Staatliche Überwachung

Unter Überwachung

Wie stark stehen wir eigentlich unter Beobachtung? Keiner weiß es so genau. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht der Politik hierzu schon vor mehr als zehn Jahren drei konkrete Pflichten ins Aufgabenheft geschrieben.

TEXT: SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

Staatliche Überwachung

Unter Überwachung

Wie stark stehen wir eigentlich unter Beobachtung? Keiner weiß es so genau. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht der Politik hierzu schon vor mehr als zehn Jahren drei konkrete Pflichten ins Aufgabenheft geschrieben.

TEXT: SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER

Sich vor dem Überwachungsstaat zu fürchten, ist nicht rational. Nicht, dass er keine reale Gefahr darstellt: Auf eine irrationale Angst zurückgeworfen sind wir vielmehr deshalb, weil wir nicht wissen, was die Fakten sind. Zur staatlichen Überwachung gibt es bisher keine solide Datengrundlage. Dabei hat das Bundesverfassungsgericht vor mehr als zehn Jahren in seinem wegweisenden Urteil zur anlasslosen Vorratsdatenspeicherung der Politik drei konkrete Pflichten ins Aufgabenheft geschrieben: Es gilt erstens, die Gesamtheit vorhandener Datensammlungen im Blick zu behalten, zweitens, sich mit der Einführung neuer Speicherungen oder Befugnisse zurückzuhalten, und drittens, sich zu erinnern, dass die Verhinderung einer Totalüberwachung zur verfassungsrechtlichen Identität Deutschlands gehört, die auch auf europäischer und internationaler Ebene zu verteidigen ist. 

Um dem ersten Punkt gerecht zu werden und zu beurteilen, ob das Maß zulässiger Überwachung nicht bereits überschritten ist, brauchen wir endlich eine „Überwachungsgesamtrechnung“. Die Vorarbeiten sind erledigt: Das Max-Planck-Institut (MPI) zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg hat im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit ein Modell erarbeitet, mit dem das Gesamtmaß der Überwachung sichtbar gemacht und evaluiert werden kann. Die aktuellen Ergebnisse des „Überwachungsbarometers“ werden noch im Herbst veröffentlicht. 

Unverschuldet in Verdacht 

Die derzeit beste verfügbare Datengrundlage bezieht sich auf Überwachung von Telekommunikation und Bankgeschäften. Deshalb konnte das MPI Zahlen zur Telekommunikationsüberwachung, zu proaktiven Geldwäscheverdachtsmeldungen und zu verdeckten Kontoabfragen aufbereiten. Die Banken nahmen im Jahr 2019 zwar fast 115 000 solcher Geldwäscheverdachtsmeldungen vor, die Erfolgsquote zum Abschluss eines Verfahrens lag aber nur im niedrigen Promille-Bereich. Das bedeutet, dass hier Hunderttausende Menschen unverschuldet in Verdacht gerieten. Mit einer Änderung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes wurde 2021 ein ähnliches Meldeverfahren für mutmaßlich rechtswidrige Inhalte in sozialen Medien eingeführt. Das Bundeskriminalamt geht von Meldezahlen im sechsstelligen Bereich aus. Wenn auch hier so mickrige Erfolgswerte für die Strafverfolgung herauskommen, wäre das ein rechtsstaatlicher Offenbarungseid.

Bereits diese beiden Beispiele zeigen, wie wenig Wert bisher auf empirische Evidenz gelegt worden ist, um den Sinn oder Unsinn, die Verhältnismäßigkeit oder Unverhältnismäßigkeit von staatlichen Überwachungsmaßnahmen zu beurteilen. Auch andere Zahlen sind erschreckend. So hört der Staat in Bayern und Baden-Württemberg besonders gern mit: Die beiden Länder sind für mehr als ein Drittel aller in Deutschland angeordneten Telekommunikationsüberwachungen verantwortlich. Die Wahrscheinlichkeit, in Bayern von einer solchen Maßnahme betroffen zu sein, liegt viermal so hoch wie in Nordrhein-Westfalen. Lebt es sich in Bayern deshalb auch viermal so sicher? 

