DER WESTEN SORTIERT SICH
Der russische Präsident hat sich eine NATO-Osterweiterung im hohen Norden eingehandelt. Der zu erwartende Beitritt Schwedens und Finnlands zur Allianz bietet den nordischen Ländern eine Fülle neuer Chancen.
TEXT: GURI MELBY
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
DER WESTEN SORTIERT SICH
Der russische Präsident hat sich eine NATO-Osterweiterung im hohen Norden eingehandelt. Der zu erwartende Beitritt Schwedens und Finnlands zur Allianz bietet den nordischen Ländern eine Fülle neuer Chancen.
TEXT: GURI MELBY
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
Es ist offiziell – Schweden und Finnland haben ihre Anträge auf NATO-Mitgliedschaft eingereicht. Und Dänemark wird sich endlich an der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU beteiligen. Auch wenn der türkische Präsident Erdoan den NATO-Beitrittsprozess zu nutzen versucht, um den Partnern noch einige Zugeständnisse abzupressen, erscheint es sehr wahrscheinlich, dass Finnland und Schweden dem Bündnis in Kürze beitreten werden. Damit öffnet sich für die NATO im Norden eine Büchse der Pandora an Herausforderungen und Chancen, sowohl politischer als auch strategischer Art.
Norwegen ist eines der drei nordischen Länder, die bereits Mitglied des Bündnisses sind. Es wurde Gründungsmitglied der Allianz, nachdem in der Anfangsphase des Kalten Krieges die Bemühungen gescheitert waren, ein nordisches oder zumindest skandinavisches Verteidigungsbündnis zu schaffen. Norwegen war der einzige NATO-Verbündete, der direkt an Russland grenzte, und die Entscheidung war nicht ohne Probleme.
Heute, 73 Jahre später, ist die Unterstützung für die norwegische NATO-Mitgliedschaft größer denn je, und die Rolle als NATO des Nordens ist zu einem Gesprächsthema für Politikerinnen und Politiker praktisch aller politischen Richtungen geworden, mit Ausnahme der extremen Linken. Die Sozialistische Linkspartei, Sosialistisk Venstreparti, und Rødt, die Rote Partei, haben sich für einen Austritt aus der Allianz eingesetzt und stattdessen die Idee einer nordischen Verteidigungsunion wiederbelebt. Ironischerweise könnte diese Vision nun tatsächlich zur Entfaltung kommen, allerdings innerhalb des festen Rahmens der NATO.
Für kleinere Länder mit ähnlichen Bedrohungen ist es sinnvoll, ihre Verteidigungskräfte zu bündeln.
Für kleinere Länder mit ähnlichen Bedrohungen ist es sinnvoll, ihre Verteidigungskräfte zu bündeln.
Gemeinsame Übungen
Politisch bietet der Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO für Norwegen und die anderen nordischen Staaten enorme Möglichkeiten. Obwohl Norwegen kein EU-Mitglied ist und obwohl Schweden und Finnland bisher nicht der NATO angehörten, haben wir auf den Feldern von Sicherheit und Verteidigung schon immer zusammengearbeitet. Gemeinsame nordische Übungen, gemeinsame Beschaffungsanstrengungen, militärische Austauschprogramme – all dies sind schon lange feste Bestandteile der nordischen Verteidigungszusammenarbeit. Manche davon waren erfolg-reicher als andere. Schweden und Finnland waren schon dadurch stark in die NATO integriert, weil die Allianz ein Partner war. Mit dem Beitritt Schwedens und Finnlands zum Bündnis verschwinden nun die letzten Einschränkungen der nordischen Verteidigungszusammenarbeit.
Alle fünf nordischen Staaten werden demselben Bündnis angehören, und wenn einer der Verbündeten angegriffen wird, werden alle darauf reagieren. Vorbei sind die Zeiten, in denen unklar war, wie die NATO auf einen russischen Angriff auf Finnland oder Schweden antworten würde oder wie die beiden Länder auf einen Angriff auf das Bündnis reagieren würden. An die Stelle dieser Unklarheit ist ein Versprechen getreten. Zusammengenommen sind die fünf nordischen Staaten ein bedeutender Akteur in der NATO. Jedes Land hat eine andere Verteidigungshaltung, und die Länder ergänzen einander hinsichtlich ihrer Fähigkeiten recht gut. Finnland verfügt über große Landstreitkräfte, Schweden und Norwegen über ernstzunehmende See- und Luftstreitkräfte, Dänemark über äußerst mobile und professionelle Streitkräfte. Wir blicken auf eine lange Geschichte der Zusammenarbeit zurück und teilen eine umfassende strategische Perspektive, einschließlich der Einsicht, dass sich die NATO wieder stärker auf die kollektive Sicherheit und auf die Arktis konzentrieren muss.
