Migration
Flüchtlinge
zwischen
den Fronten
Migration wird zunehmend politisch instrumentalisiert. In der neuen Blockbildung zwischen Ost und West organisieren Russland und Weißrussland den Transport von Migranten aus Nahost, Irak und Afghanistan, um die EU politisch zu destabilisieren. Vor allem die nordischen und die baltischen Staaten sind von dieser Strategie betroffen – und reagieren mit politischer Zusammenarbeit, Schließung von Grenzübergängen und dem Aussetzen von Asylverfahren.
Text: Jenni Roth
Migration
Flüchtlinge
zwischen
den Fronten
Migration wird zunehmend politisch instrumentalisiert. In der neuen Blockbildung zwischen Ost und West organisieren Russland und Weißrussland den Transport von Migranten aus Nahost, Irak und Afghanistan, um die EU politisch zu destabilisieren. Vor allem die nordischen und die baltischen Staaten sind von dieser Strategie betroffen – und reagieren mit politischer Zusammenarbeit, Schließung von Grenzübergängen und dem Aussetzen von Asylverfahren.
Text: Jenni Roth
Früher Winter, Ausnahmezustand in Finnland, nicht nur wegen der extremen Minustemperaturen: Hunderte Migranten aus Krisenregionen wie dem Nahen Osten und Afrika standen Schlange an den Grenzübergängen aus Russland. Der große Nachbar hatte sie in die Nähe der finnischen Grenze transportiert. Und weil man die Grenze nicht zu Fuß überqueren darf und es zurzeit kaum Mitfahrgelegenheiten gibt, schickten die Russen sie auf Fahrrädern. Erst ein paar, dann immer mehr: Im September beantragten 13 Menschen Asyl, im Oktober 2023 waren es 32 und in der ersten Novemberhälfte 500. Insgesamt stieg die Zahl auf 1300. Auch Estland meldete steigende Zahlen von Migranten etwa aus Somalia und Syrien, die über Russland einreisen.
Hinter diesen Operationen steht eine gezielte hybride Kriegsführung Moskaus, darüber sind sich alle betroffenen Regierungen einig: Präsident Wladimir Putin instrumentalisiert Migranten, um den Westen unter Druck zu setzen. Bei einem Treffen der nordeuropäischen und baltischen Verteidigungsminister im November sprach der estnische Minister Hanno Pevkur von einer geplanten Aktion Putins. Sein lettischer Amtskollege Andris Sprūds beschuldigte Putin als Puppenspieler.
„Es gibt in Russland eine Grenzzone, die ohne Erlaubnis des FSB nicht betreten werden darf“, sagt Arkady Moshes, Programmdirektor des Foreign Policy Institute in Helsinki. Heißt: Putin muss die Operationen zumindest gebilligt haben. Moshes vergleicht die Taktik mit dem Geschehen 2021 an den baltischen und polnischen Grenzen. Damals ließ der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko gezielt Tausende Geflüchtete aus dem Nahen Osten einfliegen und schleuste sie nach Polen, Lettland und Litauen. Und es geht weiter: 2023 reisten etwa 1650 illegale Mig-ranten über die weißrussische Grenze nach Litauen – 20-mal so viele wie 2020.
Dass es sich um eine staatlich konzertierte Aktion handelt, sagt auch Marko Saareks vom finnischen Grenzschutz. Im Falle Finnlands hätten Schleuser und russische Behörden in Teilen zusammengearbeitet. Die Grenzbeamten ließen die Asylbewerber anders als vorher auch ohne Papiere weiterreisen: „Russische Beamte waren aktiv beteiligt, sie über die Grenze zu bringen. Teilweise haben sie sie auch dorthin gedrängt oder nicht zurückgelassen“, sagt Saareks.
Also schloss Finnland erst ein paar Grenzübergänge, öffnete sie wieder und machte dann am 30. November alle Grenzen dicht, als die Zahl der Asylbewerber wieder sprunghaft anstieg. Ganz anders als 2015/16, als schon einmal auffällig viele Geflüchtete an den Grenzübergängen in Lappland standen. Damals waren es zwar weniger, und die Migranten wurden von den Russen in billigen Autos statt auf Rädern losgeschickt. Dennoch: Die Krise wurde diplomatisch gelöst. Aber das war vor dem Ukrainekrieg, vor Finnlands Zeitenwende.
Finnlands Zeitenwende
Finnland setzte seit Ende des Zweiten Weltkriegs auf die pragmatische Zusammenarbeit mit dem großen Nachbarn, Helsinki galt als neutraler Mittler zwischen Russland und dem Westen, stets militärisch bündnisfrei. Aber im Zuge des Angriffskriegs gegen die Ukraine trat das nördlichste EU-Land 2023 der NATO bei. Und verärgerte den Kreml zudem mit einem Verteidigungsabkommen mit den USA. Russland betrachtet Finnland jetzt als Feind. „Und die Finnen betrachten alles durch ein Prisma der Sicherheit“, sagt Arcady Moshes. „Die Bevölkerung steht hinter allen Maßnahmen, wenn sie nur diese Bedrohung eindämmen.“
Tatsächlich haben die baltischen Länder, die Russland traditionell sehr misstrauisch gegenüberstehen, weniger radikal reagiert. Zwar behalten sie sich weitere Maßnahmen vor, und Estland hat Betonsperren und Stacheldraht gelagert, ebenso wie Lettland, das außerdem zusätzliche Kräfte zum Schutz der 172 Kilometer langen Grenze mobilisiert hat. „Aber für das Baltikum ist Russland als Gefahr nichts Neues. Vielleicht ist man auch deshalb gelassener“, sagt Arcady Moshes.