Die Ergebnisse aus dem MPI-Überwachungsbarometer lassen sich auch zur Beurteilung neuer Formen der Kriminalitätsbekämpfung heranziehen. Die deutschen Sicherheitsbehörden sollten neue technische Entwicklungen zum Anlass nehmen, die Überwachungslast der Bürgerinnen und Bürger durch Maßnahmen und Befugnisse zu senken, anstatt sie uferlos auszuweiten. Die Anwendung intelligenter Auswertungssysteme für große Datenmengen dürfte hierbei eine wichtige Rolle spielen. Sie könnte am Ende sogar dazu führen, dass weniger Daten für Ermittlungen zum Einsatz kommen müssen und dass nur die wirklich relevanten Daten in den Ermittlungsakten gespeichert werden. 

SMS-Nachricht für Betroffene 

Die Möglichkeiten der Digitalisierung lassen sich auch dazu nutzen, Überwachungsmaßnahmen im individuellen Fall offenzulegen. Ein Beispiel ist das von dem Juristen Ulf Buermeyer für das Land Berlin entwickelte System eines Funkzellenabfrage-Transparenz-Systems: Hier werden Betroffene per SMS benachrichtigt, wenn sie von einer Funkzellenabfrage betroffen waren. Das verbessert die Lage gleich in zweifacher Hinsicht: Es entstehen keine Datensilos, und es herrscht Transparenz. 

Die Arbeiten des MPI an einem Modell für eine Überwachungsgesamtrechnung haben offengelegt, wie dicht und unübersichtlich das Gewebe an Überwachungsbefugnissen über die vergangenen Jahre geworden ist. Damit eine fortgeführte unabhängige wissenschaftliche Beobachtung und Analyse der staatlichen Überwachung in Deutschland mit diesem Instrument möglich wird, bedarf es auf vielen Feldern erst noch ausreichend genauer und vergleichbarer Daten. Es ist eine wichtige Aufgabe für die nächste Bundesregierung, die Ermöglichung der Forschung in diesem Bereich voranzutreiben.

Bürgerrechte schützen

Zudem sollte sich die nächste Bundesregierung aber auch der beiden anderen Punkte annehmen, die das Bundesverfassungsgericht der Politik ins Aufgabenheft geschrieben hat. Das bedeutet zum einen, dass sie sich von der entfesselten Sicherheitsgesetzgebung abwenden muss, die Konservative in den vergangenen Jahren betrieben haben. Und es bedeutet zum anderen, sich auch auf europäischer und internationaler Ebene konsequent für die Wahrung von Bürgerrechten einzusetzen. Dazu gehört es,  eine europäische anlasslose Vorratsdatenspeicherung ebenso zu verhindern wie eine „intelligente“ Videoüberwachung im öffentlichen Raum und die Überwachung privater Kommunikation. Auch bedarf es einer klaren Haltung gegenüber dem digitalen Volksüberwachungsapparat in China. 

Die staatliche Überwachung aller Lebensbereiche ist gerade im digitalen Zeitalter kein Kennzeichen eines gesunden Rechtsstaats, sondern vielmehr Mittel der Wahl von illiberalen Regimen rund um die Welt. Umso wichtiger ist es, dass wir ihr rational begegnen – also in belastbarer Kenntnis der tatsächlichen Überwachungsgesamtlast, die sich derzeit nur erahnen und befürchten lässt.

Das Überwachungs-
barometer für
Deutschland

TEXT: RALF POSCHER

Das Über-
wachungs-
barometer für
Deutschland

TEXT: RALF POSCHER

Die rechtsstaatliche und demokratische Kontrolle staatlicher Überwachung ist ein Kernelement der freiheitlichen Verfassungsordnung. Umso erstaunlicher ist, wie wenig empirisch belastbares Wissen über den Umfang von Überwachung es gibt. Das Überwachungsbarometer soll das ändern. Sein Instrumentarium stellt der interessierten Öffentlichkeit erstmals aussagekräftige, verständliche und leicht zugängliche Informationen zur realen Überwachungslast im täglichen Leben zur Verfügung.

