Palästina
Wenn Palästinenserinnen und Palästinenser in Frieden leben wollen, müssen sie sich vom Wunsch nach der Zerstörung Israels verabschieden und an eigene liberale Traditionen anknüpfen.
Text: Tom Khaled Würdemann
Palästina
Wenn Palästinenserinnen und Palästinenser in Frieden leben wollen, müssen sie sich vom Wunsch nach der Zerstörung Israels verabschieden und an eigene liberale Traditionen anknüpfen.
Text: Tom Khaled Würdemann
Ramallah im Frühling 2022. Ein älterer Herr steht aus seinem Sessel auf und geht zu einem der vielen Bücherregale. Er sucht ein Buch, dann hat er es gefunden: Alexis de Tocqueville, „Über die Demokratie in Amerika“, im französischen Original. Er dreht sich um und sagt: „Wir brauchen mehr Männer und Frauen wie Tocqueville.“
Der ältere Herr ist Arzt, er hat in Deutschland studiert. Seine Berufung aber ist das Übersetzen. Er überträgt deutsche Bücher ins Arabische. Weit vor dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 überlegte er, Bücher wie Dahrendorfs „Lebenschancen“ oder Sofskys „Die Ordnung des Terrors“ zu neuen Projekten zu machen. Sein Lebensthema ist das Verstehen, das Brückenbauen zwischen Kulturen. Er ist ein klassischer arabischer Intellektueller seiner Generation – beseelt von der Hoffnung, dass das geschriebene Wort die Welt verändern kann. Er ist ein scharfsinniger und doch liebevoller Kritiker seines Landes. Eines Landes namens Palästina, das bis heute nur von einem Teil der Welt anerkannt wird.
Palästinenser kennen den Wert der Bildung. Ihre erzwungene Mobilität ist nicht nur Trauma, sondern auch Stärke. Palästinensische Ingenieure und Ärzte haben über Jahrzehnte die arabischen Ölstaaten am Laufen gehalten und palästinensische Intellektuelle die arabische Geisteswelt. Denker wie Edward Said haben sogar global einen bis heute nachwirkenden Fußabdruck hinterlassen. Warum vermisst der ältere Herr dann einen Alexis de Tocqueville? „Wir haben zu wenig Interesse an der Gegenseite, zu wenig Interesse an den Israelis als Menschen, nicht als Feinden. Ihre Ängste und Wünsche haben wir nie ernst genug genommen“, lautet seine Antwort.
Tradition der Zerstörung
Tocqueville war aber nicht nur scharfsinniger Beobachter einer anderen Gesellschaft, der gleichzeitig von ihr lernen und sie kritisieren konnte, sondern auch ein überzeugter Liberaler der westlichen Tradition. Vielleicht ist das sogar der wichtigere Punkt. Denn die bestimmende Traditionslinie der palästinensischen Intellektuellen war stets eine linke. Sie suchte nach dem großen Umschwung, der die als Unrecht empfundene Gründung Israels rückgängig machen sollte. Egal, ob durch Gewalt, wie die „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ unter George Habash, oder durch die große Utopie, wie bei Edward Said. Das Kernproblem – geradezu die Ursünde – der palästinensischen Nationalbewegung haben sie damit perpetuiert: Im sich entwickelnden Konflikt mit der jüdischen Nationalbewegung, dessen Beginn um das Jahr 1910 datiert, wurde der Anspruch auf die Zerstörung der zionistischen Aspiration um jeden Preis die dominierende Zielsetzung, erst recht unter der Führung des antisemitischen Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini. Wahllose antijüdische Gewalt war dazu spätestens ab dem Pogrom von Hebron 1929 probates Mittel.
