Ukraine

Macht’s einfach!

Der Wiederaufbau der Ukraine beschäftigt schon heute die Menschen. Doch wer Rechtsstaatlichkeit und eine freie Marktwirtschaft fördern will, sollte auf möglichst einfache Regeln setzen. Je komplizierter das Regelwerk, desto schneller kommt die Korruption zurück.

Text: Nataliya Melnyk und Dmytro Boyarchuk

Quo vadis, Ukraine? Die Antwort auf diese Frage erscheint ziemlich offensichtlich – die Zukunft der Ukraine liegt in der Europäischen Union. So begrüßte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den jährlichen Erweiterungsbericht der Europäischen Kommission, der am 8. November 2023 veröffentlicht wurde – und genau dies zum Thema hatte –, als einen „historischen Schritt“.

Es bleibt jedoch abzuwarten, wie es weitergeht. Die Verhandlungen werden sich wahrscheinlich über Jahre hinziehen, zumal es keine Anzeichen dafür gibt, dass die Ukraine den Krieg in naher Zukunft gewinnt. Zu all den Toten und Vertriebenen, den immensen Schäden an Wohnraum, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsversorgung und der Infrastruktur kommen noch Millionen von nicht explodierten Minen, Streubomben und Sprengfallen hinzu.

Ukraine

Macht’s einfach!

Viele Menschen in Deutschland haben das Vertrauen in die staatliche Ordnung verloren. Dringend muss die Mitte die Zuversicht in die liberale Ordnung stärken. Aber nicht, indem sie sich an extremen Meinungen aufreibt, sondern durch eine geduldige und lebhafte Auseinandersetzung ­mit den Themen, die die Menschen bewegen.

Text: Stefan Kolev


Die Zukunft des Landes ist also mit großer Unsicherheit behaftet. Sie reicht weit über die übliche Frage „Wann und wie wird der Krieg enden?“ und die wichtigste Frage „Was genau werden wir wieder aufbauen?“ hinaus.

Das Land steht vor großen Herausforderungen

Dennoch ist für uns glasklar, dass eine schwache, korrupte und instabile Ukraine eine Belastung wäre – für sich selbst und die ganze Region. Die Invasion hat gezeigt, dass die Ukraine nicht nur eine Pufferzone zwischen dem Westen und Russland ist, sondern auch ein Verbündeter, dessen Stärke und Entwicklung Schlüssel zu regionaler und globaler Sicherheit und Stabilität sind. Auch nach Kriegsende wird die russische Bedrohung nicht verschwinden, und es liegt an der Ukraine (natürlich in Partnerschaft mit dem kollektiven Westen), sie abzuschrecken.

Mit anderen Worten: Welcher der zahlreichen Pläne für den Wiederaufbau auch immer am Ende den Prozess gestalten und leiten wird, er muss zu einem starken, selbstständigen und wirtschaftlich weitgehend freien Land führen.

Der Versuch, die Uhr zurückzudrehen und zu dem Zustand vor der Invasion zurückzukehren, ist dabei keine Option. Denn das war eine Ukraine, die wir gerne überwinden wollen, ein Land, das als durch und durch korrupt, institutionell schwach, von ausländischer Hilfe abhängig und wirtschaftlich unfrei galt.freien Land führen.

Auf den ersten Blick scheint die Lösung klar zu sein: Durch mehr Rechtsstaatlichkeit wird die Ukraine irgendwann Teil der EU werden. Doch schon der Ansatz für den langen und schwierigen Weg zum funktionierenden Rechtsstaat in der Ukraine entscheidet darüber, ob die Bemühungen erfolgreich sind oder die Ukrainer nach einem Jahrzehnt der Umsetzung anspruchsvoller EU-Vorschriften „EU-müde“ werden.

