DER WESTEN SORTIERT SICH
Der russische Angriff auf die Ukraine ist eine Zeitenwende wie 1989. Jetzt muss Europa die Freiheit wie ein zartes Pflänzchen beschützen.
TEXT: WOLFRAM EILENBERGER
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
DER WESTEN SORTIERT SICH
Der russische Angriff auf die Ukraine ist eine Zeitenwende wie 1989. Jetzt muss Europa die Freiheit wie ein zartes Pflänzchen beschützen.
TEXT: WOLFRAM EILENBERGER
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
Was tun? Diese Frage hören wir nicht zum ersten Mal. Doch stellt sie sich heute in neuer Weise und Dringlichkeit. Vor allem für die liberalen Kräfte dieses Landes, Kontinents, ja, Planeten. Schon jetzt ist absehbar, dass man auf den Frühling des Jahres 2022 in ähnlicher Weise zurückblicken wird wie auf den Herbst des Jahres 1989: Er wird als eine Zeitenwende erscheinen, die das Ende einer lang gehegten Illusion besiegelt hat.
Damals markierte der Fall der Berliner Mauer den Abschied von der staatssozialistischen Illusion, mit den Mitteln zentralistischer Planung und fortwährender Freiheitsberaubung den Unterschied zwischen Gleichheit und Gerechtigkeit produktiv einebnen zu können. Heute markiert Russlands Angriff auf die Ukraine die Aushöhlung der liberalen Leitdiktion eines politischen Wertewandels durch intensivierten Handel, ebenso wie auch der Alltagsterror in China, wo das Regime inzwischen ganze Metropolen jenen Lagerlogiken unterwirft, die es seit Jahrzehnten an den Minderheiten der Peripherie perfektioniert.
Ende eines naiven Friedens
Die Vorstellung, dass uns zunehmende globale Vernetzung und gegenseitige ökonomische Abhängigkeiten dem Kantischen Reich der Zwecke samt seines Ewigen Friedens Schritt um Schritt näher bringen, scheint haltlos im Raum zu stehen. Die einst regulative Hoffnung wirkt im politischen Tagesgeschäft nun wie verleugnende Rhetorik. Was nach dem Blick in den Abgrund bleibt, ist gerade aus zentraleuropäischer Sicht die schambelegte Einsicht, dass die Abhängigkeiten so wenig wechselseitig sind wie die militärische Schlagkraft ausgewogen. Der Befund ist düster. Der Kontinent der Aufklärung ist im 21. Jahrhundert weder in der Lage, sein freiheitliches Lebensmodell ökonomisch zu erhalten, noch, es militärisch zu verteidigen – von den ökologischen Verheerungen, die insbesondere die zurück-liegenden dreißig Jahre globaler Konsumexpansion irreversibel mit sich brachten, gar nicht zu reden.
Gerade die jüngere Generation europäischer Politiker und Politikerinnen von Christian Lindner zu Emmanuel Macron, von Annalena Baerbock zu Sanna Marin, von Robert Habeck zu Pedro Sánchez – mag sich deshalb in einer Situation erkennen, die jener von Voltaires satirischem Romanhelden Candide aus dem 18. Jahrhundert bedrückend ähnelt. Wie der wohlbehütet in einem Fürstenschloss aufgewachsene Candide saugten auch diese jungen Parade-Europäer das Narrativ vom besten aller möglichen Nachkriegskontinente gleichsam mit der Muttermilch ein. Das Freiheitsjahr 1989, in dem auch die Erfindung des Internets neue, scheinbar unbegrenzte Horizonte freilegte, fiel in ihre prägenden Jugendjahre und verfestigte so das Möglichkeitsbewusstsein vom friedlichen Ende der Globalgeschichte.
Die Welt von bald 10 Milliarden Menschen lässt sich nirgendwo noch auf Gartenmaß bewirtschaften.
Die Welt von bald 10 Milliarden Menschen lässt sich nirgendwo noch auf Gartenmaß bewirtschaften.