Dabei geht es zunächst um die Menge der staatlichen Überwachung. Denn mit der Häufigkeit von Überwachungsmaßnahmen steigt auch die Wahrscheinlichkeit und damit das individuelle Risiko der Betroffenheit. Doch neben der Quantität spielt auch die Qualität der Eingriffe eine Rolle: die Intensität.

Um diese beiden Aspekte der Überwachung zu erfassen, gilt es das gesamte Spektrum überwachungsrelevanter Sachverhalte zu betrachten. Ein typisches Beispiel ist die anlasslose Vorratsdatenspeicherung, die im Zusammenhang mit der Überwachung der Telekommunikation zu Recht große Aufmerksamkeit gefunden hat, darüber hinaus dagegen fast überhaupt keine. Dabei gibt es auch andere Formen der anlasslosen Sammlung und Speicherung von Daten.

Ein Beispiel ist die flächendeckende anlasslose Speicherung von Finanztransaktionsdaten, die fast alle Bürger unausweichlich trifft: Jeder unbare Bezahlvorgang, jede Kontobewegung wird routinemäßig fünf Jahre gespeichert, und beim Wechsel der Bank kommen noch weitere fünf Jahre hinzu. Hier hat die Zugriffsdichte in den vergangenen Jahren exponentiell zugenommen und diejenige in der Telekommunikation bei Weitem überholt. Ihr Anteil an der alltäglichen Überwachungslast fällt viel stärker ins Gewicht als die derzeit ausgesetzte anlasslose Vorratsdatenspeicherung in der Telekommunikation.

Das Beispiel zeigt, dass erst in der Gesamtschau, wie sie das Überwachungsbarometer möglich macht, der tatsächliche Überwachungslast sichtbar wird. Um eine Bewertung zu ermöglichen, haben wir ein Kategoriensystem entwickelt, das eine typisierte Gewichtung der verschiedenartigen Überwachungsmaßnahmen nach einheitlichen verfassungsrechtlichen Kriterien ermöglicht. Das Barometer erlaubt damit nicht zuletzt auch vielfältige Vergleiche, die dabei helfen können, Entwicklungen und insbesondere Schwerpunkte der Überwachung schon früh zu erkennen.

Nach der Entwicklung des Konzepts für das Überwachungsbarometer steht im nächsten Schritt nun der Aufbau des Instruments mit immer neuen Daten an. Der Zeitpunkt ist dafür günstig, denn in der jüngeren Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass bei grundrechtsintensiven Maßnahmen umfängliche Dokumentationspflichten erforderlich sind. Neben den bereits existierenden Transparenzklauseln in der Strafprozessordnung und den Polizeigesetzen ist die Transparenz staatlicher Überwachungsmaßnahmen also ein vordringliches Thema.

Schon in wenigen Jahren wird ein Datenpool zur Verfügung stehen, der für eine evidenzbasierte Sicherheitspolitik ebenso wertvoll sein kann wie für die Rechtsprechung. Die Politik sollte das Potenzial des Überwachungsbarometers ausschöpfen.

Die rechtsstaatliche und demokratische Kontrolle staatlicher Überwachung ist ein Kernelement der freiheitlichen Verfassungsordnung. Umso erstaunlicher ist, wie wenig empirisch belastbares Wissen über den Umfang von Überwachung es gibt. Das Überwachungsbarometer soll das ändern. Sein Instrumentarium stellt der interessierten Öffentlichkeit erstmals aussagekräftige, verständliche und leicht zugängliche Informationen zur realen Überwachungslast im täglichen Leben zur Verfügung.

