Multiethnische Gesellschaften

Soziale Medien
und Debatte:
Ein liberaler
Selbstversuch

Es scheint ein Merkmal unserer Zeit zu sein:
Debatten werden von den Rändern angefacht und dominiert, nicht aus der liberalen Mitte heraus. Ganz besonders deutlich wird das bei Themen wie Migration und Religion, Zugehörigkeit und Identität. Hass und Hetze, platte Vereinfachungen auf beiden Seiten und ein Rückzug in eingefahrene Argumentationsmuster bestimmen diese Diskussionen, nicht nur in den sozialen Medien. Sicher ist dabei nur eines: So wird das nichts. Aber wie könnte es klappen mit der Verständigung?
Die Antwort von Thomas Clausen und Christoph Giesa ist ein Selbstversuch unter Liberalen. Und weil Diskussionen auf X (früher Twitter) kaum noch möglich erscheinen, haben sie es auf Bluesky versucht.

Chat: Christoph Giesa und Thomas Clausen

Multiethnische Gesellschaften

Soziale Medien und Debatte:
Ein liberaler Selbstversuch

Es scheint ein Merkmal unserer Zeit zu sein:
Debatten werden von den Rändern angefacht und dominiert, nicht aus der liberalen Mitte heraus. Ganz besonders deutlich wird das bei Themen wie Migration und Religion, Zugehörigkeit und Identität. Hass und Hetze, platte Vereinfachungen auf beiden Seiten und ein Rückzug in eingefahrene Argumentationsmuster bestimmen diese Diskussionen, nicht nur in den sozialen Medien. Sicher ist dabei nur eines: So wird das nichts. Aber wie könnte es klappen mit der Verständigung?
Die Antwort von Thomas Clausen und Christoph Giesa ist ein Selbstversuch unter Liberalen. Und weil Diskussionen auf X (früher Twitter) kaum noch möglich erscheinen, haben sie es auf Bluesky versucht.

Chat: Christoph Giesa und Thomas Clausen

Christoph Giesa

Migrationsforscherin Naika Foroutan hat einen fulminanten Text zur Frage geschrieben, wem Deutschland gehört. Nämlich niemandem. Oder eben allen Deutschen gleichermaßen. Sollte eine Selbstverständlichkeit sein: Deutsch ist, wer einen deutschen Pass hat, sonst nichts.

Thomas Clausen

Lieber Christoph, Foroutan schrieb damals auf X: „Deutschland ist das Land seiner Einwohner und Einwohnerinnen. Es gehört niemandem per se, weil er oder sie Urahnen hatten, die schon immer hier gelebt haben. Hätte ich sagen sollen Deutschland den Germanen?“ 1/2

Sie hat natürlich recht, dass Germane (zum Glück) keine verfassungsrechtliche Kategorie ist. Aber sie hätte lieber von „Staatsbürgern“ statt „Einwohnern“ reden sollen, vielleicht hätte man dann zumindest einen Teil der unseligen Debatte vermieden, der auf ihren Artikel folgte. 2/2

Christoph Giesa

Okay, „Einwohner“ passt nicht. Es ist gut, dass Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft bei uns verbriefte Rechte haben. Aber natürlich ist der Status von Deutschen ein anderer. Ansonsten bin ich #TeamForoutan: Dieses Theater, wer denn nun ein „echter Deutscher“ ist, geht mir auf den Senkel.

Thomas Clausen

In den sozialen Medien werden zwei richtige Punkte leider oft so lange zugespitzt, bis sie zum scheinbaren Widerspruch werden: Foroutan ging es darum, dass es keine Zwei-Klassen-Staatsbürgerschaft geben darf. Die Forderung nach echter Gleichbehandlung ist sehr wichtig. 1/3

Trotzdem muss die deutsche Politik natürlich konsensfähige Kriterien benennen, wer dazugehören soll – und nicht einfach schauen, wer zufällig ins Land kommt. Diese Unterscheidung braucht es, gerade weil gelten muss: Wer einmal einen deutschen Pass hat, der gehört dazu. 2/3

Schöner als die Debatten auf Twi…X finde ich übrigens einen Text von Kurt Tucholsky. Dort heißt es: „Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen
des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.“ 3/3

Christoph Giesa

Sein Satz „Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir“ verdient definitiv auch heute viele Retweets. Trotzdem hat auch Tucholsky zu seiner Zeit mehr als nur einen „Shitstorm“ abbekommen. Es bleibt also die Frage: Wie kann man die Debattenkultur im Netz verbessern? 1/2

Man hat das Gefühl, dass die Debatten von den gegensätzlichsten & radikalsten Positionen dominiert werden. Dabei, so der Soziologe @SteffenMau & Team, ist die Gesellschaft gar nicht so polarisiert wie die Debatte. Hör mal in diesen Podcast rein: 

https://shows.acast.com/mittelweg-36/episodes/was-sind-triggerpunkte 2/2

Thomas Clausen

Bei inhaltlichen Lösungen gibt es viel Raum für Kompromisse. Interessant an Maus Triggerpunkten finde ich allerdings die emotionale Seite. Der X-Account @titiatscriptor weist darauf hin, dass moralische Intuitionen verschiedene Quellen haben: Fairness, Fürsorge ...

