FDP und Grüne erreichten bei der Bundestagswahl unter den Erstwählerinnen und -wählern jeweils 23 Prozent. Dafür gibt es gute Gründe. Sie entscheiden über die Politik von morgen.
TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ
ILLUSTRATIONEN: EMMANUEL POLANCO
FDP und Grüne erreichten bei der Bundestagswahl unter den Erstwählerinnen und -wählern jeweils 23 Prozent. Dafür gibt es gute Gründe. Sie entscheiden über die Politik von morgen.
TEXT: KARL-HEINZ PAQUÉ
ILLUSTRATIONEN: EMMANUEL POLANCO
Viele rieben sich am Tag danach die Augen. Sie konnten, ja manche wollten es nicht glauben: Von den Erstwählerinnen und -wählern erhielt die FDP eine Prise mehr Stimmen als die Grünen. Beide landeten in der Befragung von Infratest Dimap bei 23 Prozent – deutlich vor der SPD mit 15 und weit vor der Union mit 10, der Linken mit 8 und der AfD mit 6 Prozent. Dies widersprach allen gängigen Vorurteilen. Ähnlich war es mit dem Ergebnis einer Wahlumfrage unter Jugendlichen im Alter von weniger als 18 Jahren, die noch nicht wahlberechtigt sind, der sogenannten Juniorwahl 2021. Auch hier lag die FDP sehr gut, und zwar bei 18,5 im Vergleich zu 19,4 bei SPD und 20,6 Prozent bei den Grünen, wobei die Steigerung gegenüber 2017 mit 9,7 Prozentpunkten mit Abstand am stärksten ausfiel.
Was ist da los? Folgt nicht die junge Generation – wie seit Jahren vermutet – in Massen der Botschaft von Fridays for Future, mit einer eindeutigen und klaren Priorität der Klimapolitik in der Rangfolge der Sorgen und Wünsche junger Menschen? Was also war plötzlich in die jungen Leute gefahren, dass sich dies nicht in der Statistik allein zugunsten der Grünen auswirkte? Was hat die FDP auf einmal mit an der Spitze zu suchen?
Schnell hatten einige Kommentatorinnen und Kommentatoren Erklärungen parat. Offenbar gab es, so die ersten Thesen, bei einem Teil der Jugend und verstärkt durch die Coronadiskussion eine neue Welle aufgestauter egoistischer Wünsche nach freiem Konsum und hohem Einkommen, nach Club- und Diskobesuch ohne Maske und nach einem dicken Auto, mit dem man dann ohne Tempolimit auf bundesdeutschen Autobahnen rasen kann. Dazu schien auch zu passen, dass die FDP tatsächlich mehr von männlichen als von weiblichen Jugendlichen gewählt oder präferiert wurde, während es bei den Grünen genau umgekehrt war.
Diese Erklärungen haben zweierlei gemein. Zum einen sind sie extrem oberflächlich. Wer so redet, gibt sich gar nicht erst die Mühe, die Entscheidungen der jungen Menschen ernst zu nehmen, und zwar als Ausdruck eines eigenen Weltbilds. Zum anderen dienen sie offenbar nur dazu, die eigene Sicht der Beobachter zu bestätigen, und die beruht auf einer simpel moralisierenden Aufteilung der beobachteten Realität: auf der einen Seite jene Jugendlichen vom Fridays-for-Future-Typus, die zur Rettung der Welt angetreten sind und eine entsprechend selbstlose und wertvolle Ethik repräsentieren; auf der anderen Seite jene rücksichtslosen Egoisten des materialistischen Typs, die ihre Freiheitsrechte um jeden Preis nutzen wollen, auch auf Kosten anderer oder des Planeten. Und diese Egoistinnen und Egoisten erhielten durch die Coronadiskussion kräftigen Aufwind.
Von „Altersschwäche“ kann bei der liberalen Bewegung nicht die Rede sein.
Diese Deutung führt komplett in die Irre. Sie sagt mehr über die Werte der Beobachter als die der jungen Menschen. Sie wird der Komplexität der Wirklichkeit und der langfristigen Trends nicht im Geringsten gerecht. Um dies zu verstehen, genügt eigentlich schon ein Blick auf die internationalen Organisationen liberaler Parteien, etwa die Alliance of Liberals and Democrats for Europe oder Liberal International, deren Mitglied auch die deutsche FDP ist. Sie geben seit Jahren ein überaus jugendliches Bild ab, und ihre Mitgliedsparteien haben in nationalen Parlamentswahlen beachtliche Erfolge gefeiert – und zwar mit jungen Kandidatinnen und Kandidaten sowie großem Zuspruch in den entsprechenden Wählergruppen. Von „Altersschwäche“ kann jedenfalls in der liberalen Bewegung seit Langem nicht die Rede sein, genauso wenig wie bei den Grünen. Ähnliches gilt natürlich auch für die deutsche FDP selbst: Sie hat seit ihrer tiefen Krise 2013 ihre Mitgliedschaft um fast 50 Prozent gesteigert, vor allem unter jüngeren Menschen. Und die Wahlerfolge bei den Bundestagswahlen 2017 und 2021 sowie den Landtagswahlen dazwischen zeigen einen klaren stetigen Aufwärtstrend unter Erst- und Jungwählern beiderlei Geschlechts.
Sind dies nun alles hedonistische Egoisten? Natürlich nicht, denn sie haben – ganz wie die Grünen – ein gemeinsames Weltbild und Vorstellungen darüber, wie die Zukunft zu gestalten ist. Sie teilen sogar mit den Grünen das uneingeschränkte Bekenntnis zur Nachhaltigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung. Allerdings ist ihr Begriff von Nachhaltigkeit weiter gefasst: Während die Grünen eine nachhaltige Entwicklung im Wesentlichen auf das Ökologische verengen, verstehen Liberale unter Nachhaltigkeit die Gesamtheit der ökologischen, wirtschaftlichen und technologischen sowie finanziellen und sozialen Entwicklung. Es geht also den Liberalen auch, aber nicht allein um Klimapolitik, sondern um eine zukunftsweisende Gesamtkonzeption, die Optionen der Anpassung offenlässt.
