Potenzial für die Gesellschaft: „Da sind so viele mutige, talentierte junge Menschen, die es schaffen könnten.“

Jenni Roth lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt vor allem Reportagen zu gesellschaftlichen Themen für namhafte Zeitungen und Magazine sowie Skripte für Hörfunk-Features im Deutschlandradio. Ihre Beiträge wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.

Jenni Roth lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt vor allem Reportagen zu gesellschaftlichen Themen für namhafte Zeitungen und Magazine sowie Skripte für Hörfunk-Features im Deutschlandradio. Ihre Beiträge wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet.

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