DER WESTEN SORTIERT SICH
Die weltwirtschaftliche Integration steckt in einer Krise. Da muss sie raus – verändert und verbessert. Den Weg dahin kann der marktwirtschaftliche Westen ebnen, auch durch wertebasierte Geopolitik.
TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
DER WESTEN SORTIERT SICH
Die weltwirtschaftliche Integration steckt in einer Krise. Da muss sie raus – verändert und verbessert. Den Weg dahin kann der marktwirtschaftliche Westen ebnen, auch durch wertebasierte Geopolitik.
TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ
ILLUSTRATION: EMMANUEL POLANCO/SEPIA
Eigentlich sollte es niemanden überraschen. Prozesse der weltwirtschaftlichen Integration schwanken. Mal gehen sie schneller, mal langsamer, mal stocken sie vorübergehend, und manchmal machen sie auch riesige Rückschritte. So war es in der verheerenden Zwischenkriegszeit, die niemals mehr an der bereits erreichten Globalisierung vor 1914 anknüpfen konnte und in einem Spinnennetz der Autarkie schließlich mit dem Zweiten Weltkrieg endete. Das ist jene Horrorvision, die eine besorgte Öffentlichkeit auf jede Bremsung der globalen Integration mit höchster Aufmerksamkeit reagieren lässt. So mehrten sich schon während des Jahrzehnts nach der Weltfinanz- und Schuldenkrise der Jahre 2008 bis 2011 die warnenden Stimmen, die von De-Globalisierung sprachen, weil der Welthandel nicht mehr im alten dynamischen Tempo expandierte und zum Teil sogar schrumpfte.
Hinzu kamen Donald Trumps Protektionismus, der Staatskapitalismus Chinas sowie eine zunehmende Machtlosigkeit der multilateralen Handelsordnung der WTO. Das Londoner Magazin „The Economist“ urteilte vorsichtiger und prägte 2019 den Begriff „Slowbalisation“ – mit dem Titelbild einer Weltwirtschaft als Schnecke. Das war ein seinerzeit treffendes Bild. Inzwischen sind neue Schläge gegen die Integration hinzugekommen. Ab 2020 zertrümmerte Corona zumindest vorübergehend die grenzüberschreitenden Wertschöpfungsketten vieler Branchen des verarbeitenden Gewerbes. Zum Teil sind diese bis heute nicht voll wiederhergestellt, zumal China noch in jüngster Zeit ohne Rücksicht auf die eigene Bevölkerung ganze Metropolregionen wie Schanghai in den wochenlangen Lockdown schickte und aus der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung heraushebelte. Den Gipfel aber lieferte Wladimir Putin mit seinem Eroberungskrieg gegen die Ukraine, der ein gewaltiges Paket der Sanktionen nach sich zog und die Integration Russlands in die europäische Energieversorgung auf Dauer infrage stellt. Es war die machtvolle Rückkehr der Geopolitik auf die Bühne der Weltwirtschaft und zudem einer globalen Inflation, getrieben durch Energiepreise.
Die Geopolitik kehrt machtvoll auf die Bühne der Weltwirtschaft zurück.
Die Geopolitik kehrt machtvoll auf die Bühne der Weltwirtschaft zurück.
Aus Krisen gelernt
Auch das ist bei nüchterner Betrachtung nicht komplett neu. Denn schon einmal erlebte die Weltwirtschaft nach Jahrzehnten der erfolgreichen Expansion und Integration einen schweren doppelten Rückschlag: 1973/75 mit der ersten Ölkrise im Gefolge des Jom-Kippur-Kriegs und 1980/82 mit der zweiten Ölkrise im Zuge des irak-iranischen Konflikts. Damals kam es zu zwei tiefen Rezessionen, der internationale Handel stockte, und die Inflationsbekämpfung im Westen mit scharf ansteigendem Dollarkurs führte zu großen Turbulenzen in der Weltwirtschaft – bis hin zu Schuldenkrisen in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern.
Interessant allerdings war, dass es dabei eben nicht zu einem dauerhaften Zusammenbruch der Integration wie in der Zwischenkriegszeit kam. Im Gegenteil, der marktwirtschaftliche Westen reagierte mit einer grundlegenden Wandlung seiner Produktionsstruktur und Produktpalette – weg vom Öl und hin zu moderner Technologie. Genau dies legte dann die Grundlage für den dynamischen Schub der Globalisierung, der einige Zeit danach ab den frühen Neunzigerjahren eintrat, nachdem der kommunistische Osten gerade wegen seiner Unfähigkeit zum marktwirtschaftlichen Strukturwandel ökonomisch und politisch zusammen-gebrochen war.
