Vor Ort
Mehr als nur
Kettensäge?
Ein Jahr
Javier Milei
in Argentinien
Am 10. Dezember 2023 trat Javier Milei
sein Amt als neuer Präsident Argentiniens an. Zeit für eine Zwischenbilanz, wie sich das Land politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich verändert hat.
Text: Hans-Dieter Holtzmann
Javier Milei gilt als ultraliberal, ultrakonservativ und rechtspopulistisch zugleich. Er fasziniert Freund wie Feind.
Javier Milei gilt als ultraliberal, ultrakonservativ und rechtspopulistisch zugleich. Er fasziniert Freund wie Feind.
Vor Ort
Mehr als nur Kettensäge? Ein Jahr Javier Milei in Argentinien
Am 10. Dezember 2023 trat Javier Milei sein Amt als neuer Präsident Argentiniens an. Zeit für eine Zwischenbilanz, wie sich das Land politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich verändert hat.
Text: Hans-Dieter Holtzmann
Von der peronistischen Vorgängerregierung hatte Javier Milei ein schweres Erbe übernommen. Die Inflationsrate lag 2013 bei 211 Prozent, die höchste weltweit. Die Landeswährung Peso verlor im Sinkflug an Wert gegenüber dem Dollar. Der Staatshaushalt wies chronische Defizite auf, und Argentinien hangelte sich als größter Schuldner beim IWF von einer Zahlungsstundung zur anderen. Die Armutsquote betrug 45 Prozent. Das Einzige, was blühte, war die weit verbreitete Korruption in Behörden und Staatsunternehmen.
Milei trat als selbst erklärter Anarchokapitalist mit dem klaren Anspruch an, die Inflation und die Verschuldung zu bekämpfen. Die Kettensäge, die ihn populär machte, diente als Symbol gegen die etablierten politischen Bewegungen. Sie hatten allesamt das Land heruntergewirtschaftet, das Ende des 19. Jahrhunderts noch das reichste der Welt gewesen war.
Eine lange Einarbeitungszeit gönnte sich Milei nicht. Bereits vor dem Jahreswechsel 2023/24 legte er ein Notstandsdekret vor, mit dem er seitdem regiert. Im Juli 2024 gelang es ihm im zweiten Anlauf, im Kongress ein umfangreiches Reformpaket als Omnibus-Gesetz zu verabschieden, wenn auch in einer abgespeckten Version. Beide Maßnahmen setzen auf weniger Staatsausgaben und Bürokratie und auf mehr Deregulierung und Privatisierungen.
Der politische Erfolg ist umso bemerkenswerter, als Milei in der Nationalversammlung und im Senat mit seiner politischen Bewegung „La Libertad Avanza“ (Die Freiheit schreitet voran) über keine eigene Mehrheit verfügt. Er ist daher auf die Unterstützung reformorientierter moderater Peronisten und bürgerlicher Abgeordneter angewiesen. Mit seinem kompromisslosen, teils rabiaten Stil ist Milei sich in diesem herausfordernden Umfeld allerdings oft selbst im Weg. Das erklärt auch, weshalb er im April 2024 mit seinem Reformpaket im ersten Anlauf im Kongress scheiterte.
Spektakulärer Wahlkampfauftritt: Javier Milei mit der Kettensäge 2023 in Buenos Aires
Bei der Stabilisierung der Wirtschaft kann Milei auf ein erfolgreiches erstes Jahr zurückblicken. Die Inflation, die monatlich (!) bei über 20 Prozent lag, ging auf 3,5 Prozent zurück. Der Staatshaushalt wies im ersten Halbjahr einen Überschuss aus, den ersten seit 2008. Erreicht wurde dies durch Einsparungen, zum Beispiel die Reduzierung der Ministerien, den Abbau von Zehntausenden Arbeitsplätzen im öffentlichen Sektor und die schrittweise Abschaffung von Subventionen für Lebensmittel, Energie und öffentlichen Verkehr. Aber auch Einmaleffekte halfen: Renten und Gehälter im öffentlichen Sektor, die weit hinter der Inflationsrate zurückbleiben, verfassungsrechtlich umstrittene Zahlungsstopps der Zentralregierung an unliebsame Provinzen und der fast vollständige Stillstand bei öffentlichen Investitionen.
Mit dem Stabilisierungskurs ist es der Regierung jedoch bisher nicht gelungen, die Wirtschaft zu beleben. Das BIP ging vielmehr im ersten Halbjahr um 3,4 Prozent zurück, Argentinien befindet sich in der schwersten Rezession aller G20-Länder. Die Arbeitslosigkeit hat Umfragen zufolge in der Bevölkerung inzwischen die Inflation als größte Sorge abgelöst. Für mehr Wachstum benötigt Argentinien mehr Investitionen, sowohl seitens der Argentinier selbst mit einem geschätzten Auslandsvermögen von 300 Milliarden US-Dollar als auch seitens ausländischer Unternehmen.
Außerhalb der Wirtschaftspolitik äußert sich Milei oft wenig liberal.
Die Voraussetzungen hierfür sind hervorragend. Vor allem im Energie- und Rohstoffsektor gibt es umfangreiche natürliche Ressourcen. Zudem hat die neue Regierung ein Investitionsfördergesetz verabschiedet, das ausländischen Investitionen in Höhe von mehr als 200 Millionen US-Dollar Steuererleichterungen für 30 Jahre sichert. Allerdings schrecken Kapitalverkehrsbeschränkungen ausländische Unternehmen häufig noch ab. Milei hat jüngst angekündigt, diese Beschränkungen erst abzuschaffen, wenn die Inflation nachhaltig bekämpft sei. Zudem hält er an einer schleichenden Abwertung des Peso gegenüber dem US-Dollar von zwei Prozent monatlich fest.
Gemischt ist Mileis Bilanz in der Außenpolitik. Positiv hervorzuheben sind die Unterstützung Mileis für die Ukraine im Krieg gegen Russland sowie für Israel im Kampf gegen den Terror. Auch die Opposition in Venezuela wird von Argentinien unterstützt.
Kritisch zu sehen ist hingegen – aus Sicht Deutschlands und der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit – die Nähe Mileis zu rechtspopulistischen Politikern in aller Welt. Hinzu kommen völlig überzogene persönliche Konflikte mit Spitzenpolitikern wie Brasiliens Staatspräsidenten Luiz Inácio Lula da Silva und Spaniens Ministerpräsidenten Pedro Sánchez. Außerhalb der Wirtschaftspolitik äußert sich Milei oft wenig liberal: Den menschengemachten Klimawandel leugnet er, die Gleichstellung der Frau betrachtet er als Einmischung in private Angelegenheiten, und kritische Pressevertreter werden wüst attackiert. Designierte Parteivorsitzende der bisherigen Bewegung „La Libertad Avanza“ und wichtigste Beraterin ist überdies seine Schwester Karina.
Trotz einiger Erfolge wird Milei also nun eine konsistente Wirtschaftspolitik auflegen müssen, um Investitionen auszulösen. Gerade mit Blick auf die Kongresswahlen im Dezember 2025 ist die Unterstützung in der argentinischen Gesellschaft die Voraussetzung für den Reformkurs, der hilft, Argentiniens großes Potenzial zu nutzen.
Hans-Dieter Holtzmann leitet das Büro der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Buenos Aires.
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