Brücke zum Extremismus
Dabei hatte es vorher positivere Ansätze gegeben: Der erste Kontakt eines palästinensischen Intellektuellen mit der zionistischen Bewegung fand 1899 statt. Der Politiker und Gelehrte Yusuf Zia al-Khalidi schrieb einen Brief an Theodor Herzl, von dessen „zionistischem Weltkongress“ er in der Presse gelesen hatte. Al-Khalidi betonte seine Sympathie mit den Juden und der zionistischen Idee: „Ich betrachte euch Juden als Verwandte (…). Wer könnte den jüdischen Anspruch auf Palästina bestreiten? Historisch ist es euer Zuhause!“
Zwar endete der Brief mit der deutlichen Ansage, dass nun ein anderes Volk das Land bewohne und dieses daher keine Terra nullius für einen jüdischen Staat sein könne. Aber al-Khalidis empathische Sichtweise hätte die Basis für eine Kompromisslösung bilden können. Leider entschieden palästinensische Führer anders, was bis heute nachwirkt. Den palästinensischen Intellektuellen fehlte damals die Fähigkeit, zu erkennen, dass die Utopie nicht immer das Richtige ist – und, im Falle religiöser oder nationaler Endsieg-Fantasien, sogar die Hölle auf Erden sein kann. Damit haben sie, meist ohne es zu wollen, eine Brücke zum Dschihadismus und Extremismus geschlagen.
Ähnliches lässt sich über die frühen Fehler der zionistischen Bewegung sagen. Schon Herzls Antwort auf al-Khalidis Brief von 1899 war ziemlich fadenscheinig: Al-Khalidis Sympathie für das jüdische Volk ehre ihn, aber er solle nichts befürchten. Es sei nicht das Ziel des Zionismus, in Palästina einen jüdischen Staat zu errichten. So wurde damals versäumt, eine Basis für ein vertrauensvolles Miteinander oder zumindest für einen belastbaren Interessensausgleich zu legen.
Ein palästinensischer Intellektueller, der das verstanden hatte, war der 2005 verstorbene Hisham Sharabi. Geboren in Jaffa, durch den Krieg 1948 heimatlos gemacht, verbrachte er sein Leben zwischen einer Professur in Georgetown und dem Aktivismus für ein unabhängiges Palästina. Obwohl gewiss kein Freund des Zionismus, hatte er verstanden, dass nur Realismus den Weg aus der Tragödie ebnen würde. Ebenso hatte er verstanden, dass die Israelis weder ein Bedürfnis nach utopischen Experimenten hatten noch irgendwann einfach aufhören würden zu existieren. Daher setzte er sich vehement für die Zweistaatenlösung ein, obwohl er die Unfähigkeit der patriarchal geführten PLO zum modernen State Building früh gesehen hatte.
Sharabi war, nach einem frühen Abstecher in die radikale Rechte und einem späteren in die radikale Linke, ein klassischer arabischer Liberaler, der Autokratien, Staatssozialismus und Islamismus genauso kritisierte, wie er die Zweistaatenlösung in Palästina und Israel unterstützte. Sein Interesse an utopischen Fantasien war gering. Umso größer war sein Interesse an der Befreiung der arabischen Frauen und an der Entwicklung demokratischer Institutionen. Obwohl er Israel in den Oslo-Verhandlungen nicht traute, sah er die größere Verantwortung bei seiner Seite: die Schaffung eines tragfähigen palästinensischen Gemeinwesens, einer demokratischen Nation.
Zurück zu dem älteren Herrn in Ramallah. Gespräche möchte er derzeit nicht führen: „Jetzt herrscht die Brutalität, nicht das Wort.“ Er hat recht. Aber wenn die Zukunft anders werden soll, muss sich eine palästinensische Identität entwickeln, in der das linke, postkoloniale Modell der „nationalen Befreiung“ um ein liberales Modell von individuellen Lebenschancen und um die demokratische Liebe zum Kompromiss erweitert wird. Auch wenn die Chancen dafür derzeit nicht besonders gut stehen.
Tom Khaled Würdemann ist Historiker und Nahostwissenschaftler und arbeitet am Zentrum für Transkulturelle Studien in Heidelberg. Er promoviert über die palästinensische Nationalbewegung.
Tom Khaled Würdemann ist Historiker und Nahostwissenschaftler und arbeitet am Zentrum für Transkulturelle Studien in Heidelberg. Er promoviert über die palästinensische Nationalbewegung.
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