Ein unzuverlässiger Rechtsstaat

Zunächst gilt es zu erkennen, dass der Rechtsstaat in der Ukraine traditionell nicht schwach ist, wie Finanzinstitutionen oft suggerieren, sondern vielmehr suboptimal und unzuverlässig. Diese Tatsache ändert zwar nichts an dem Ziel, Reformen in der Justiz und bei der Strafverfolgung für eine funktionierende Rechtsstaatlichkeit voranzutreiben, wirkt sich jedoch erheblich auf die Wirtschaftspolitik und die Strategien aus, die westliche Partner in der Ukraine umsetzen wollen.

Denn „schwache“ Rechtsstaatlichkeit heißt, dass Justiz- und Strafverfolgungssysteme zwar im Allgemeinen funktionieren, aber gelegentlich versagen. Im Gegensatz dazu bedeutet „unzuverlässige“ Rechtsstaatlichkeit, dass diese Systeme kaum funktionieren. In einem Umfeld mit „schwacher“ Rechtsstaatlichkeit können die Behörden auf der Grundlage von Vorschriften Strategien entwickeln, um Versagen zu minimieren. In einem „unzuverlässigen“ rechtsstaatlichen Umfeld wirken schriftliche Gesetze jedoch wenig, weil informelle Beziehungen vorherrschen und das Leben nach dem „Business as usual“-Prinzip ­weitergeht. Je größer die Diskrepanz zwischen schriftlichen Regeln und informellen Beziehungen ist, desto mehr Korruption erzeugen diese schriftlichen Regeln. Die Ukraine funktioniert eher auf der Grundlage informeller horizontaler Beziehungen als auf der Grundlage schriftlicher Regeln.

Gesetze der Realität

Wie der Rechtsstaatlichkeitsindex der Weltbank deutlich macht, gibt es einen großen Unterschied zwischen den osteuropäischen Ländern in den 1990er-Jahren und der Ukraine. Länder wie Polen, die Slowakische Republik und die baltischen Staaten verfügten zu der Zeit bereits über eine funktionierende Justiz, die zur soliden Grundlage für weitere Reformen wurde.

Die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine dagegen stagniert seit der Auflösung der Sowjetunion. Selbst 2020 lag das Niveau der ukrainischen Justiz- und Strafverfolgungssysteme im Index noch unter dem, das die osteuropäischen Länder in den 1990er-Jahren erreicht hatten.

Die Ukraine funktioniert eher auf der Grundlage informeller horizontaler Beziehungen als auf der Grundlage schriftlicher Regeln.

Weil nun formale Regeln in der Ukraine dem Gewohnheitsrecht oder – anders ausgedrückt – informellen horizontalen Netzwerken untergeordnet sind, ist die Entwicklung ausgefeilter und ehrgeiziger wirtschaftlicher Strategien, die sich erheblich auf das Einkommen und den Lebensstil von Millionen von Ukrainern auswirken würden, ziemlich aussichtslos. Es besteht ein erhebliches Risiko, dass solche Strategien die Kluft zwischen den geschriebenen Regeln und der Realität vergrößern und ungewollt zu mehr Korruption führen. Die überstürzte Anwendung von EU-Richtlinien in einem Umfeld, das von informellen horizontalen Netzwerken beherrscht wird, könnte also im Gegenteil das Wirtschaftsleben der Ukraine beeinträchtigen.

Nur einfache Regeln funktionieren

Deshalb müssen wir zunächst die Grundlagen – einen funktionierenden Rechtsstaat – schaffen, ehe wir ausgefeilte Vorschriften verabschieden. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine für die Umsetzung anspruchsvoller politischer Maßnahmen nicht robust genug ist und es außerdem keinen schnellen Aufbau einer funktionierenden Justiz gibt.

Der einleuchtendste Ansatz in einem Umfeld ohne verlässliche Grundstrukturen ist also die Einfachheit in der Wirtschaftspolitik.

Gewiss können ausgefeilte Rechtsvorschriften und fortschrittliche Regeln bestimmte Fragen präziser regeln, sie schaffen aber auch mehr Raum für unterschiedliche Auslegungen. Dies führt häufig zu Situationen, in denen der Staat und seine Bürger unterschiedliche Auffassungen von ein und demselben Sachverhalt haben, der dann gerichtlich geklärt werden muss.

