Trittbrettfahren ist kein neuer Trend. Beliebt war es bereits 1947 in Leipzig auf der Tram am Hauptbahnhof.
Kommt die 2G-Regel nicht einer indirekten Impfpflicht gleich? Ja, sagt die Tübinger Philosophin Sabine Döring und erklärt, warum das angemessen ist. Eine Demokratie, in der Trittbrettfahrer keine Nachteile befürchten müssten, untergrabe ihr Fundament.
TEXT: ANDERS MERTZLUFFT
Trittbrettfahren ist kein neuer Trend. Beliebt war es bereits 1947 in Leipzig auf der Tram am Hauptbahnhof.
Kommt die 2G-Regel nicht einer indirekten Impfpflicht gleich? Ja, sagt die Tübinger Philosophin Sabine Döring und erklärt, warum das angemessen ist. Eine Demokratie, in der Trittbrettfahrer keine Nachteile befürchten müssten, untergrabe ihr Fundament.
TEXT: ANDERS MERTZLUFFT
Frau Professorin Döring, immer mehr Bundesländer setzen auf 2G, wollen also zum Beispiel Restaurants oder Clubs nur für Geimpfte und Genesene öffnen. Bedeutet das nicht eine Impfpflicht durch die Hintertür?
Sowohl eine gesetzliche Impfpflicht als auch 2G erhöhen den Druck auf Ungeimpfte: Lässt man sich nicht impfen, wird im ersten Fall ein Bußgeld fällig; im zweiten Fall „büßt“ man durch Ausschluss von bestimmten Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe. So verstanden, ja: 2G ist eine Impfpflicht durch die Hintertür. Aus liberaler Sicht gibt es aber einen Vorteil gegenüber einer echten, gesetzlichen Impfpflicht. 2G schafft „exklusive Clubs“ geringeren Risikos für Personen, die mit ihrer Impfung gemeinwohlfördernd kooperiert haben. Diesen Clubs kann man beitreten, muss man aber nicht. Niemand muss ins Restaurant oder Kino gehen. Insofern beinhaltet 2G mehr Freiwilligkeit als die Impfpflicht und setzt zugleich Anreize, sich impfen zu lassen. Jedoch sind die Grenzen von 2G erreicht, wenn Menschen unweigerlich oft und eng mit Ungeimpften in Kontakt kommen, sodass von diesen ein höheres Ausbreitungsrisiko ausgeht, zum Beispiel in Kita, Schule, Pflegeheim oder Krankenhaus. Ich befürworte deshalb eine gesetzliche Impfpflicht für entsprechende Berufsgruppen.
Sehen Sie eine moralische Pflicht, sich impfen zu lassen?
Ja. Moralisch sind wir alle verpflichtet, uns impfen zu lassen – außer natürlich wenn wir uns aus medizinischen Gründen oder fehlender Zulassung für die Altersgruppe nicht impfen lassen können. Erstens sind die Risiken der Impfung im Vergleich zu den Risiken einer Covid-19-Infektion vernachlässigbar. Zweitens ist die Impfung nicht nur Selbstschutz, sondern auch ein unverzichtbarer Beitrag zum Gemeinwohl, weil sie die Virusübertragungsrate senkt und so auch andere schützt und einen entscheidenden Beitrag zur Entlastung des Gesundheitssystems leistet. Derzeit sind die Intensivstationen voll mit Ungeimpften. Operationen geimpfter Patienten werden zugunsten ungeimpfter Covid-19-Patienten verschoben. Keine Ethik, die diesen Namen verdient, stellt einen guten Grund dafür bereit, dass ein geimpfter Patient unter Covid-19-Patienten leiden sollte, nur weil diese so „frei“ waren, sich nicht impfen zu lassen, obwohl sie es konnten. Die Ungeimpften nötigen uns schon jetzt eine schleichende Triage auf.
Die Gruppe der Ungeimpften als solche gibt es aber nicht, sie ist bunt und vielfältig…
Neben jenen, die sich aus medizinischen Gründen oder fehlender Zulassung für die Altersgruppe nicht impfen lassen können, gibt es Unwissende, Ängstliche, Träge, Bockige, verbohrte Leugner und blanke Egoisten sehenden Auges. Nach allem, was man aus den Kliniken hört, sind Totalverweigerer die Ausnahme. Stattdessen gibt es viele Zögerer und immer noch unzureichend Informierte, oftmals angsterfüllte Opfer von „alternativen Fakten“ oder von „False balance“, also der überproportionalen Repräsentation von wissenschaftlichen Minderheitenmeinungen in den Medien.