Ganz ähnlich bei den Triggerpunkten: Man wird „getriggert“, wenn rote Linien der eigenen Moralvorstellungen überschritten werden. Die einen werden von Quoten getriggert, weil sie diese für eine Ungleichbehandlung halten, die anderen sehen in der Ablehnung von Quoten einen Verstoß gegen Fairness. 2/3

In den sozialen Medien wird das Aktivieren von Triggerpunkten besonders belohnt, auch von Algorithmen. Gleichzeitig bilden sich Echokammern & emotional communities heraus. Sie bieten ein Gefühl von Zugehörigkeit, z. B. indem man einander bestätigt, die gleichen moralischen Intuitionen zu haben. 3/3

Christoph Giesa

Liberalen wird vorgeworfen, dass wir bei schnellen Autos emotional werden und ansonsten eher das „kalte Herz“ des Kapitalismus haben. Ein wenig stimmt das: Triggerpunkte führen schnell zu illiberalen Forderungen, z. B. wenn Angst im Spiel ist. Liberalismus ist das Gegenteil von Affektpolitik.

Thomas Clausen

Das stimmt. Aber ohne Emotionen geht es auch nicht, deswegen bräuchte es eine Art Ordnungspolitik für Gefühle. Es gibt Liberale, die sich darüber Gedanken gemacht haben. Hannah Arendt mit ihrer „Amor Mundi“ beispielsweise, oder Martha Nussbaum mit der Forderung, Menschlichkeit zu kultivieren. 1/2

Jens Bisky erwähnt, dass Empörung auch organisiert wird. Diesen Punkt sollten wir sehr ernst nehmen. Islamistische Influencer wollen etwa erst Mitleid, dann Wut und schließlich Hass „triggern“. Auch russische Bots sind Teil einer organisierten Empörung, die den westlichen Diskurs zerstören soll. 2/2

Christoph Giesa

Auf der Plattform „Persuasion“ habe ich dazu einen Artikel gelesen. Die Überschrift bringt es auf den Punkt: Take A Position, Not A Side. Wir sollten Meinungen auf Basis von Werten bilden & uns nicht in einer polarisierten Debatte auf eine Seite schlagen.

Thomas Clausen

Auch hier geht es übrigens um den Umgang mit moralischen Intuitionen. Die Debatte zu Abtreibungen ist dafür typisch: Pro-Life (Heiligkeit des Lebens) oder Pro-Choice (Freiheit). Ein Fokus auf inhaltliche Positionierungen anstelle der emotionalen Identifikation mit einem Team kann daher den Diskursraum stärken. 1/3

Allerdings: Auch ein Verfechter des Pluralismus wie Ernst Fraenkel hat betont, dass „auf die Dauer ein Staat nicht lebensfähig ist, in dem weder über ein Minimum fundamentaler, noch über zahlreiche detaillierte Fragen [...] eine weitgehende Übereinstimmung besteht“. 2/3

Lange hat man in der Bundesrepublik geglaubt, dass ein wichtiges Beispiel für solch eine weitgehende Übereinstimmung der Kampf gegen Antisemitismus und auch die Solidarität mit Israel sei. Dass dies anscheinend doch kein „consensus omnium“ ist, macht zutiefst betroffen. 3/3

Christoph Giesa

wie wieder am Anfang wären. Und doch auch nicht. Denn das Dazugehören jenseits formaler Kriterien bewegt sich im Liberalismus eben nicht entlang der Herkunft, der Hautfarbe oder des Glaubens, sondern entlang des individuellen Handelns. 1/2

Bleiben wir bei Deinem Beispiel. Ob jemand mit deutschem Pass, der Juden und Israel hasst, nun Islamist oder Rechtsextremist ist, mit Migrationsgeschichte oder ohne, das spielt keine Rolle. Oder besser: Das sollte keine Rolle spielen. 2/2

Thomas Clausen

Stimmt. Feinde unserer liberalen Demokratie sind sie alle. Und genau darum ist ein gemeinsamer, demokratischer Diskursraum so wichtig. Ein Diskursraum, der natürlich auch eine kosmopolitische Seite hat. 1/2

Der Politiker Arno Esch hat einmal gesagt: „Ein liberaler Chinese steht mir näher als ein deutscher Kommunist.“ Das gilt heute immer noch. Iranische Frauen, die gegen die Mullahs aufstehen, sind mir viel näher als die deutschvölkische Moskau-Truppe. 2/2

Christoph Giesa

Halten wir fest: Wir kämpfen um Positionen mit anderen Demokraten, stehen aber klar auf einer Seite in der Auseinandersetzung mit all jenen, die die Basis unseres Zusammenlebens infrage stellen. Und da gilt nicht nur in Bezug auf den Antisemitismus:

Nie wieder ist jetzt!

Christoph Giesa

ist liberaler Publizist und Moderator. Zuletzt erschien von ihm
„Echte Helden, falsche Helden“ bei Droemer.

Thomas Clausen

ist Referent für Bildung und Forschung am Liberalen Institut, außerdem legt er als „Eugen Dichter“ Partyschlager auf. Zuvor promovierte er über Roland Freisler und die Transformation des Rechtssystems im National-sozialismus.

Alexander Görlach ist Journalist und Publizist. Er verfolgt seit Langem, welche Bedrohungen auf die Staaten der liberalen Weltordnung zukommen.

Alexander Görlach ist Journalist und Publizist. Er verfolgt seit Langem, welche Bedrohungen auf die Staaten der liberalen Weltordnung zukommen.

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