Best of Literatur

„Liberale Musik“

Ein Versuch in vier Akten

von Svenja Schnepel

Ouvertüre

„Die neue Klasse: Eine Analyse des kommunistischen Systems“
(1957)

Musik und Freiheit – eine leidenschaftliche Beziehung zwischen akustischem Konkretum und abstraktem ­Fundamentalwert.

I. Akt:

Freiheit als Sujet der Musik

Genreübergreifend steht die ­Freiheit häufig im Mittelpunkt musikalischer Werke: Aus dem energischen Kampf eines unterdrückten Kollektivs gegen Willkür und Fremdherrschaft geht sie in Beethovens einziger Oper „Fidelio“ ebenso siegreich hervor wie in Rossinis „Guillaume Tell“. Beyoncé nahm sich gut zweihundert Jahre später in „Freedom“ musikalisch der Black-Lives-Matter-­Bewegung an. Jeder Zeit gebühren ihre eigenen Klänge der Freiheit.

II. Akt:

Freiheiten der Musik

Wie viel Freiheit erträgt Musik? Wie viel Struktur benötigt sie? Fragen dieser Art provozieren den Innovationsgeist von Komponisten. Man denke nur an die Entwicklung der Neuen Musik mit Schönbergs Zwölftontechnik (Berg: „Oh Freiheit“ aus dem 2. Akt der „Lulu“), den Glauben an eine Gleichberechtigung der Töne und die Hinzunahme elektronischer Klänge (Karlheinz Stockhausen: „Hymnen“) oder an den Jazz mit seinen Improvisationen. Astor Piazzolla begründete den argentinischen Tango Nuevo („Libertango“). Freiheit heißt eben auch: Ausreizen der Grenzen.


III. Akt:

Freiheit durch Musik

Musik macht Ethnie, Stand oder Geschlecht zur Nebensache. Das gemeinschaftsstiftende, zuweilen völkerverständigende Element tritt in den Vordergrund und entfaltet eine große Kraft im Kampf um die Freiheit (Shervin Hajipour: „Baraye“). Andere Beispiele sind die „Singende Revolution“ in den baltischen Staaten (Boriss Rezniks: „Bunda jau Baltija“) oder das internationale Arbeiterliedgut („Brüder zur Sonne, zur Freiheit“). Musik bietet zudem die Chance einer inneren Befreiung aus einer unerträglichen Situation wie der Haft im KZ (Ilse Weber: „Wiegala“) oder ein spirituelles Loslassen des Sich-im-Moment-Verlierens (Nils Frahm: „Says“). So ist die Musik auch Ermöglicherin von Freiheit.

IV. Akt:

Musik der Freiheit

Musik kann als Ikone der Freiheit interpretiert werden. Traditionsreiche Volkslieder („Die Gedanken sind frei“) oder die symbolisch aufgeladene „Ode an die Freude“ aus Beethovens 9. Sinfonie, die bis heute bei vielen Protesten und Feiern zu hören ist, haben große Macht. Und wer kennt sie nicht, die Hymnen eines besonderen ­Moments oder eines Gefühls (Scorpions: „Wind of Change“, David Hasselhoff: „Looking for Freedom“, Hymne der Jungen Liberalen)? Von Nationalhymnen mit Freiheitsbezug sei ganz zu schweigen (z. B. Griechenland, Ukraine und Äquatorialguinea).

Finale

„Freedom: An Unruly History“
(2023)

Freiheit und Musik – eine Symbiose. Doch warum gibt es keine „Hymne der Freiheit“, vergleichbar etwa mit der „Internationalen“? Vielleicht liegt die Antwort in der fundamentalen Gemeinsamkeit von Musik und Freiheit: in ihrer Vielfalt.

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