Fundstücke

Freiheit
statt Frieden um jeden Preis

Joachim Gauck liefert keine Memoiren, sondern Standpunkte. Gut so!

Text: Karl-Heinz Paqué

Joachim Gauck, Helga Hirsch:
„Erschütterungen: Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“

Siedler Verlag, München (2023),
238 Seiten, 24,00 €


Im Kontext

Freiheit
statt Frieden um jeden Preis

Joachim Gauck liefert keine Memoiren, sondern Standpunkte. Gut so!

Text: Karl-Heinz Paqué

Joachim Gauck, Helga Hirsch:
„Erschütterungen: Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht“

Siedler Verlag, München (2023),
238 Seiten, 24,00 €


Gauck ist ein Glücksfall. Jedenfalls für die Freunde der Freiheit. Sein neuestes Buch zeigt es einmal mehr. Es ist eine schonungslose Darstellung langjähriger deutscher Fehleinschätzungen – nach außen gegenüber der Bedrohung durch Russland, nach innen gegenüber den Gefahren für die Demokratie. Erfreulich dabei, dass die Deutschen offenbar bereitwillig in den Spiegel schauen, den ihnen der Altbundespräsident vorhält. In kürzester Zeit hat das Buch die 5. Auflage erreicht, ein Bestseller.

Das Buch hat zwei Teile. Der längere erste Teil ist eine kraftvolle Auseinandersetzung mit Deutschlands Weg von der Entspannungspolitik der frühen Siebzigerjahre bis zu jener pazifistischen Grundstimmung, die vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Eliten durchdrang, vor allem aufseiten der politischen Linken. Der dominante Zug war dabei eine übergroße Rücksicht auf russische Interessen bei gleichzeitiger Geringschätzung oder gar Missachtung der Freiheitsbewegungen in Mittel- und Osteuropa. Gauck führt eine Fülle von Beispielen deutscher Politiker und Intellektueller auf, die sich seinerzeit durch Solidarność in Polen und Václav Havel in der Tschechoslowakei in ihrem Friedensstreben gestört fühlten und wenig Verständnis für deren Freiheitsdrang hatten. Die Liste reicht von Egon Bahr und Willy Brandt bis hin zu Helmut Schmidt, Theo Sommer und Rudolf Augstein. Und dies ging auch nach der „Zeitenwende“, die Bundeskanzler Scholz 2022 ausrief, fast nahtlos weiter – so unter anderem von Alice Schwarzer, Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht und Alice Weidel bis hin zu prominenten sozialdemokratischen Alt-Politikern wie Gerhard Schröder, Matthias Platzeck und Klaus von Dohnanyi, der in seinem Buch „Nationale Interessen“ Russland eher als Opfer einer von den USA gesteuerten Einkreisung denn als Täter darstellte.

Die tiefe mentale Verbindung zwischen Russland und Deutschland stammt aus gemeinsamen imperialen Zeiten.
Joachim Gauck

Das ist alles kein Zufall. So sieht es Gauck, und er hat recht. Die tiefe mentale Verbindung zwischen Russland und Deutschland stammt aus gemeinsamen imperialen Zeiten. Für die Völker dazwischen gab es dabei stets wenig Verständnis. Und die Geschichte der brutalen Unterdrückung, die Russland zu verantworten hat, blieb für Deutsche blass. Wer wusste schon hierzulande von der grausamen Hungersnot („Holodomor“) in der Ukraine der frühen Dreißigerjahre mit fast vier Millionen Toten als Folge von Stalins Kollektivierung der Landwirtschaft? Umgekehrt wurden die Kriegsopfer der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg gegen Nazideutschland fast ausschließlich den Russen zugerechnet – und nicht auch den Ukrainern und den anderen Völkern der UdSSR.

Außenpolitisch fordert Gauck die wehrhafte Demokratie. Frieden um den Preis der Freiheit kommt für ihn nicht infrage. Mit ähnlicher Deutlichkeit verteidigt Gauck die liberale Demokratie mit Rechtsstaat und Gewaltenteilung, freien Wahlen sowie der Garantie von Menschen- und Minderheitenrechten. Dazu gehört Entschlossenheit und Härte gegenüber jenen, die im öffentlichen Raum Hass verbreiten. Hinzu kommen muss aber auch ein toleranter Umgang mit jenem, wie Gauck schätzt, Drittel der Gesellschaft, für das Sicherheit, Tradition und wertkonservative Verwurzelung als Heimatgefühl von großer Bedeutung sind. Auch daran fehlt es im Deutschland von heute.

Karl-Heinz Paqué ist Vorsitzender des Vorstands der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.

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