ANSCHLUSS VERPASST?
Ist die Verkehrsanbindung in die Stadt gut, dann macht das Leben auf dem Land Lust. Der Ausbau der Infrastruktur ist also eine Frage der Chancengleichheit.
Text: Daniel Zwick
Illustrationen: Emmanuel Polanco
ANSCHLUSS VERPASST?
Ist die Verkehrsanbindung in die Stadt gut, dann macht das Leben auf dem Land Lust. Der Ausbau der Infrastruktur ist also eine Frage der Chancengleichheit.
Text: Daniel Zwick
Illustrationen: Emmanuel Polanco
Der Bahnhof von Wittenberge ist ein Schmuckstück. Mitte des 19. Jahrhunderts im klassizistischen Stil errichtet, wird er derzeit neu ausgebaut. Die Kleinstadt im Nordwesten Brandenburgs hat mit dem Gebäude viel vor; ein Technologiezentrum soll hier entstehen, in der Nähe eine Augenklinik. Dabei ist nicht die Architektur entscheidend, sondern der Standort: Wittenberge liegt direkt an der Bahnlinie von Hamburg nach Berlin, und zwar ziemlich genau in der Mitte. Das hat den kleinen Ort einst zur Industriestadt gemacht. „Ohne den Anschluss an das Fernverkehrsnetz würde es die Stadt Wittenberge in ihrer heutigen Form nicht geben“, sagt Bürgermeister Oliver Hermann, ein promovierter Historiker. Nun entwickelt sich die Bahn wieder zum entscheidenden Wirtschaftsfaktor, vor allem der ICE.
Neue Verkehrsinfrastruktur für überalterte Regionen?
Weil Straßen, Bahnstrecken und Flüsse die Grundlage wirtschaftlicher Entwicklung sind, fordern Kommunalpolitiker und Unternehmer fast immer eine bessere Verkehrsanbindung. Besonders dann, wenn ihre Region weitab von Großstädten liegt. Dabei geht es um Wohlstand, um Gerechtigkeit und die Chance, auf dem Land gut zu leben. Die Prioritäten haben sich indes verschoben: Für die Anbindung ländlicher Räume ist es heute entscheidend, wie schnell sich Pendler bewegen können. Die Transportkosten von Gütern seien für eine exportorientierte Wirtschaft zwar wichtig, sagt Gabriel Ahlfeldt, Ökonomieprofessor an der London School of Economics. In diesem Bereich seien aber die meisten Effizienzgewinne bereits eingefahren. Die Bundesrepublik hat ein sehr eng verflochtenes Verkehrsnetz mit 229 600 Kilometern außerörtlichen Straßen und 38 400 Kilometern Schienen. „Heute ist es in Deutschland relevanter, darauf zu schauen, wie Menschen fortbewegt werden“, sagt Ahlfeldt. Das betrifft vor allem ländliche Räume, die demografisch überaltern und aus denen Fachkräfte wegziehen.
Lohnt es sich überhaupt, in solche Gebiete noch Autobahnen oder Gleise zu bauen? Die Grundkonzeption des Bundesverkehrswegeplans formuliert das Dilemma so: Es gelte zu verhindern, „das Infrastrukturangebot dort zu erweitern, wo es aufgrund demografischer Veränderungen auf längere Sicht nicht gesamtwirtschaftlich sinnvoll ist. Gleichwohl besteht die Herausforderung, auch für strukturschwache Räume mit zurückgehender Bevölkerung eine Grundversorgung sicherzustellen.“ Verkehrsplaner antworten darauf mit Kosten-Nutzen-Rechnungen: Sie setzen die wirtschaftlichen Gewinne, die ein neuer Verkehrsweg mit sich bringt, mit den gesellschaftlichen Verlusten ins Verhältnis – Flächenverbrauch, Lärm oder CO2-Emissionen.
Neben dieser Rechnung muss die Politik aber noch einer anderen Frage folgen: Wo wollen die Bürgerinnen und Bürger leben? Aus dieser Perspektive ist der Ausbau von Infrastruktur eine Gerechtigkeitsfrage. „Wenn man Verkehrsplanung nur am Bedarf orientiert, dann läuft man Gefahr, bestimmte Landstriche zu verlieren. Dass Leute dazu gezwungen sind, ihre Region zu verlassen, wie wir es jahrzehntelang in Ostdeutschland gesehen haben, kann nicht die Lösung sein“, sagt Ahlfeldt. Stattdessen wären Anbindungen der Regionen an den jeweils nächsten „Wachstumskern“ sinnvoll, und zwar in einer „pendelbaren Reichweite“. Beispielsweise mit einer schnellen Zugverbindung.
Wer die Verkehrsplanung nur am Bedarf orientiert, riskiert, bestimmte Landstriche zu verlieren.
Das ist gerade zwischen Stuttgart und Ulm geschehen. Mit der Eröffnung der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke im Dezember sind kleinere Orte zeitlich näher an die Großstädte gerückt. Vom neuen Bahnhof Merklingen, direkt an der Autobahn A 8, dauert es zwölf Minuten in die Ulmer Innenstadt; nach Stuttgart soll der Zug künftig eine halbe Stunde brauchen. Von solchen Verbindungen profitiert der ländliche Raum. „Der wesentliche Effekt einer ICE-Anbindung ist, dass man auch in dünn besiedelten Bereichen qualifizierte Arbeitskräfte gewinnen kann, die dort nicht wohnen“, sagt Ahlfeldt. Das zeigt sich in Orten wie Limburg oder Montabaur mit ihren politisch gewollten Haltestellen an der ICE-Strecke zwischen Köln und Frankfurt. Beide Städte haben wirtschaftlich profitiert, in Montabaur ist um den neuen Bahnhof ein Gewerbegebiet entstanden, inklusive „Designer-Outlet-Center“.