Reicht die moralische Impfpflicht, für die Sie argumentieren, aber wirklich schon aus, um eine gesetzliche Pflicht zu begründen?
Stimmt – dass sie sich moralisch rechtfertigen lässt, ist eine notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung für eine gesetzliche Impfpflicht. Laut dem Philosophen John Stuart Mill, einer Lichtgestalt des Liberalismus, ist in einer liberalen Demokratie „a priori die Präsumtion immer zugunsten der Freiheit“. Aber auch eine liberale Demokratie kann nicht umhin, individuelle Freiheit einzuschränken – und das gemäß dem Subsidiaritätsprinzip zwar so gering wie möglich, aber auch so hart wie nötig. Die Solidargemeinschaft wird daher eine gesetzliche Impfpflicht als Ultima Ratio betrachten und sie erst verordnen, wenn andere geeignete Maßnahmen ausgeschöpft sind.
Überschreitet eine Impfpflicht nicht die roten Linien für staatliches Handeln?
Ihre Frage spielt auf die Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat an, spezifisch auf das Grundrecht, dass der Staat meine Freiheit, über meinen eigenen Körper selbst zu bestimmen, nicht beschränken dürfe. Nun, der Staat gestaltet das Recht, auch die Pandemieregeln, mit Blick auf das Gemeinwohl. Damit meine ich die Einrichtungen – seien sie materiell, kulturell oder institutionell –, die wir wechselseitig verpflichtet sind, einander bereitzustellen, um die Erfüllung berechtigter grundlegender Interessen aller Mitglieder der Gemeinschaft sicherzustellen. Zu den berechtigten grundlegenden Interessen gehört nun aber auch, nicht überflüssigerweise am eigenen Körper geschädigt zu werden von Menschen, die sich irrational weigern, Vorsorge zu betreiben. Dies betrifft nicht etwa nur das von Ungeimpften ausgehende höhere Ansteckungsrisiko, sondern auch die Klinikkapazitäten. Ein weiteres berechtigtes Interesse aller Bürgerinnen und Bürger ist es, das Ende der Pandemie zu erreichen und ihr Leben wieder zurückzubekommen. Der Staat muss hier abwägen im Dienste des Gemeinwohls, also der berechtigten grundlegenden Interessen aller.
Wo liegen denn dann für Sie hier überhaupt die roten Linien?
Sicherlich wären die „roten Linien“ dann überschritten, wenn die gesetzliche Impfpflicht ein staatlicher Impfzwang wäre. Das Framing eines Zwangs wird ja von Impfpflicht-Kritikern gerne bemüht. „(Gesetzliche) Impfpflicht“ bedeutet aber nicht, dass Unwilligen die Spritze notfalls mit physischer Gewalt in den Arm gerammt würde. Ich warne hier ausdrücklich davor, die Demokratie aufgrund der Corona-Maßnahmen als Diktatur zu delegitimieren: denn damit legitimiert man Widerstand, notfalls mit Gewalt, und bereitet den Boden für Grenzüberschreitungen bis hin zur Erschießung des Tankstellenmitarbeiters, der auf die Einhaltung geltenden Rechts pocht.
Zu Beginn der Pandemie spielte der Begriff der Solidarität in der öffentlichen Diskussion eine große Rolle. Hat sich das verflüchtigt?
„Solidarität“ dient mittlerweile leider wahlweise als Wohlfühl- oder Kampfbegriff. Vor dem Hintergrund der Idee des Gemeinwohls bezeichnet „Solidarität“ dabei bloß ganz nüchtern die angemessene Berücksichtigung der berechtigten grundlegenden Interessen aller Mitglieder der Gemeinschaft im eigenen praktischen Überlegen und Handeln. Wer sich nicht solidarisch in diesem Sinne verhält, ist ein „Trittbrettfahrer“, absichtlich oder unabsichtlich. Er kann darauf bauen, auch dann von den Segnungen des Gemeinwohls zu profitieren, wenn er seinen Beitrag nicht leistet. In keinem Falle handelt er „eigenverantwortlich“: Das hieße ja gerade, für die eigenen Handlungen, eingeschlossen deren negativer Auswirkungen auf andere, die Verantwortung zu tragen. Aber das tun Ungeimpfte nicht: Sie überlassen es vielmehr über ein funktionierendes und Freiheit ermöglichendes Gesundheitssystem den Geimpften und dem Krankenhauspersonal, die Gesellschaft aus der Pandemie herauszubringen. Lockerungen nehmen sie gern mit. Unterdessen gefährden sie noch jene, die sich nicht oder noch nicht impfen lassen können, zum Beispiel Kinder unter 12 Jahren.