Wichtig dabei: Es war gerade die Krisenzeit, die jene gewaltigen Anpassungen in Bewegung setzte, deren es bedurfte, um schneller wieder auf die Beine zu kommen, also resilienter zu werden. Es war eben nicht die lange Epoche des schnellen Wachstums in die Breite, sondern die kritische Phase des Stockens und Stotterns, die auf einen neuen – und nachhaltigen – Pfad der Entwicklung führte. Im Ergebnis liegt darin kein schlechtes Vorbild für heute, auch wenn man das Knirschen und Knattern der damaligen Politik nicht vergessen darf. Die Siebziger- und Achtzigerjahre waren im Westen eine unglückliche Phase schwerster Konflikte und Irrtümer, im Ergebnis waren sie aber eben auch der Beginn eines erneuerten Wegs zu mehr Resilienz.
Strategie und Ziel des Westens: Einigkeit
Wessen bedarf es heute auf dem Weg zu mehr Resilienz? Zunächst vor allem der Einigkeit. Diese hat der Westen gegenüber Putin in erstaunlicher Weise bewiesen, viel mehr als viele skeptische Analysten und Beobachter vermuteten. Putins aggressiver imperialistischer Krieg gegen die Ukraine hat überall im Westen das Bewusstsein dafür geschärft, dass wir unsere Werte von Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft gemeinsam verteidigen müssen. Und der mutige Widerstand der Ukrainer gegen die russische Invasion hat einmal mehr bewiesen, wie attraktiv für andere diese Werte der Freiheit sind. Der „Westen“ steht keineswegs allein und isoliert da. Seine Werte sind die Werte der Menschheit.
In diesem neuen Selbstbewusstsein der Werte liegt ein stabiler Grund für den Ausbau der Globalisierung – im Geist eines freiheitlichen Multilateralismus. Im Kern geht es darum, dass der Westen darin die in aller Welt führende Rolle übernimmt. Er muss gegenüber einem imperialistischen Russland und einem staatskapitalistischen China jene Standards setzen, die langfristig den Rahmen für eine dynamische Weiterentwicklung der Weltwirtschaftsordnung bilden. Die Einigkeit muss also konkrete Ergebnisse nach sich ziehen. Wir brauchen pragmatische Fortschritte, nicht umfassende Umwälzungen. Nicht die ganze Komplexität des modernen internationalen Handels sollte sich in neu zu schließenden internationalen Abkommen widerspiegeln, sondern der unbedingte Wille zu mehr Freiheit und Integration. Nicht umfassende Vertragswerke – sogenannte Comprehensive Agreements – sind nötig, wohl aber starke Impulse für fairen Handel und konstruktive Zusammenarbeit.
Da wurde in der Vergangenheit viel falsch gemacht. So etwa in den transatlantischen Handelsbeziehungen: Beim Versuch, die „Transatlantic Trade and Investment Partnership“ (TTIP) zum Abschluss zu bringen, verhedderten sich die EU und die Vereinigten Staaten in den Fallstricken der eigenen Sensibilitäten, was Hygienevorschriften im Handel mit -Lebensmitteln sowie Regeln der öffentlichen Auftragsvergabe und der Schiedsgerichtsverfahren betrifft, statt diese pragmatisch zu umgehen oder besonders sensible Bereiche einfach auszuschließen. Bei CETA, dem analogen Handelsabkommen der EU mit Kanada, steht noch immer die Ratifizierung aus, weil Kritiker aufseiten der Grünen ökologische Detailbedenken äußern. Hier muss – unter Freunden – die Priorität neu bewertet werden: In einer Welt, in dem Imperialismus und Staatskapitalismus allgegenwärtig sind, dürfen Handelsabkommen nicht an derartigen Kleinigkeiten scheitern – sonst droht wirklich der Rückfall in die Dreißigerjahre.
Das Bekenntnis zu den Regeln der WTO gehört zum eisernen Bestand eines westlichen Wertekanons.
Das Bekenntnis zu den Regeln der WTO gehört zum eisernen Bestand eines westlichen Wertekanons.
Ähnliches gilt für neue Handelsabkommen und Partnerschaften mit Drittländern Afrikas und Asiens sowie Lateinamerikas. Um diese Regionen der Welt hat es in den zurückliegenden beiden Jahrzehnten einen rücksichtslosen „Wettlauf der Sympathie“ gegeben – mit allen Mitteln der werbenden Umarmung, die China und Russland einsetzten, vor allem in Afrika. Die Zwischenergebnisse dieses Wettlaufs lassen sich übrigens am Stimmverhalten afrikanischer Länder bei der Bewertung des russischen Überfalls auf die Ukraine ablesen: Die Mehrheit enthielt sich in der UN-Vollversammlung der Stimme, und zwar nicht wegen besonderer Sympathie für Putins Aggression, sondern weil man nicht in die politische Front von zwei Großmächten geraten wollte, die vor Ort kräftig investiert haben.