Das ist gerade zwischen Stuttgart und Ulm geschehen. Mit der Eröffnung der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke im Dezember sind kleinere Orte zeitlich näher an die Großstädte gerückt. Vom neuen Bahnhof Merklingen, direkt an der Autobahn A 8, dauert es zwölf Minuten in die Ulmer Innenstadt; nach Stuttgart soll der Zug künftig eine halbe Stunde brauchen. Von solchen Verbindungen profitiert der ländliche Raum. „Der wesentliche Effekt einer ICE-Anbindung ist, dass man auch in dünn besiedelten Bereichen qualifizierte Arbeitskräfte gewinnen kann, die dort nicht wohnen“, sagt Ahlfeldt. Das zeigt sich in Orten wie Limburg oder Montabaur mit ihren politisch gewollten Haltestellen an der ICE-Strecke zwischen Köln und Frankfurt. Beide Städte haben wirtschaftlich profitiert, in Montabaur ist um den neuen Bahnhof ein Gewerbegebiet entstanden, inklusive „Designer-Outlet-Center“.
Geänderte wirtschaftliche Vorzeichen
Natürlich gab es gegen den Bau der Strecke durch den Westerwald Proteste von Umweltschützern, wenn auch nicht so rabiat wie zuletzt im Dannenröder Forst in Hessen, durch den die A 49 gebaut wird. Die Grünen fordern, generell keine neuen Autobahnen mehr zu bauen. Die FDP will die wenigen Lücken im bundesweiten Netz noch schließen. Der laut Autobahn GmbH „größte autobahnfreie Raum Deutschlands“ liegt bei Wittenberge. Dort soll die Lücke der A 14 zwischen Magdeburg und Schwerin geschlossen werden. Eine 1,1 Kilometer lange Brücke über die Elbe und weitere Teile der Strecke sind schon im Bau.
Bürgermeister Hermann sieht in der Autobahn eine „notwendige Bedingung“ für Wachstum. Es hätten sich einige Betriebe in Wittenberge angesiedelt, die darauf setzen, dass der Großraum Halle/Leipzig und die Seehäfen künftig schneller zu erreichen sind. „Wir haben zahlreiche Anfragen von Unternehmen, die sich hier ansiedeln wollen. Inzwischen nehmen wir aber nicht mehr alle“, sagt Hermann. Ein zu hoher Wasser- oder Energieverbrauch passe beispielsweise nicht in die Nachbarschaft eines UNESCO-Biosphärenreservats.
Die wirtschaftlichen Vorzeichen haben sich verändert, und damit der Verkehrsbedarf. „Früher brauchten wir Arbeitsplätze, heute brauchen wir Arbeitskräfte. Der Schwerpunkt der Politik ist nun die Lebensqualität“, sagt der Bürgermeister. Hochqualifizierte Fachkräfte pendeln eher mit dem ICE als mit dem Auto. Dazu zählen auch der örtliche Hautarzt, der Radiologe und Mediziner im Krankenhaus. „Die Sicherung solcher Grundfunktionen hängt an der Fernzuganbindung“, stellt Hermann fest.
Ohne den Anschluss ans Fernverkehrsnetz würde es Wittenberge in seiner heutigen Form nicht geben.
Im Internet spielt der Standort keine Rolle
Diese Anbindung will er künftig stärker nutzen. Wenn der „Deutschlandtakt“ der Bahn kommt, sollen am Bahnhof stündlich gleichzeitig Züge aus Berlin und Hamburg halten. Sie könnten Arbeitskräfte bringen und Patienten für die geplante Augen-Tagesklinik. Mit etwa einer Stunde Fahrtzeit in beide Richtungen wird Wittenberge Teil zweier Ballungsräume. „Bis Anfang der 2000er-Jahre war Berlin wie ein Magnet, der viele Einwohner von hier weggezogen hat. Jetzt gibt es einen Gegentrend, raus aus Berlin“, sagt Hermann.
Die Zahl der Einwohner von derzeit rund 17 000 Menschen wächst wieder. Dabei hat auch der Trend zum Home-office geholfen. Wer nicht mehr jeden Tag ins Büro muss, nimmt längere Pendelwege in Kauf. Nur der Ausbau des Nahverkehrs bleibt schwierig. Auf der „letzten Meile“ vom Bahnhof nach Hause könne man keinen „Großstadtservice“ bieten, gibt Hermann zu. Der Internetanschluss in Wittenberge soll schon bald richtig schnell werden. Er ist so wichtig wie Straße und Schiene; verbindet nicht nur die mobilen Arbeiter mit ihren Kollegen, sondern kompensiert auch den Mangel an Einkaufsmöglichkeiten auf dem Land. Im Netz spielt der eigene Standort keine Rolle mehr.
Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur bei „Welt“ und „Welt am Sonntag“. Er schreibt vor allem über den Strukturwandel in der Automobilindustrie und über neue Mobilität. In seiner Heimatstadt Berlin fährt er fast immer mit dem Fahrrad.
Daniel Zwick ist Wirtschaftsredakteur bei „Welt“ und „Welt am Sonntag“. Er schreibt vor allem über den Strukturwandel in der Automobilindustrie und über neue Mobilität. In seiner Heimatstadt Berlin fährt er fast immer mit dem Fahrrad.
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