Dennoch ist nicht alles in Butter. Die nordischen Länder sind eine große, vielfältige Region mit einer Reihe unterschiedlicher sicherheitspolitischer Herausforderungen. Für Norwegen stehen in dieser Hinsicht seit jeher der hohe Norden und der Nordatlantik im Vordergrund. Für Schweden und Dänemark war die Sicherheit in der Ostsee schon immer von größter Bedeutung. Für Finnland mit seiner 1340 Kilometer langen Landgrenze zu Russland ist die Fähigkeit entscheidend, diese Grenze zu sichern. Diese unterschiedlichen Perspektiven werden nicht verschwinden, aber neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit können die damit verbundene Kluft verringern.
Für Norwegen bedeutet der bevorstehende NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens, dass sich die Konzentration auf Norwegens eigene Grenze zu Russland auflösen kann und durch ein gemeinsames nordisches Verteidigungskonzept für das nordische Gebiet im hohen Norden ersetzt wird. Der Beitritt Schwedens und Finnlands eröffnet auch neue Möglichkeiten für eine Verstärkung der Streitkräfte jenseits des Nordatlantiks. Die Zusammenarbeit Schwedens, Finnlands und Dänemarks mit den baltischen Staaten im Rahmen der NATO im Bereich der Sicherheit der Ostsee wird nach dem Beitritt Schwedens und Finnlands wesentlich besser koordiniert werden können.
Die Öffnung für eine vertiefte nordische Verteidigungszusammenarbeit bedeutet auch, dass wir bei den Verteidigungsausgaben mehr für unser Geld bekommen. Zu den möglichen Vorteilen zählen unter anderem die gemeinsame Nutzung von Ausbildungseinrichtungen, die Zusammenlegung unserer militärischen Ausbildungssysteme, die Aufnahme der Arbeit an einer gemeinsamen Verteidigung des hohen Nordens und eine verstärkte Zusammenarbeit der NORDEFCO (Nordic Defence Cooperation zwischen Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden), die als Teil der schnellen Eingreiftruppe der NATO eingesetzt werden kann.
Politische Prioritäten
Da einige unserer wichtigsten Waffenplattformen das Ende ihres Lebenszyklus erreichen, können wir außerdem damit beginnen, gemeinsame Kapazitäten zu beschaffen. Dies birgt enorme Chancen, sowohl im Hinblick auf die Interoperabilität als auch auf die Freisetzung von Mitteln für andere wichtige Zwecke. Aber dafür bedarf es der Zeit und politischer Prioritäten. In zwanzig oder dreißig Jahren wird jedes kleine Land die Auswirkungen der immer teurer und komplexer werdenden Waffenplattformen zu spüren bekommen. Daher ist es für kleinere Länder mit ähnlichen Sicherheitsbedrohungen und einem hohen Maß an gegenseitigem Vertrauen absolut sinnvoll, ihre Verteidigungskräfte zu integrieren.
All dies wird nicht über Nacht geschehen. Es werden große kulturelle, institutionelle und politische Hürden zu überwinden sein. Kurzfristig könnte uns diese Art der Integration sogar mehr kosten, so wie es bei Reformen oft der Fall ist. Ohne eine langfristige Vision für eine nordische Verteidigungszusammenarbeit werden wir jedoch auf dem jetzigen Niveau verharren, mit zusätzlichen gemeinsamen Projekten und Schulungen. Eine starke und visionäre politische Führung kann diese Hürden überwinden. Es ist wichtig, dabei ein klares Ziel vor Augen zu haben und nicht bloß eine schrittweise Politik der engeren technischen Zusammenarbeit zu verfolgen.
Guri Melby ist Vorsitzende der liberalen Partei Norwegens, Venstre. Von März 2020 bis Oktober 2021 war sie die Bildungs- und Integrationsministerin.
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