Verteidigung Europas

„Ein Sturm zieht auf“

Bedrohung von außen und innen:
Europa muss stärker, aktiver und einiger werden, um den Populisten, Leugnern und Verführern zu widerstehen.

Text: Dita Charanzová


Verteidigung Europas

„Ein Sturm zieht auf“

Bedrohung von außen und innen:
Europa muss stärker, aktiver und einiger werden, um den Populisten, Leugnern und Verführern zu widerstehen.

Text: Dita Charanzová


Die vergangenen fünf Jahre waren hart. Die heutige EU ist einfach nicht mehr die gleiche wie bei den letzten Europawahlen. Das Vereinigte Königreich hat mit dem Brexit einen Fehler begangen, den die Mehrheit der Briten in Umfragen mittlerweile als einen solchen anerkennt. Dann kam die Covid-19-Pandemie, dann der Krieg in der Ukraine – eine Krise folgte auf die andere.

Es ist eine Binsenweisheit, dass man keine Krise ungenutzt lassen darf. Und danach haben wir uns im Europaparlament gerichtet: Trotz aller Krisen hat Europa die weltweit fortschrittlichste Klima- und Digitalgesetzgebung verabschiedet. Und zwar auf den ausdrücklichen Wunsch unserer Bürgerinnen und Bürger hin, die zu Tausenden auf die Straße gegangen sind und uns zum Handeln aufgefordert haben.

Massive Veränderungen

Darauf hat Europa reagiert. Dennoch beginnen die Menschen erst jetzt zu begreifen, dass die neuen Gesetze unsere Geschäftsmodelle und unsere Lebensweise erheblich verändern werden. Die Landwirte, die derzeit in ganz Europa protestieren, sind da vielleicht nur der lautstärkste Teil dieser Entwicklung.

Hinzu kommt, dass das Gespenst Trump über den kommenden Europawahlen schwebt. Die Menschen in Europa lesen viele US-Medien. Doch auch wenn hier niemand Trump wählt, werden die Hassreden, das Misstrauen gegenüber der Presse und den Wahlen, aber auch die Verschwörungstheorien aufgenommen und weitergegeben. Man findet sie bei populistischen Bewegungen und rechtsextremen politischen Parteien, die diese Ideen nachplappern.

Sicher, wir werden keinen „Trump“ auf europäischer Ebene haben. Aber es werden Mitläufer im Europaparlament vertreten sein. Und wenn sie die Chance dazu haben, dann verwandeln sie Debatten über politische Kompromisse in ideologische Kämpfe – und machen so aus dem Europäischen Parlament einen US-Kongress.

All diese Krisen und Bedrohungen zeigen, warum es in Europa vor diesen Wahlen so wenig Optimismus gibt: Es droht ein Sturm der Unzufriedenheit. Aber was können wir dagegen tun? Wie können wir sicherstellen, dass das europäische Projekt nicht dauerhaft beschädigt wird, weil wir uns so schlecht fühlen?

Die erste und offensichtlichste Antwort ist, dass wir die Menschen zur Wahl drängen. Wir müssen vermitteln, was bei diesen Wahlen auf dem Spiel steht: Demokratie kann wütende Wählerinnen und Wähler überleben, aber keine apathischen. Wenn die schweigende Mehrheit ihre Stimme abgibt, dann kann Europa weiter vorankommen. Wir müssen uns deshalb gegen die Extreme, ob links oder rechts, zusammenschließen. Eine Proteststimme oder eine Enthaltung aus Ablehnung mag sich im Moment gut anfühlen, aber am nächsten Tag wird man das in echter Katerstimmung bereuen. Deshalb ist die Botschaft so wichtig: Die Menschen dürfen der Desinformationsmaschine nicht glauben. Denn die Mehrheit der Europäer steht hinter Europa.

Europa kann vorankommen, wenn die schweigende Mehrheit dies will.
Dita Charanzová

Der nächste Schritt betrifft die Art und Weise, wie wir regieren. Wir werden nur dann etwas erreichen können, wenn die proeuropäische Mehrheit stabil bleibt. Selbst im schlimmsten Fall hätte eine proeuropäische große Koalition eine Zweidrittelmehrheit. Entscheidend ist daher, wie genau wir dann auf die Tatsache reagieren, dass ein Fünftel des Parlaments antieuropäisch eingestellt sein könnte. Wird sich Europa dadurch noch mehr zusammenschließen? Oder wird sich im Gegenteil die Einigung Europas verlangsamen?

Ich bin überzeugt davon, dass Europa noch einiger wird und noch stärker vorangehen muss. Der beste Weg, den konkreten Wert der EU für die Menschen zu zeigen, besteht darin, dass wir weiterhin für die durchschnittlichen Bürgerinnen und Bürger arbeiten. Ihr Leben wird sich nur dann verbessern, wenn Politikerinnen und Politiker entsprechend handeln. Deshalb dürfen wir keine Angst vor den Extremen haben und nicht in die Falle der Untätigkeit tappen.

Politik der Stärke

Im September 2017 hat der französische Präsident Emmanuel Macron an der Sorbonne-Universität in Paris gesprochen. Seine damalige Analyse ist auch heute, sieben Jahre später, gültig, genauso wie seine Lösungen. Es ist nun an der Zeit, diese Lösungen endlich anzugehen: Wir brauchen gemeinsame Geheimdienst- und Militärstrukturen in Europa, eine echte europäische Verteidigungspolitik. Wir brauchen ein gemeinsames Migrationssystem auf der Grundlage fester Grenzen. Wir brauchen eine stärkere Außenpolitik und mehr Zusammenarbeit mit anderen Nationen, die unsere Werte teilen. Wir brauchen ein wettbewerbsfähiges Europa, das auch in Zeiten der Nachhaltigkeit und des digitalen Wandels noch produzieren und führen kann. Wir brauchen eine neue Agrarpolitik für die Landwirte. Wir müssen ein unabhängiges digitales Umfeld in Europa aufbauen, in dem wir nicht nur eine Nebenrolle übernehmen, sondern Partner der Vereinigten Staaten sind.

Auch wenn wir nicht mit allen Details dieser Ideen einverstanden sind, so sind ihre Ziele doch für Europa wichtig – und dafür müssen wir kämpfen. Je eher sich die proeuropäische Mehrheit mit einer gemeinsamen Vision hinter diesen Zielen vereint, desto schneller werden wir die Krisen der letzten Jahre hinter uns lassen und die wirklichen Probleme der Menschen in Europa  angehen können.

Ich bin überzeugt davon, dass wir das schaffen. Jetzt ist nicht die Zeit, um die Populisten und Isolationisten gewinnen zu lassen. Wir müssen stattdessen für ein souveränes, geeintes und demokratisches Europa eintreten – heute mehr denn je.

Dita Charanzová ist Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und Mitglied der liberalen Fraktion Renew Europe.

Dita Charanzová ist Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments und Mitglied der liberalen Fraktion Renew Europe.

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