Möglicherweise hält die Situation länger an. Wir wollen auf alles vorbereitet sein.
Immerhin hat die Migrationskrise an der Westgrenze von Belarus 2021 gezeigt, wie effektiv Schließungen sein können: Die Strippenzieher müssen sich selbst um die Migranten kümmern – oder die Rückkehr in deren Heimat finanzieren. Dazu kommt: In Finnland wurde noch keinem der Migranten vom Herbst Asyl gewährt, was mögliche Nachfolger eher abschrecken dürfte.
Verlierer der Maßnahme sind auch die rund 66 000 Russen, die in Finnland leben, teils mit doppeltem Pass, ihre Verwandten und Freunde. Zu Hochzeiten überquerten zwölf Millionen Menschen im Jahr die Grenze. In den ersten sieben Monaten von 2023 waren es immerhin noch eine Million.
Der Shutdown sei trotzdem zwingend gewesen, sagt Arcady Moshes. Er glaubt, dass die Operation an der finnischen Grenze für die Russen eine Art Testballon war, um die Schwäche Finnlands, aber auch Europas zu testen. „Hätte Finnland die Grenzen offen gelassen, wäre es zu einer permanenten Krise gekommen. Russland hätte so noch mehr finnische und europäische Ressourcen und Aufmerksamkeit von der Ukraine abgezogen.“
Asylbewerber an der finnischen Grenze bei Lappeenranta.
Aktuell ist der Übergang geschlossen - bis Mitte April.
Moskau hatte wohl nicht damit gerechnet, dass Finnland ernst machen würde. Auch nicht mit der politischen Solidarität und praktischen Unterstützung der EU. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kritisierte Russland bei X: Dessen „Instrumentalisierung von Migranten“ sei „schändlich“, und sie unterstütze Finnlands Schritte. Die Europäische Grenzschutzagentur Frontex wiederum hilft und half vor Ort bei Grenzschutzmaßnahmen – und angesichts von extremem Frost auch bei der Versorgung der Migranten.
Was, wenn Flüchtlinge bei den extremen Minustemperaturen erfroren wären? Vielleicht war auch das zynische Berechnung Putins, vielleicht wollte er eine humanitäre Krise provozieren, Gewaltvorfälle oder Verstöße gegen internationale Abkommen – sensible Themen für liberale Demokratien. Letztlich kann nur eine gemeinsame Migrationspolitik der EU den Druck auf die Länder an den Außengrenzen lindern – und zur innenpolitischen Akzeptanz von Migration führen. Und Moskau stellt dabei die baltischen Staaten und Finnland auf den Prüfstand: Sie müssen austarieren zwischen der politischen Destabilisierung durch migrationspolitischen Druck und dem Schutz politisch Verfolgter.
Die Grenze bleibt dicht
Dass der Grenzschutz etwa in den baltischen Staaten Migranten abfängt und nach Belarus zurückschickt, haben Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert. Anders als in Finnland kommen die Migranten nicht auf baltischen Boden, wenn sie an der Staatsgrenze gestoppt werden. In Finnland wiederum sind rund 200 der Asylbewerber vom Herbst unauffindbar. „Vermutlich sind sie nach Schweden und vor allem Deutschland weitergezogen“, sagt Marko Saareks vom Grenzschutz. In Finnland gibt es bisher keine Aufenthaltspflicht in Aufnahmestellen. Rufe nach einem schärferen Asylrecht werden jetzt auch hier laut, zumal eine rechtsgerichtete Koalition das 5,5-Millionen-Einwohner-Land regiert.
Die Fahrräder werden derweil versteigert, und die Grenzübergänge bleiben mindestens bis Mitte April dicht. Bisher wurden sie mit leichten Holzzäunen abgesichert, die vor allem das Vieh einhegen sollten. Jetzt hilft das Militär beim Aufbau eines Metallzauns an einem Teilstück. „Möglicherweise hält die Situation länger an. Wir wollen auf alles vorbereitet sein“, sagt Marko Saareks.
Jenni Roth lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt vor allem Reportagen zu gesellschaftlichen Themen für namhafte Zeitungen und Magazine sowie Skripte für Hörfunk-Features bei Deutschlandradio.
Jenni Roth lebt als freie Journalistin in Berlin. Sie schreibt vor allem Reportagen zu gesellschaftlichen Themen für namhafte Zeitungen und Magazine sowie Skripte für Hörfunk-Features bei Deutschlandradio.
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