Sabine Döring ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ethik und die Theorie der (praktischen) Rationalität.
Die Ungeimpften nötigen uns eine schleichende Triage auf.
Warum gibt es solche Trittbrettfahrer?
Dazu haben nicht nur die Faktenleugner, Querdenker und Verschwörungsfantasten beigetragen, sondern leider auch die Propagandisten eines Vulgärliberalismus. Von jeher bedeutet Freiheit des Individuums nicht, tun und lassen zu können, was und wie man gerade will. Freiheit als Autonomie bedeutet vielmehr, das eigene Handeln selbst zu bestimmen. Es ist konstitutiv für unser Selbstverständnis, dass wir reflexiv auf die eigenen Neigungen Bezug nehmen, um zumindest manchmal etwas aus dem Grund zu tun, dass wir es für richtig halten. Dieses Verständnis von Freiheit als Autonomie ist auch Grundlage der oft missverstandenen These Kants, dass Freiheit genau darin besteht, „aus Pflicht“ zu handeln. Damit ist nicht gemeint, dass wir uns wie Moses die Gebote abholen, sondern dass wir uns selbst das Gesetz der Vernunft geben.
Aber das allein scheint ja aktuell nicht besonders gut zu funktionieren, oder?
Stimmt, denn in einer Pandemie reichen individuelle Vernunft und Moral nicht aus, sondern darüber hinaus ist kollektives Handeln zwingend erforderlich. Selbst wenn jeder Einzelne rational und altruistisch motiviert wäre, könnte die Pandemie ohne Koordination durch staatliche Regelungen nicht bekämpft werden; rein individuelle Versuche wären unvorbereitet, unkoordiniert und damit ineffektiv. Das Krisen- und Notfallmanagement allein der Eigeninitiative zu überlassen, hieße nicht zuletzt, auf eine kollektive und langfristige Integration von Forschung, Entscheidungskompetenz sowie personellen und materiellen Ressourcen zu verzichten. So dumm kann man nicht sein. Auch die Befolgung begründeter und demokratisch legitimierter staatlicher Maßnahmen lässt sich dabei als Ausdruck von Freiheit verstehen, wie Philip Pettit hervorgehoben hat, sofern das „republikanische“ Kriterium der „Abwesenheit willkürlicher Herrschaft“ erfüllt ist,. Wir können und müssen hier heute mehr leisten, als verkürzt auf Kant zu verweisen, um Freiheit und Solidarität miteinander in Einklang zu bringen.
Hinter vorgehaltener Hand werden oft Bildungsferne und sozial Schwache als Impfunwillige benannt. Droht diese Betrachtung nicht die Gesellschaft zu spalten?
Meines Erachtens war die Spaltung schon längst da und wird jetzt bloß augenfällig. Die Corona-Krise hat mehr noch als die Migrationskrise oder auch die Klimakrise Eigenschaften, die diese Spaltung wie unter einem Brennglas deutlich sichtbar machen. Die Spaltung verläuft zwischen denjenigen, die Verantwortung für die negativen externen Effekte der eigenen Handlungen übernehmen, und den absichtlichen oder unabsichtlichen Trittbrettfahrern, die das nicht tun. In Ihrer Frage klingt auch die „Zweiklassengesellschaft“ an, von der manchmal die Rede ist. Zugespitzt formuliert, würde sich wohl jede „Unterschicht“ dieser Welt freuen, wenn es so einfach wäre aufzusteigen: Ein Pieks genügt! Spaß beiseite: Was wir hier vor allem leisten müssen, ist Aufklärung. Alle gesellschaftlichen Kräfte, die sich zu Vernunft und Argument bekennen, haben die Aufgabe, Schwurblertum zu brandmarken, so dass es für den Bürger einfach ist, zwischen Debatte und Demagogie zu unterscheiden.
Wenn eine Impfpflicht nur als Ultima Ratio verstanden werden kann, worauf kommt es dann in den nächsten Wochen an?
Wären wir oder jedenfalls hinreichend viele von uns geimpft, könnten wir vermutlich wie Dänemark die Kontaktbeschränkungen aufheben. Wir sind schon längst bei der Ultima Ratio angelangt. Das zeigt insbesondere die wachsende Ungeduld der Geimpften, die es leid sind, auf Ungeimpfte Rücksicht nehmen zu müssen. Es ist diese Rücksicht, die uns im öffentlichen wie im privaten Raum immer mehr 2G oder sogar 1G beschert. Die Politik sollte den privaten Initiativen hier nicht hinterherhinken und auch nicht die Verantwortung dorthin abwälzen, denn das verspielt Vertrauen.