Wehrhafter Bio-Bauer
Heute, da diese Vielgereisten des Elends dieser Welt ausreichend ansichtig wurden und durch das geopolitische Erdbeben der Invasion in die Ukraine -endgültig aus ihrem dogmatischen Schlummer erwacht sind, liegt die Versuchung nahe, im eigenen Gestalten vorrangig auf eine defensive Logik nachhaltiger Einhegung und isolationistischer Selbstpflege zu setzen. Genau wie jene Romanfigur Candide, die sich am Ende der Weltreise, gründlich desillusioniert, auf ein Gut hinter dicke Mauern verkriecht. Seinem alten philosophischen Lehrer Pangloss, der ihm bei Tisch noch immer das hohe Lied der Globalisierung singt („Alle Begebenheiten in dieser besten aller möglichen Welten stehen in notwendiger Verkettung mit einander … sonst würden Sie hier jetzt nicht eingemachte Citronenschale und Pistazien essen“), erwidert er dort: „Alles schön und gut, aber wir müssen unseren Garten bestellen.“
Zunächst den eigenen Garten bestellen – und beschützen. Selbsthilfe vor Fremdhilfe, Kultivierung des Eigenen vor abstrakter Fernstenliebe, produktive Schollenwahrung vor überfordernder Solidaritätsentgrenzung, lokale Eigenverantwortung vor globalen Steuerungsfantasien: Das sind alles an sich allzu nachvollziehbare, gar urliberale Intuitionen. Vor dem geistigen Auge erscheint so ein wehrhafter Bio-Bauer als kontemporäre Leitgestalt der europäischen Aufklärung – wäre da nur nicht das naturfrohe Bild des blühenden „Gartens“, das allein schon jeden Gedanken an eine belastbare Fokussierung auf abgeschlossene eigene Einflusssphären als illusorisch erkennen lässt.
Das gilt schon deshalb, weil den zunehmend trockenen und ausgelaugten heimischen Böden dann doch chemisch nachgeholfen werden muss. Und zwar vorrangig mit Stickstoff-Dünger aus der Ukraine, denkbar energieintensiv hergestellt auf Basis russischen Gases. Es gilt auch schon deshalb, weil genau jener ländlich verwurzelte Natur-Typus Mensch bei steigenden Energiepreisen mit als Erster auf die Barrikaden geht, um in seinem revolutionären Furor zugleich auch die ureigenen, universalen Leitwerte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bei geschwungener Mistgabel infrage zu stellen.
Bei allem Verständnis für angestaute Wut und neu erfahrene Ängste: Diese Welt von bald 10 Milliarden Menschen lässt sich nirgendwo noch auf Gartenmaß bewirtschaften, zurückstutzen oder gar lebenswert zurückmauern. Aus aufgeklärter Perspektive sind es in unserem 21. Jahrhundert gerade die ökologischen Herausforderungen, die jedem kontinentalen oder zivilisatorischen Autarkieansinnen auf absehbare Zeit die Grundlage entziehen. Ebenso lässt sich jede Fantasie, das Gedeihen der eigenen Lande und seiner Werte lasse sich künftig allein mit Waffen und Mauern schützen, als ausgedörrtes Phantasma vergangener Jahrhunderte entlarven. Diese Welt wird ein einziger Garten sein – oder gar keiner. Es gibt unter den gegebenen Bedingungen auf diesem Planeten keinen Nationalliberalismus und nicht einmal einen tragfähigen Kontinentalliberalismus.
Für aufgeklärte Denker der Zukunft gilt es deshalb einmal mehr, eine Hoffnungshaltung zu kultivieren, die sich plastisch zwischen Pangloss und Candide hält. Es bedarf einer Haltung, die den Glauben an einen allmächtigen und allgütigen Gott nicht etwa durch ein sich selbst überlassenes, weltheilendes Markttreiben ersetzt und die sich auch nicht bloß als Folge einer gründlichen Desillusionierung politischer Kleingärtnerträume à la Candide ergibt.
Es heißt, in der Art der klügsten und gewandtesten Gewächse stets den Kräften des Lichts zugewandt zu bleiben.
Es heißt, in der Art der klügsten und gewandtesten Gewächse stets den Kräften des Lichts zugewandt zu bleiben.
Fühler ausgestreckt halten
Vielmehr heißt es, in der Art der klügsten und gewandtesten Gewächse stets den Kräften des Lichts zugewandt zu bleiben, die eigenen Fühler nach allen Seiten ausgestreckt zu halten. Es gilt, sich ganz generell als Teil eines globalen Lebensnetzes zu begreifen, das gerade aufgrund seiner inneren Vielfalt von besonderer Widerstandsfähigkeit gekennzeichnet sein wird. Mag die moderne Freiheit auch ein zartes Pflänzchen bleiben, bislang hat sie, selbst in dunkelsten Stunden, noch jede Mauer zu untergraben und jeden Angriff zu überwinden gewusst.
Wolfram Eilenberger ist Philosoph und Schriftsteller. Sein Buch „Zeit der Zauberer – das große Jahrzehnt der Philosophie (1919–1929)“ erhielt den Bayerischen Buchpreis. Klett-Cotta, 25 Euro.
Wolfram Eilenberger ist Philosoph und Schriftsteller. Sein Buch „Zeit der Zauberer – das große Jahrzehnt der Philosophie (1919–1929)“ erhielt den Bayerischen Buchpreis. Klett-Cotta, 25 Euro.
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