Daraus ergibt sich die inzwischen klassische Frontlinie zwischen grün und liberal: Grüne plädieren eher für einen Verzicht auf Konsum und Wachstum („De-Growth“), um ihre ökologischen Ziele zu erreichen, Liberale dagegen für mehr Wachstum, Innovationen und Wissen, um persönliche Freiheit, wirtschaftliche Prosperität und ökologische Ziele miteinander vereinbaren zu können, ohne dass die Menschen in Deutschland und der Welt Verzicht leisten müssten, was insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern auf harten Widerstand treffen würde. Über beide Grundrichtungen lässt sich streiten. Und dieser Streit ist zentraler Kern der Suche nach gesellschaftlichen Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Beide Seiten des Disputs karikieren einander natürlich im Wahlkampf: Grüne werfen den Liberalen „naive Wachstumsgläubigkeit“ vor, Liberale sprechen von „totalitärer Verzichtsideologie“ der Grünen. Diskontiert man die Polemik ab, bleibt eine überaus wichtige Diskussion zur Rolle von Staat versus Markt, zu Freiheit versus Verbote, zu technologischer Vorgabe versus Offenheit.
Die jüngsten Wahlergebnisse belegen, dass junge Menschen genau diese Kontroverse spannend finden und zu etwa gleichen Teilen den Positionen der beiden Programmparteien FDP und Grüne zuneigen. Interessant ist dabei, was Wissenschaftler von der Universität Münster jüngst in einer Studie* mithilfe eines großen Fragenkatalogs herausgefunden haben: Die FDP-Position ist besonders deshalb attraktiv, weil sie die emotionale Zukunftsorientierung mehr anspricht als die Botschaft der Grünen. „Verzicht“ ist eher auf die Vergangenheit gerichtet, weist eben einen Weg zurück zu einem früheren Zustand. Der „technologische Fortschritt“ hingegen eröffnet – wenn auch mit Risiken – neue Zukunftschancen. Das gefällt anscheinend vor allem männlichen Jugendlichen, während junge Frauen es wohl eher skeptisch sehen und deshalb mehr den Grünen zuneigen.
In jedem Fall sind unterschiedliche Meinungen die beste Garantie für eine fruchtbare Diskussion in unseren Schulen. Voraussetzung ist allerdings, dass die Lehrerschaft mitmacht und die Diskussion nicht nur zulässt, sondern auch fördert. Es gibt ernste Zweifel, ob dies bisher der Fall war. Zu sehr erscheint die derzeitig dominierende Generation von Lehrenden in einer Weltsicht gefangen, die sehr stark der grünen Position zuneigt. Dies liegt möglicherweise an ihrer eigenen Sozialisation, denn sie sind selbst Kinder jenes Zeitgeists, der seit den Siebziger- und Achtzigerjahren immer dominanter wurde und im vergangenen Jahrzehnt mit dem rasanten Aufstieg der Grünen einen Gipfel erreicht hat.
Es ist überaus wichtig, dass diese Generation der Lehrerinnen und Lehrer sich im Diskurs über die Zukunft ergebnisoffen beteiligt – und nicht mit erhobenem Zeigefinger die jungen Menschen zu belehren sucht. Dies führt im Übrigen auch nicht zum Ziel, wie die beachtlichen Wahlergebnisse der FDP nun zeigen. Denn Jugendliche denken eigenständig. Sie durchschauen Versuche der Beeinflussung. Dies konnte man schon vor Jahrzehnten beobachten, als die konservative Botschaft der Lehrer in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ins Leere lief. Das Ergebnis war damals die aufmüpfige Generation der Achtundsechziger, die gegen ihre Eltern und Lehrenden aufbegehrte und ganz andere Wege ging, als diese ihr vorgeben wollten. Heute ist der Protest gegen die doktrinäre Belehrung viel leiser als damals, aber er findet statt, wie der Gleichstand von Grünen- und FDP-Ergebnissen bei den Erstwählern belegt. Der Fridays-for-Future-Aktivismus überzeugt eben doch nicht alle – selbst oder gerade dann nicht, wenn die moderne Lehrerschaft dahintersteht.
Die Lehrerschaft muss die Diskussion nicht nur zulassen, sie muss sie auch fördern.
Ähnliches gilt übrigens für die öffentlich-rechtlichen Medien: Sie haben in den zurückliegenden Jahren den Öko-Aktivismus sehr wohlwollend behandelt. Dies ging bisweilen so weit, dass die journalistische Pflicht zur Neutralität nicht mehr gewahrt erschien. Und es ist nicht auszuschließen, dass gerade junge Menschen dafür auch bei Medien mit beträchtlicher Autorität eine Antenne haben und umso lieber für ihren Informationsbedarf auf die Alternativen im Internet zurückgreifen. Sie suchen vielleicht doch instinktiv den ergebnisoffenen Diskurs – und nicht bloß ein Vorurteil, das vergleichsweise langweilig und berechenbar daherkommt.
Fazit: Nutzen wir die Erkenntnis, die uns die Bundestagswahl geliefert hat, zur Stärkung unserer Diskussionskultur. Dies ist nicht nur im Interesse der politischen Kultur, sondern vor allem auch der jungen Generation.
Karl-Heinz Paqué ist Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und Inhaber des Lehrstuhls für internationale Wirtschaft an der Universität Magdeburg.