Aber es ist nicht leicht, Akzeptanz dafür zu gewinnen.
Es ist ein hehres, wenngleich im Wahlkampf sicherlich auch taktisches Ziel, möglichst breite Akzeptanz für staatliche Maßnahmen schaffen zu wollen. Ich fürchte allerdings, dass eine Demokratie, in der Trittbrettfahrer keinerlei Nachteile befürchten müssen, ihr eigenes Fundament untergräbt: die Motivation der Solidarischen. Was macht es mit deren Bereitschaft, für andere Last zu tragen, wenn die Demokratie nicht klar zwischen denen unterscheidet, die ihre Verantwortung übernehmen, und denen, die sich darauf verlassen, auf der Intensivstation von der Solidargemeinschaft aufgefangen zu werden, ohne den eigenen Beitrag zu leisten? Die Solidarischen empfinden hier nicht etwa Neid, sondern Groll und Empörung über den schlechten Willen und die fehlende Achtung der Trittbrettfahrer vor den berechtigten grundlegenden Interessen aller.
Dänemark hat wegen seines Impferfolgs die Pandemie für beendet erklärt, in Frankreich gibt es öffentliches Leben nur mit 3G-Pass. Wie erklären Sie sich, dass Frankreich, Dänemark und Deutschland völlig unterschiedliche Wege gehen?
Es fällt auf, dass die Impfbereitschaft in Dänemark größer ist als in Deutschland und Frankreich. Mehrere Studien lassen vermuten, dass das wiederum durch den jeweiligen Grad an Vertrauen zu den Institutionen zu erklären ist. So berichtet der Politikwissenschaftler Michael Bang Petersen, dass die Dänen dem Impfen viel weniger skeptisch gegenüberstanden als andere Nationen, weil sie dies als gemeinsames moralisches Projekt betrachtet und durchweg dem Pandemie-Management der Regierung vertrauten. Die Impfbereitschaft scheint demnach ein Proxy für Vertrauen zum Staat und zur Wissenschaft und, ja, für eine intakte Solidargemeinschaft insgesamt zu sein. Zum Unterschied zwischen Deutschland und Frankreich spekuliere ich, dass die französische Regierung unter Präsident Macron wesentlich beherzter Maßnahmen umsetzt, von deren Richtigkeit sie überzeugt ist, als wir mit den quälenden Kompromissen der Ministerpräsidentenkonferenz, die dann doch jedes Bundesland in die Praxis umsetzt, wie es ihm beliebt.
Der autoritäre Populismus ist längst wieder ein Problem für Europa. Fürchten Sie nicht, dass zum Beispiel die 2G-Regel den Rechtspopulismus in Deutschland stärkt?
Als Emotionsforscherin spekuliere ich, dass wir dem Rechtspopulismus im Gegenteil ein Einfallstor bieten mit unserem Bemühen, auch noch den unvernünftigsten Stimmen Gehör zu verleihen und in unsere Maßnahmen auch die abwegigsten Positionen zu integrieren. Corona zwingt uns wie nie zuvor die Einsicht auf, dass Menschen für andere Menschen zur Gefahr werden können. Zwar haben Nebenwirkungen unseres Handelns, sogenannte externe Effekte, immer schon eine wichtige Rolle in der politischen Debatte gespielt. Aber die Corona-Krise lässt uns diese Effekte wie nie zuvor sehen – und fühlen. Indem die rationale Einsicht in die externen Effekte unseres Handelns emotional verankert wird, brechen unvernünftige Konzeptionen des guten Lebens unter der Viruslast zusammen.
Und das verhindern oder hemmen wir, meinen Sie?
Ja. Weil wir alle mitnehmen wollen, sind wir zu hasenfüßig darin, Ziele klar zu formulieren und die dazu erforderlichen Maßnahmen konsequent und zügig in die Tat umzusetzen. Dieses Vakuum eröffnet den Raum für die Interpretation einer nicht handlungsfähigen, schwachen Demokratie, die endlich eine „harte Hand“ brauche. Mit einer Politik für die leise Mehrheit der Kooperierer stärken wir deren Solidarität und entlarven zugleich die Unsolidarität der kleinen, aber lauten Gruppe der Kooerationsverweigerer wie allen voran der Rechtspopulisten. Insofern ist die Abgrenzung zum Rechtspopulismus das bessere Rezept, um ihn zu schwächen und die Solidargemeinschaft zu stärken, als ein Appeasement.
Sabine Döring ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Tübingen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ethik und die Theorie der (praktischen) Rationalität.