RUSSLAND
Seit Jahrzehnten lässt sich der Westen von Russland blenden. Wenn Europa nicht - schnell und vereint reagiert, droht ein Konflikt auf dem ganzen Kontinent.
Text: Petro Burkovskiy
RUSSLAND
Seit Jahrzehnten lässt sich der Westen von Russland blenden. Wenn Europa nicht - schnell und vereint reagiert, droht ein Konflikt auf dem ganzen Kontinent.
Text: Petro Burkovskiy
Der Kiewer Vorort Butscha hat seit April 2022 eine gruselige Bedeutung. Nicht nur, weil er zum Synonym für die systematische Vernichtung von Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zur ukrainischen Gemeinschaft wurde. Sondern auch, weil er zugleich den Zynismus der europäischen Eliten entlarvte, die lange Zeit die Augen vor dem russischen Regime verschlossen hatten. Wie hat das begonnen? Im Februar 2007 kritisierte der russische Präsident Wladimir Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Machtpolitik der USA. Die Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen dürfe nur auf Grundlage der UN-Charta erlaubt sein. Er versprach eine freie und offene Marktwirtschaft in Russland. Gleichzeitig leugnete er die brutale Unterdrückung der Opposition in Russland, Folter, Mord und Entführungen in Tschetschenien sowie die Teilhabe am Atomprogramm im Iran.
Der Eindruck entstand, dass Russland ein offenes und demokratisches Land wird, das verantwortungsvoll handelt und wirtschaftlich mit seinen europäischen Nachbarn zusammenarbeitet. Im Gegenzug wollte Putin nur wenig: die Umwandlung der NATO von einem Verteidigungsbündnis in eine politische Organisation. Außerdem sollten die europäischen Staaten ihre Beziehungen zu Russland nicht mehr davon abhängig machen, wie demokratisch oder autokratisch das russische Regime sei. Mit dem Begriff „souveräne Demokratie“ rechtfertigte er Autoritarismus. Putin erreichte sein Ziel: Bis zum 24. Februar 2022 hielten viele europäische Politiker Russland für vertrauenswürdig oder fanden, dass Russland ein Recht darauf habe, seine Grenzen vor der NATO-Erweiterung zu schützen.
Ein langer Weg in die Autokratie
Tatsächlich aber bewegte sich Russland bereits seit dem Machtantritt Putins im Jahr 2000 in Richtung Autokratie. Er stellte das Narrativ des KGB wieder her: Die sowjetische Geheimpolizei und der Geheimdienst betrachten die demokratische Welt als einen Feind, der zerstört werden müsse. Als Zögling des KGB wollte Putin Revanche für den Zusammenbruch der UdSSR, den er als eine persönliche Niederlage betrachtete.
Deshalb bluffte er, als er Demokratie und Marktwirtschaft versprach. Im eigenen Land konnte er die Bedrohung durch die NATO nutzen, um die Militärausgaben zu erhöhen. In der Außenpolitik belohnte Putin Führungspersönlichkeiten und Regierungen, die ihre nationalen Interessen vor gesamteuropäische oder amerikanische Interessen stellten: Silvio Berlusconi, Nicolas Sarkozy, Gerhard Schröder, Robert Fico und Viktor Orbán nahmen enge Beziehungen zum Kreml auf.
Nach der Aggression
Auch nach der russischen Aggression gegen die Ukraine blufft Putin weiterhin mit einem „normalen Russland“. Er droht mit Vergeltung – notfalls mit Atomwaffen – für die Verletzung der „russischen Sicherheit“, zu der die Kontrolle über ukrainische Gebiete gehöre. Allerdings gibt es bislang keine Anzeichen einer Vorbereitung auf den Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Putin könnte jedoch gefährlich eskalieren, wenn in Europa weiterhin Politiker Russlands Eroberungen durch einen Waffenstillstand anerkennen wollen. Mit Aufrufen zur Verhandlungsbereitschaft will der Kreml Europas Politiker verunsichern. Sie sollen die Augen vor Massenhinrichtungen, Folterlagern und der Bombardierung friedlicher ukrainischer Städte verschließen – genauso wie vor der Tatsache, dass Russland einen Krieg führt, der eine ganze europäische Nation vernichten soll. Putin bietet stattdessen sichere Beziehungen an, wenn seine Forderungen berücksichtigt werden.