Die politischen Initiativen der Vereinigten Staaten und erst recht der EU wirken demgegenüber eher kleinteilig und zögerlich. Nach außen erscheinen sie oft genug wie paternalistische Anstrengungen ehemaliger Kolonialmächte, die mehr dem entwicklungspolitisch sensiblen Publikum zu Hause als den Menschen vor Ort gefallen sollen. Hier bedarf es eines grundlegenden Neustarts, der die Bedeutung des globalen Südens auch geopolitisch in den Blick nimmt. Denn sonst läuft der „Westen“ auf Dauer Gefahr, große Teile der Weltwirtschaft chinesischem und russischem Einfluss zu überlassen – mit verheerenden Folgen auch für die betroffenen Länder selbst. Diese geraten immer stärker in fatale Abhängigkeiten, die insbesondere China kaltblütig ausnutzt, um sich Quellen für wichtige Ressourcen der eigenen Hochtechnologie zu sichern.
Es wird deshalb Zeit, bereits im Entwurf vorliegende Freihandelsverträge pragmatisch und zügig abzuschließen, so etwa das EU-Handelsabkommen mit den Mercosur-Staaten Lateinamerikas. Mehr muss dann folgen: eine Investitionsoffensive im südlichen Mittelmeerraum, ein Freihandelsabkommen mit Indien, weitere Verträge mit einer Vielzahl von Ländern des globalen Südens. Es gilt, über Kontinente hinweg ein Netzwerk der Interdependenz zu schaffen, das in Handel und Direktinvestitionen die konstruktive Rolle Europas stärkt – sei es in Afrika, Asien oder Lateinamerika.
Wichtig ist dabei, dass die europäischen Länder glaubwürdig aus ihrer traditionellen Rolle als ehemalige Kolonialmächte heraustreten und dass die Verträge einen Geist der Gleichberechtigung atmen. Nur so hat man eine Chance, der gewaltig gestiegenen Rolle Chinas in den Entwicklungs- und Schwellenländern der Welt das nötige Gewicht entgegenzusetzen.
Durchsetzen von WTO-Regeln
All dies muss sich nach den Regeln der World Trade Organisation (WTO) abspielen – und nicht als Ersatz für diese. Zu Recht gehört das Bekenntnis zu den multilateralen Regeln der WTO zum eisernen Bestand eines westlichen Wertekanons. Spätestens seit ihrer Gründung 1995 als internationale Organisation (und Rechtsnachfolgerin des 1947 abgeschlossenen General Agreement on Tariffs and Trade, GATT) hat die WTO eine überragende Stellung als globaler Garant des fairen Handels, unterstützt durch ihre richterlich gesicherten Mechanismen der Streitschlichtung.
Allzu lange wurde die WTO durch die „America First“-Politik von Donald Trump geschwächt und in ihren Investitionsregeln von China missachtet, ohne dass der Westen daran Anstoß nahm. Auch damit muss es vorbei sein: Fairer Welthandel, der dieses Attribut verdient, muss nach liberalen multilateralen WTO-Regeln ablaufen, und diese müssen auch durchgesetzt werden. Dafür lohnt sich der politische Kampf, sei es gegenüber amerikanischen Rechtspopulisten oder chinesischen Staatskapitalisten. Alles in allem: Die Agenda für den Westen ist gewaltig. Sie abzuarbeiten wird Zeit brauchen. Aber es wird sich lohnen, denn es war schon in der Vergangenheit vor allem die weltwirtschaftliche Integration, die Milliarden von Menschen die Chance eröffnet hat, aus bitterer Armut in einen wenigstens bescheidenen Wohlstand hineinzuwachsen. So muss es auch in Zukunft sein – auf dem Weg zu einem breiten Mittelstand in aller Welt. Die Globalisierung muss weitergehen, aber bitte in Freiheit.
Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er ist Volkswirt mit einem Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft. Die weltwirtschaftliche Entwicklung beschäftigt ihn seit seinem Studium in den Siebzigerjahren. Die Globalisierung ist eines seiner Lebensthemen. Seine Meinung: Sie darf und sie wird nicht scheitern.
Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Er ist Volkswirt mit einem Lehrstuhl für Internationale Wirtschaft. Die weltwirtschaftliche Entwicklung beschäftigt ihn seit seinem Studium in den Siebzigerjahren. Die Globalisierung ist eines seiner Lebensthemen. Seine Meinung: Sie darf und sie wird nicht scheitern.
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