Dabei geht es zunächst um die Menge der staatlichen Überwachung. Denn mit der Häufigkeit von Überwachungsmaßnahmen steigt auch die Wahrscheinlichkeit und damit das individuelle Risiko der Betroffenheit. Doch neben der Quantität spielt auch die Qualität der Eingriffe eine Rolle: die Intensität.

Um diese beiden Aspekte der Überwachung zu erfassen, gilt es das gesamte Spektrum überwachungsrelevanter Sachverhalte zu betrachten. Ein typisches Beispiel ist die anlasslose Vorratsdatenspeicherung, die im Zusammenhang mit der Überwachung der Telekommunikation zu Recht große Aufmerksamkeit gefunden hat, darüber hinaus dagegen fast überhaupt keine. Dabei gibt es auch andere Formen der anlasslosen Sammlung und Speicherung von Daten.

Ein Beispiel ist die flächendeckende anlasslose Speicherung von Finanztransaktionsdaten, die fast alle Bürger unausweichlich trifft: Jeder unbare Bezahlvorgang, jede Kontobewegung wird routinemäßig fünf Jahre gespeichert, und beim Wechsel der Bank kommen noch weitere fünf Jahre hinzu. Hier hat die Zugriffsdichte in den vergangenen Jahren exponentiell zugenommen und diejenige in der Telekommunikation bei Weitem überholt. Ihr Anteil an der alltäglichen Überwachungslast fällt viel stärker ins Gewicht als die derzeit ausgesetzte anlasslose Vorratsdatenspeicherung in der Telekommunikation.

Das Beispiel zeigt, dass erst in der Gesamtschau, wie sie das Überwachungsbarometer möglich macht, der tatsächliche Überwachungslast sichtbar wird. Um eine Bewertung zu ermöglichen, haben wir ein Kategoriensystem entwickelt, das eine typisierte Gewichtung der verschiedenartigen Überwachungsmaßnahmen nach einheitlichen verfassungsrechtlichen Kriterien ermöglicht. Das Barometer erlaubt damit nicht zuletzt auch vielfältige Vergleiche, die dabei helfen können, Entwicklungen und insbesondere Schwerpunkte der Überwachung schon früh zu erkennen.

Nach der Entwicklung des Konzepts für das Überwachungsbarometer steht im nächsten Schritt nun der Aufbau des Instruments mit immer neuen Daten an. Der Zeitpunkt ist dafür günstig, denn in der jüngeren Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht erklärt, dass bei grundrechtsintensiven Maßnahmen umfängliche Dokumentationspflichten erforderlich sind. Neben den bereits existierenden Transparenzklauseln in der Strafprozessordnung und den Polizeigesetzen ist die Transparenz staatlicher Überwachungsmaßnahmen also ein vordringliches Thema.

Schon in wenigen Jahren wird ein Datenpool zur Verfügung stehen, der für eine evidenzbasierte Sicherheitspolitik ebenso wertvoll sein kann wie für die Rechtsprechung. Die Politik sollte das Potenzial des Überwachungsbarometers ausschöpfen.

Ralf Poscher

Ralf Poscher ist Geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht in Freiburg.

Ein Angebot der

Gesellschaft

Wir verarbeiten Ihre Daten und nutzen Cookies.

Wir nutzen technisch notwendige Cookies, um Ihnen die wesentlichen Funktionen unserer Website anbieten zu können. Ihre Daten verarbeiten wir dann nur auf unseren eigenen Systemen. Mehr Information finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen in Ziffer 3. Sie können unsere Website damit nur im technisch notwendigen Umfang nutzen.

Um unsere Webseite für Sie optimal zu gestalten und unser Angebot für Sie fortlaufend verbessern zu können, nutzen wir funktionale und Marketingcookies. Mehr Information zu den Anbietern und die Funktionsweise finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen in Ziffer 3. Klicken Sie ‚Akzeptieren‘, um einzuwilligen. Diese Einwilligung können Sie jederzeit widerrufen.