Russland verfügt immer noch über genügend Mittel, um Europa zu spalten: Erdöl, Kohle und Erdgas. Angesichts der sehr hohen Energiepreise mobilisieren die russischen Geheimdienste die Diaspora zu Protesten gegen die „Schädlichkeit“ der EU-Sanktionen. Mit Erfolgen in Frankreich bei Marine Le Pen, in Italien bei den Parteien „Lega“ und „Forza Italia!“ und in Deutschland in der AfD und bei der Linkspartei. Zugleich nährt Russland die Illusion, dass der Krieg nur das Ziel habe, die Ukraine zu „entmilitarisieren“ und zu „entnazifizieren“.
Dagegen sprechen jedoch die Ideen, mit denen Putin den Krieg rechtfertigt. Zum einen mit der historischen Mission Russlands, all jene in einem Land zu versammeln, die „traditionelle russische Werte“ tragen: die Sprache, den orthodoxen Glauben, die Traditionen russischer Kultur und Literatur. Dies bezeichnet der Kreml als „russische Welt“. Weil die russische Diaspora in Europa derzeit sehr aktiv ist – in Italien, Deutschland, Lettland und Finnland –, sind dies für die russische Führung legitime Gründe, gegen weitere Länder aggressiv vorzugehen.
Putin nährt die Illusion, es gehe nur darum, die Ukraine zu „entmilitarisieren“ und zu „entnazifizieren“. Dagegen spricht einiges.
Zerbombte Ruinen in Charkiw in der Ukraine. Nur ein vereintes Europa kann verhindern, dass Russland weitere Staaten angreift und zerstört.
Zum anderen pflegt Putin den Mythos des „Großen Sieges“: Josef Stalin habe die russische Gesellschaft auf große Opfer vorbereitet. Dieses Verfügungsrecht über das Leben der Menschen ist aber ein wichtiges gemeinsames Merkmal des Stalinismus und des Nationalsozialismus Hitlers. Derzeit führt Putin mit der Mobilisierung in Russland ein schreckliches Experiment durch. Zwar scheint eine solche Konzentration von Ressourcen und Kontrolle ungerechtfertigt, wenn es nur um den zerstörten Donbass, die Cherson-Steppe und die Krim geht. Wenn jedoch der Westen schwach und verspätet reagiert, könnte Putin die Mobilisierung nutzen, um weitere Nachbarstaaten unter Druck zu setzen.
Putin spricht ständig von einer „multipolaren Welt“. Der russische Präsident betrachtet sich dabei nicht als „Vetospieler“ oder als Anführer einer „Großmacht“ – wie die USA und die Volksrepublik China –, sondern als Hegemon. Als Herrscher eines Siegerstaates, dem die anderen für ihre Sicherheit und Existenz dankbar sind. Deshalb sagt er trotz der Niederlagen in der Ukraine weiterhin: „Wir haben es noch nicht wirklich angefangen.“ Das hätten auch Hitler und Stalin sagen können, als sie im September 1939 Polen überfielen. Die Geschichte aber wiederholt sich nicht. Vorausgesetzt, die freien europäischen Nationen weisen die russischen Mythen zurück und lassen sich von Putin nicht mehr bluffen.
Petro Burkovskiy ist Exekutivdirektor der „Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation“, einem der ältesten und einflussreichsten ukrainischen Thinktanks.
Petro Burkovskiy ist Exekutivdirektor der „Ilko Kucheriv Democratic Initiatives Foundation“, einem der ältesten und einflussreichsten ukrainischen Thinktanks.
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