Das stellt in Gesellschaften mit starken Justiz- und Strafverfolgungssystemen kein großes Problem dar. In Ländern wie der Ukraine mit ihrer weniger zuverlässigen Rechtsstaatlichkeit ist das aber eine große He­rausforderung. Deshalb müssen Regeln in allen Bereichen vereinfacht werden, um unabhängiger von der unberechenbaren Justiz zu sein, und zwar so lange, bis der Rechtsstaat vertrauenswürdig und funktionsfähig ist.

Dieser Ansatz steht sicher in krassem Gegensatz zu den Planungen der internationalen Finanzinstitutionen und anderer Akteure, möglicherweise weicht er auch von der komplexen europäischen Strategie ab, die Ukraine zu integrieren. Doch im Grunde erfordern die offensichtlichen rechtsstaatlichen Mängel in der Ukraine eine Neubewertung der klassischen Integrationsstrategien.

Nur so können erhebliche Rückschläge auf dem Weg zur europäischen Integration vermieden und der rasche wirtschaftliche Aufschwung auch in den Anfangsjahren nach dem Krieg gewährleistet werden. Beginnen wir also damit, ein verlässliches Fundament zu errichten, bevor wir einen Wolkenkratzer auf instabilem Grund bauen. Nur dann können wir unser Ziel erreichen – eine starke, erfolgreiche und selbstständige Ukraine.

Nataliya Melnyk ist Executive Director des unabhängigen ukrainischen Thinktanks Bendukidze Free Market Center in Kiew.

Dmytro Byoarchuk ist Executive Director am unabhängigen Forschungsinstitut Center for Social and Economic Research und leitet die Niederlassung in Kiew.

Nataliya Melnyk ist Executive Director des unabhängigen ukrainischen Thinktanks Bendukidze Free Market Center in Kiew.

Dmytro Byoarchuk ist Executive Director am unabhängigen Forschungsinstitut Center for Social and Economic Research und leitet die Niederlassung in Kiew.

Auch interessant

Beitrag

Stefan Kolev // Zeitalter der Superfragilität?

Viele Menschen in Deutschland haben das Vertrauen in die staatliche Ordnung verloren. Dringend muss die Mitte die Zuversicht in die liberale Ordnung stärken. Aber nicht, indem sie sich an extremen Meinungen aufreibt, sondern durch eine geduldige und lebhafte Auseinandersetzung ­mit den Themen, die die Menschen bewegen.

Beitrag

Anne Applebaum // Autocracy Inc.

Diktatoren und Autokraten auf der ganzen Welt sind eng miteinander verbunden. Sie alle haben die gleichen Ziele: persönliche Bereicherung und Machterhalt.

Interview

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger // Liberalismus gegen Antisemitismus

Schon immer sind Hass und Hetze bittere Realität im Alltag von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Das ist unerträglich. Im konsequenten Einsatz für individuelle Würde, Freiheit und Verantwortung ist Liberalismus eine Kampfansage gegen Antisemitismus und Israelhass.

Ein Angebot der

Wirtschaft

Wir verarbeiten Ihre Daten und nutzen Cookies.

Wir nutzen technisch notwendige Cookies, um Ihnen die wesentlichen Funktionen unserer Website anbieten zu können. Ihre Daten verarbeiten wir dann nur auf unseren eigenen Systemen. Mehr Information finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen in Ziffer 3. Sie können unsere Website damit nur im technisch notwendigen Umfang nutzen.

Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und unser Angebot für Sie fortlaufend verbessern zu können, nutzen wir funktionale und Marketingcookies. Mehr Information zu den Anbietern und die Funktionsweise finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen in Ziffer 3. Klicken Sie ‚Akzeptieren‘, um einzuwilligen. Diese Einwilligung können Sie jederzeit widerrufen.